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Lesen hilft: Otfried Höffe überzeugt als Sinnsucher
Nach einer berühmten Bemerkung Kants lassen sich die drei Hauptfragen der Philosophie - Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen? - in einer vierten Frage zusammenfassen: "Was ist der Mensch?" Otfried Höffe, einer der wirkmächtigsten Kant-Exegeten der Gegenwart, befindet sich deshalb in bester Gesellschaft, wenn er die Suche nach der Eigenart des Menschen in den Mittelpunkt seiner Aufsätze zur praktischen Philosophie stellt. In der Art seines Vorgehens orientiert er sich allerdings nicht an Kant, sondern an der Philosophischen Anthropologie eines Hellmuth Plessner oder Arnold Gehlen. Statt mit Kant das Bewusstsein einer unbedingten moralischen Verbindlichkeit als "Faktum der Vernunft" vorauszusetzen und daraus dann Rückschlüsse auf die Doppelnatur des Menschen als homo phaenomenon und homo noumenon zu ziehen, setzt Höffe bei einem vormoralischen Befund - der biologischen Ausstattung des Menschen - an.
Auch bei der Durchführung dieses Untersuchungsprogramms folgt Höffe zunächst weitgehend Plessner und Gehlen. Unspezialisiert und instinktreduziert wie er sei, habe der Mensch zwangsläufig zu einem Handlungswesen werden müssen, das in Gemeinschaft mit anderen sein Tun und Lassen selbst entwerfe und sich als eigenverantwortlichen Autor seines Lebens ansehe. "Infolgedessen ist der Mensch schon von seiner Biologie her ein Sozial- und Kulturwesen." Aber ist er biologisch auch zur Moralität disponiert?
Zu Recht hebt Höffe hervor, dass der Mensch "mangels biologisch programmierter Hemmnisse lernen muss, den Antriebsüberschuss zu kanalisieren", und dass er zu diesem Zweck verbindliche Regeln benötigt. Eine durch ihre kompensatorische Funktion bestimmte Moral kann freilich nur den Status eines Werkzeugs zur effizienten individuellen und kollektiven Daseinsbewältigung für sich beanspruchen. Zu ihrer Befolgung genügt deshalb regelmäßig der Motivationsfaktor des klugen Eigeninteresses.
Der Moralbegriff Höffes ist indessen wesentlich anspruchsvoller. Er richtet sich auf nichts Geringeres als "die Frage nach dem Guten, letztlich dem uneingeschränkten Guten". Diese Frage sprengt das Korsett bloßer Nützlichkeitserwägungen, denn der Wert des schlechthin Guten ist gerade unabhängig davon, ob es zur Befriedigung irgendwelcher anderen Interessen dienlich ist. Dennoch lässt sich Höffe zufolge die Frage nach dem uneingeschränkten Guten "schwerlich auf Dauer unterdrücken". Weshalb? Offenbar weil im Menschen das Verlangen danach derart fest verankert ist, dass es zwar zeitweise übertönt, aber nicht endgültig zum Schweigen gebracht werden kann. Kant ist hier plötzlich wieder ganz nahe.
Worin aber besteht das uneingeschränkte Gute? Höffe folgt hier Aristoteles. Uneingeschränkt gut ist danach, was um seiner selbst willen getan wird. Wahrhaft frei ist dementsprechend, "wer sein Leben nicht auf den Tausch funktionaler Beziehungen verkürzen lässt, wer vielmehr um seiner selbst willen lebt". Wie Höffe ausführt, schließt diese Haltung zwar die Bereitschaft ein, die in der Natur übliche Fokussierung auf die eigenen Belange aufzugeben und fremde Interessen auch dann zu berücksichtigen, wenn sich daraus kein individueller Vorteil ergibt. Auch wer in sich versunken einen Roman liest, einem Musikstück lauscht oder ein Bild betrachtet, kommt dem uneingeschränkten Guten so nahe, wie dies unter den Bedingungen menschlicher Existenz überhaupt möglich ist.
"Was Emanzipation und Aufklärung noch suchen, ist hier schon gefunden, nicht bloß ein Medium für menschliche Würde, sondern ein Ausdruck dieser Würde selbst." Höffe ist kein weltflüchtiger Phantast. Niemand kann in seinen Worten den Nutzwert der Technik in Abrede stellen. "Als Gattung einer übermächtigen, bald hilfreichen, bald gefährlichen Natur ausgesetzt; als Individuum von Geburt aus hilfsbedürftig und ein Leben lang von Krankheiten, Unfällen und Schmerzen bedroht; gezwungen, im Schweiße des Angesichts sein Brot zu verdienen, hat der Mensch ein nie endgültig gestilltes Interesse an Innovationen."
Das Anliegen Höffes besteht jedoch darin, an das zu erinnern, was unter dem omnipräsenten Lobpreis der Nützlichkeit verlorenzugehen droht; in kunstvoller Beiläufigkeit gibt Höffe dem Aufenthalt in dieser Sphäre ernster Spiele den Namen "Humanität". Als Anwältin der Humanität hat die Philosophie Höffe zufolge eine mäeutische Aufgabe: Durch die Klärung von Begriffen und Argumenten und die Unterbreitung eigener Vorschläge habe sie dem Einzelnen dabei zu helfen, die ihm obliegenden Aufgaben des Selbst-Denkens und Selbst-Lebens besser zu bewältigen. Eine solche Philosophie sorgt für sachliche Genauigkeit und für historische Gerechtigkeit. Wem dies zu wenig ist, der hat, wie Höffe zeigt, weder die Philosophie noch sich selbst begriffen.
MICHAEL PAWLIK
Otfried Höffe: "Die Macht der Moral
im 21. Jahrhundert".
Annäherungen an
eine zeitgemäße Ethik. Verlag C. H. Beck,
München 2014. 219 S., br., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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