Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Jens Schneider lernt den Alltag in den von Cyrill Stieger bereisten Regionen in Bosnien, Kroatien, Serbien und im Kosovo kennen und erfährt, wie sich die Nachkriegsgesellschaft dort mit kulturellen Grenzen und unterschiedlichen Geschichtsbildern eingerichtet hat. Solche zurückhaltend geschilderten Impressionen und die vom Autor geführten Gespräche mit Lehrern, Erziehern und lokalen Größen geben Schneider einen anschaulichen Eindruck von den Verhältnissen. Eine Erkenntnis der Lektüre für den Rezensenten: Die Menschen im früheren Jugoslawien wollen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit vor allem eines: Arneit und ein besseres, friedliches Leben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.01.2022Die Macht der Gewohnheit
Ein Besuch an den Schauplätzen der Jugoslawien-Kriege
Cyrill Stieger war jahrzehntelang Korrespondent und Redaktor der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ) und hat sich kontinuierlich vor allem mit Osteuropa befasst. Seine umfassende Erfahrung ist gleichsam Teil des Versuchsaufbaus in seinem jüngsten Buch. Stieger will wissen, wie es an Brennpunkten der Jugoslawien-Kriege, die er als Berichterstatter in den Neunzigerjahren mit eigenen Augen gesehen hatte, heute aussieht. Wie leben kroatische Mehrheit und serbische Minderheit in Vukovar, drei Jahrzehnte nachdem die Stadt von Belgrads Armee in Schutt und Asche gebombt wurde? Wie steht es um das serbisch-albanische Nebeneinander in der ethnisch geteilten Stadt Mitrovica im Kosovo? Wie kommen die Volksgruppen in Bosnien-Hercegovina, wo der blutigste der jugoslawischen Zerfallskriege tobte, heute miteinander aus? Um solche Fragen zu beantworten, bereiste Stieger nach einem Vierteljahrhundert oder noch längerer Zeit wieder Orte, die er im Krieg erlebt hatte. Seine Schilderungen von dort bettet er in umfangreiche Darstellungen der zeitgeschichtlichen Kontexte ein. Das Ergebnis ist ein aufschlussreiches Buch, geschrieben in jenem Stil unaufgeregter Sachlichkeit, der einst durchgängig für die NZZ prägend war.
In seinem 2014 erschienenen Buch über die Geschichte der bosnischen Hauptstadt Sarajevo hatte der 2015 verstorbene Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen betont, was nicht nur für eine Beschäftigung mit dem Balkan gilt: "Wer den Hass sucht, findet ihn, und wer das Miteinander sucht, findet es auch." Zu diesem Schluss kommt Stieger ebenfalls: "Wer Beweise für eine Verfestigung der ethnischen Trennlinien sucht, der findet sie", schreibt der Autor, doch gelte eben auch: "Wer den Nachweis erbringen will, dass das Zusammenleben im Alltag gut funktioniert und die Leute über die ethnischen Trennlinien hinweg normal miteinander umgehen, wird ebenfalls fündig." So bietet die Bestandsaufnahme Stiegers, dem apodiktische Urteile fremd sind und der nuanciert, ohne zu relativieren, das differenzierte Bild einer Region, die in vielem besser ist als ihr schlechter Ruf, dem sie mitunter freilich dennoch gerecht wird.
In Vukovar geht Stieger der Geschichte einer mit Hilfsgeldern aus Norwegen geförderten Schule nach, in der kroatische und serbische Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollten. Das Vorhaben scheiterte jedoch. Hier ist Stieger ausnahmsweise rasch mit einer Einschätzung bei der Hand: "Das Projekt scheiterte in erster Linie am Widerstand der lokalen Politiker", heißt es bei ihm, wobei leider nicht ausgeführt wird, was genau die Politiker getan und gesagt haben sollen, um Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder an der Schule anzumelden. "Die Bewohner sind weit pragmatischer als die meisten lokalen Politiker, die oft lieber Symbolpolitik betreiben, als die wirklichen Probleme der Bevölkerung anzupacken", schreibt der Autor an anderer Stelle und belegt das mit Beispielen. Er schildert Nachbarn unterschiedlicher Ethnien, die problemlos miteinander auskommen und sich gemeinsam über ihre ständig streitenden gewählten Repräsentanten beschweren. Das wirft die Frage auf, "warum immer wieder Politiker gewählt werden, die genau das tun, worüber man sich beklagt".
Stiegers Buch wäre noch besser, wenn die Antworten auf diese naheliegenden Fragen darin ausführlicher ausgefallen wären. Eine Kenntnis der Methoden, mit denen sich nationalistische Parteien etwa in Bosnien Gefolgschaft sichern, ist schließlich zentral für das Verständnis ihres hartnäckigen Erfolgs. Stieger streift die Antworten allerdings meist nur. Er erläutert, dass "ethnonationale" Parteien politische Institutionen, wirtschaftliche Netzwerke und auf diese Weise den Zugang zu Stellen in der Verwaltung, in staatsnahen Betrieben oder in Schulen kontrollieren. Angesichts mangelnder Verdienstmöglichkeiten in der Privatwirtschaft verleihe ihnen das große Macht, indem sie Posten nur an Loyalisten vergeben.
Im serbischen Nordteil von Mitrovica trifft der Autor einen Serben, der sagt: "Mir ist der andere Teil der Stadt völlig fremd. Was soll ich da drüben?" Auf der anderen Seite des die Stadt teilenden Flusses Ibar ist es das gleiche Bild: "Viele junge Serben haben noch nie mit einem Albaner aus Süd-Mitrovica gesprochen und viele junge Albaner noch nie mit einem Serben aus Nord-Mitrovica." Die meisten scheinen auch kein Interesse daran zu haben, das zu ändern, konstatiert Stieger. Andererseits funktioniere die Wirtschaft (Schmuggel eingeschlossen) meist problemlos über ethnische Grenzen hinweg: "Zwar ist viel die Rede von ethnischer Trennung, doch in Nord-Mitrovica werden meist kosovo-albanische Bauunternehmen engagiert. Die Erklärung ist einfach; sie sind billiger als die serbischen." Portemonnaie sticht Nationalstolz.
In Bosnien stößt der Autor auf eine ähnliche Lage: "Wer sich nur auf die gehässige Rhetorik nationalistischer Politiker oder die zugespitzten Reportagen mancher einheimischer und ausländischer Berichterstatter stützt, die in dramatischen Tönen etwa die Gefahr eines Wiederaufflammens gewalttätiger Konflikte oder den Zerfall des bosnischen Staates heraufbeschwören, wird erstaunt sein, wie normal und unspektakulär sich das Leben im ethnisch dreigeteilten Bosnien (. . .) abspielt." In bosnischen Provinzstädten schaut sich Stieger Schulen an, in denen Kinder nach Ethnien getrennt voneinander unterrichtet werden, obwohl Kroatisch, Bosnisch und Serbisch sich nur in Nuancen unterscheiden, zumindest aber keine ihre Sprecher trennenden Sprachen sind. Es gibt in Bosnien auch gemeinsame Schulen, doch nur wenige Eltern nähmen ihr Recht wahr, ihre Kinder auf solche Schulen zu schicken, stellt Stieger fest. Ist das nun ein Erzübel, das überwunden werden muss? Dieser Ansicht scheint der Autor zuzuneigen. Er zitiert aber auch jene, die der Ansicht sind, dass es nun einmal zu den Errungenschaften moderner multiethnischer Demokratien zähle, den verschiedenen autochthonen Ethnien nicht wie in Zeiten der jugoslawischen Diktatur eine gemeinsame Schulform aufzuzwingen, sondern ihnen zu erlauben, kulturelle Eigenheiten zu betonen. Stieger erinnert zudem daran, dass es trotz getrennter Schulen friedlich zugeht in Bosnien: "Ethnisch motivierte Zwischenfälle, Beleidigungen oder tätliche Übergriffe sind selten."
Wenn dennoch viele der Menschen, die im Alltag leidlich miteinander auskommen, "nationale" Parteien wählen, hat das außer wirtschaftlichen Gründen aber wohl auch tiefer liegende Ursachen: Offenbar, so Stieger, fühlten sich gerade in ethnisch gemischten Orten viele "unter den Fittichen 'ihrer' nationalen Partei am besten geschützt". Die Macht des Ethnischen ist damit oft auch eine Macht der Gewohnheit, des Vertrauten und Bekannten, gespeist aus der Angst vor dem Ungewissen und dem anderen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Balkan also kaum von Westeuropa, wo sich die ethnische und religiöse Durchmischung ohne klare Mehrheitsverhältnisse, die im Südosten des Kontinents vielerorts seit Jahrhunderten besteht, erst aufbaut. MICHAEL MARTENS
Cyrill Stieger: Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan.
Rotpunkt Verlag, Zürich 2021. 224 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Besuch an den Schauplätzen der Jugoslawien-Kriege
Cyrill Stieger war jahrzehntelang Korrespondent und Redaktor der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ) und hat sich kontinuierlich vor allem mit Osteuropa befasst. Seine umfassende Erfahrung ist gleichsam Teil des Versuchsaufbaus in seinem jüngsten Buch. Stieger will wissen, wie es an Brennpunkten der Jugoslawien-Kriege, die er als Berichterstatter in den Neunzigerjahren mit eigenen Augen gesehen hatte, heute aussieht. Wie leben kroatische Mehrheit und serbische Minderheit in Vukovar, drei Jahrzehnte nachdem die Stadt von Belgrads Armee in Schutt und Asche gebombt wurde? Wie steht es um das serbisch-albanische Nebeneinander in der ethnisch geteilten Stadt Mitrovica im Kosovo? Wie kommen die Volksgruppen in Bosnien-Hercegovina, wo der blutigste der jugoslawischen Zerfallskriege tobte, heute miteinander aus? Um solche Fragen zu beantworten, bereiste Stieger nach einem Vierteljahrhundert oder noch längerer Zeit wieder Orte, die er im Krieg erlebt hatte. Seine Schilderungen von dort bettet er in umfangreiche Darstellungen der zeitgeschichtlichen Kontexte ein. Das Ergebnis ist ein aufschlussreiches Buch, geschrieben in jenem Stil unaufgeregter Sachlichkeit, der einst durchgängig für die NZZ prägend war.
In seinem 2014 erschienenen Buch über die Geschichte der bosnischen Hauptstadt Sarajevo hatte der 2015 verstorbene Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen betont, was nicht nur für eine Beschäftigung mit dem Balkan gilt: "Wer den Hass sucht, findet ihn, und wer das Miteinander sucht, findet es auch." Zu diesem Schluss kommt Stieger ebenfalls: "Wer Beweise für eine Verfestigung der ethnischen Trennlinien sucht, der findet sie", schreibt der Autor, doch gelte eben auch: "Wer den Nachweis erbringen will, dass das Zusammenleben im Alltag gut funktioniert und die Leute über die ethnischen Trennlinien hinweg normal miteinander umgehen, wird ebenfalls fündig." So bietet die Bestandsaufnahme Stiegers, dem apodiktische Urteile fremd sind und der nuanciert, ohne zu relativieren, das differenzierte Bild einer Region, die in vielem besser ist als ihr schlechter Ruf, dem sie mitunter freilich dennoch gerecht wird.
In Vukovar geht Stieger der Geschichte einer mit Hilfsgeldern aus Norwegen geförderten Schule nach, in der kroatische und serbische Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollten. Das Vorhaben scheiterte jedoch. Hier ist Stieger ausnahmsweise rasch mit einer Einschätzung bei der Hand: "Das Projekt scheiterte in erster Linie am Widerstand der lokalen Politiker", heißt es bei ihm, wobei leider nicht ausgeführt wird, was genau die Politiker getan und gesagt haben sollen, um Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder an der Schule anzumelden. "Die Bewohner sind weit pragmatischer als die meisten lokalen Politiker, die oft lieber Symbolpolitik betreiben, als die wirklichen Probleme der Bevölkerung anzupacken", schreibt der Autor an anderer Stelle und belegt das mit Beispielen. Er schildert Nachbarn unterschiedlicher Ethnien, die problemlos miteinander auskommen und sich gemeinsam über ihre ständig streitenden gewählten Repräsentanten beschweren. Das wirft die Frage auf, "warum immer wieder Politiker gewählt werden, die genau das tun, worüber man sich beklagt".
Stiegers Buch wäre noch besser, wenn die Antworten auf diese naheliegenden Fragen darin ausführlicher ausgefallen wären. Eine Kenntnis der Methoden, mit denen sich nationalistische Parteien etwa in Bosnien Gefolgschaft sichern, ist schließlich zentral für das Verständnis ihres hartnäckigen Erfolgs. Stieger streift die Antworten allerdings meist nur. Er erläutert, dass "ethnonationale" Parteien politische Institutionen, wirtschaftliche Netzwerke und auf diese Weise den Zugang zu Stellen in der Verwaltung, in staatsnahen Betrieben oder in Schulen kontrollieren. Angesichts mangelnder Verdienstmöglichkeiten in der Privatwirtschaft verleihe ihnen das große Macht, indem sie Posten nur an Loyalisten vergeben.
Im serbischen Nordteil von Mitrovica trifft der Autor einen Serben, der sagt: "Mir ist der andere Teil der Stadt völlig fremd. Was soll ich da drüben?" Auf der anderen Seite des die Stadt teilenden Flusses Ibar ist es das gleiche Bild: "Viele junge Serben haben noch nie mit einem Albaner aus Süd-Mitrovica gesprochen und viele junge Albaner noch nie mit einem Serben aus Nord-Mitrovica." Die meisten scheinen auch kein Interesse daran zu haben, das zu ändern, konstatiert Stieger. Andererseits funktioniere die Wirtschaft (Schmuggel eingeschlossen) meist problemlos über ethnische Grenzen hinweg: "Zwar ist viel die Rede von ethnischer Trennung, doch in Nord-Mitrovica werden meist kosovo-albanische Bauunternehmen engagiert. Die Erklärung ist einfach; sie sind billiger als die serbischen." Portemonnaie sticht Nationalstolz.
In Bosnien stößt der Autor auf eine ähnliche Lage: "Wer sich nur auf die gehässige Rhetorik nationalistischer Politiker oder die zugespitzten Reportagen mancher einheimischer und ausländischer Berichterstatter stützt, die in dramatischen Tönen etwa die Gefahr eines Wiederaufflammens gewalttätiger Konflikte oder den Zerfall des bosnischen Staates heraufbeschwören, wird erstaunt sein, wie normal und unspektakulär sich das Leben im ethnisch dreigeteilten Bosnien (. . .) abspielt." In bosnischen Provinzstädten schaut sich Stieger Schulen an, in denen Kinder nach Ethnien getrennt voneinander unterrichtet werden, obwohl Kroatisch, Bosnisch und Serbisch sich nur in Nuancen unterscheiden, zumindest aber keine ihre Sprecher trennenden Sprachen sind. Es gibt in Bosnien auch gemeinsame Schulen, doch nur wenige Eltern nähmen ihr Recht wahr, ihre Kinder auf solche Schulen zu schicken, stellt Stieger fest. Ist das nun ein Erzübel, das überwunden werden muss? Dieser Ansicht scheint der Autor zuzuneigen. Er zitiert aber auch jene, die der Ansicht sind, dass es nun einmal zu den Errungenschaften moderner multiethnischer Demokratien zähle, den verschiedenen autochthonen Ethnien nicht wie in Zeiten der jugoslawischen Diktatur eine gemeinsame Schulform aufzuzwingen, sondern ihnen zu erlauben, kulturelle Eigenheiten zu betonen. Stieger erinnert zudem daran, dass es trotz getrennter Schulen friedlich zugeht in Bosnien: "Ethnisch motivierte Zwischenfälle, Beleidigungen oder tätliche Übergriffe sind selten."
Wenn dennoch viele der Menschen, die im Alltag leidlich miteinander auskommen, "nationale" Parteien wählen, hat das außer wirtschaftlichen Gründen aber wohl auch tiefer liegende Ursachen: Offenbar, so Stieger, fühlten sich gerade in ethnisch gemischten Orten viele "unter den Fittichen 'ihrer' nationalen Partei am besten geschützt". Die Macht des Ethnischen ist damit oft auch eine Macht der Gewohnheit, des Vertrauten und Bekannten, gespeist aus der Angst vor dem Ungewissen und dem anderen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Balkan also kaum von Westeuropa, wo sich die ethnische und religiöse Durchmischung ohne klare Mehrheitsverhältnisse, die im Südosten des Kontinents vielerorts seit Jahrhunderten besteht, erst aufbaut. MICHAEL MARTENS
Cyrill Stieger: Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan.
Rotpunkt Verlag, Zürich 2021. 224 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main