30 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens Cyrill Stieger hat in den vergangenen Jahren die Orte wieder besucht, über die er während der Kriege berichtete; er war in Kroatien, Serbien, Bosnien, Kosovo. Er sprach mit den Menschen, auch mit Amtsträgern, fragte sie, ob sich die in den Kriegen aufgerissenen ethnischen Trennlinien, etwa in Vukovar oder in Mitrovica, verfestigt haben oder ob sie sich mit einer neuen Generation aufweichen. Was muss passieren, um den Fluch des Ethnischen zu brechen? Das Buch verbindet anschauliche Reportagen mit politischen und historischen Analysen. Es geht um Identitäten und um die Folgen des Nationalismus, um unvereinbare Geschichtsbilder und darum, wie Erinnerung von nationalistischen Politikern manipuliert wird, außerdem um die Schwierigkeiten der Aussöhnung. Es sind Themen, die in Zeiten des erstarkten Nationalismus und zunehmender autoritärer Tendenzen auch anderswo in Europa, in Polen und in Ungarn, aktuell sind. Aber der Pragmatismus und die Hoffnungen der Menschen auf dem Balkan geben Zuversicht.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Jens Schneider lernt den Alltag in den von Cyrill Stieger bereisten Regionen in Bosnien, Kroatien, Serbien und im Kosovo kennen und erfährt, wie sich die Nachkriegsgesellschaft dort mit kulturellen Grenzen und unterschiedlichen Geschichtsbildern eingerichtet hat. Solche zurückhaltend geschilderten Impressionen und die vom Autor geführten Gespräche mit Lehrern, Erziehern und lokalen Größen geben Schneider einen anschaulichen Eindruck von den Verhältnissen. Eine Erkenntnis der Lektüre für den Rezensenten: Die Menschen im früheren Jugoslawien wollen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit vor allem eines: Arneit und ein besseres, friedliches Leben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.01.2022Die Macht der Gewohnheit
Ein Besuch an den Schauplätzen der Jugoslawien-Kriege
Cyrill Stieger war jahrzehntelang Korrespondent und Redaktor der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ) und hat sich kontinuierlich vor allem mit Osteuropa befasst. Seine umfassende Erfahrung ist gleichsam Teil des Versuchsaufbaus in seinem jüngsten Buch. Stieger will wissen, wie es an Brennpunkten der Jugoslawien-Kriege, die er als Berichterstatter in den Neunzigerjahren mit eigenen Augen gesehen hatte, heute aussieht. Wie leben kroatische Mehrheit und serbische Minderheit in Vukovar, drei Jahrzehnte nachdem die Stadt von Belgrads Armee in Schutt und Asche gebombt wurde? Wie steht es um das serbisch-albanische Nebeneinander in der ethnisch geteilten Stadt Mitrovica im Kosovo? Wie kommen die Volksgruppen in Bosnien-Hercegovina, wo der blutigste der jugoslawischen Zerfallskriege tobte, heute miteinander aus? Um solche Fragen zu beantworten, bereiste Stieger nach einem Vierteljahrhundert oder noch längerer Zeit wieder Orte, die er im Krieg erlebt hatte. Seine Schilderungen von dort bettet er in umfangreiche Darstellungen der zeitgeschichtlichen Kontexte ein. Das Ergebnis ist ein aufschlussreiches Buch, geschrieben in jenem Stil unaufgeregter Sachlichkeit, der einst durchgängig für die NZZ prägend war.
In seinem 2014 erschienenen Buch über die Geschichte der bosnischen Hauptstadt Sarajevo hatte der 2015 verstorbene Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen betont, was nicht nur für eine Beschäftigung mit dem Balkan gilt: "Wer den Hass sucht, findet ihn, und wer das Miteinander sucht, findet es auch." Zu diesem Schluss kommt Stieger ebenfalls: "Wer Beweise für eine Verfestigung der ethnischen Trennlinien sucht, der findet sie", schreibt der Autor, doch gelte eben auch: "Wer den Nachweis erbringen will, dass das Zusammenleben im Alltag gut funktioniert und die Leute über die ethnischen Trennlinien hinweg normal miteinander umgehen, wird ebenfalls fündig." So bietet die Bestandsaufnahme Stiegers, dem apodiktische Urteile fremd sind und der nuanciert, ohne zu relativieren, das differenzierte Bild einer Region, die in vielem besser ist als ihr schlechter Ruf, dem sie mitunter freilich dennoch gerecht wird.
In Vukovar geht Stieger der Geschichte einer mit Hilfsgeldern aus Norwegen geförderten Schule nach, in der kroatische und serbische Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollten. Das Vorhaben scheiterte jedoch. Hier ist Stieger ausnahmsweise rasch mit einer Einschätzung bei der Hand: "Das Projekt scheiterte in erster Linie am Widerstand der lokalen Politiker", heißt es bei ihm, wobei leider nicht ausgeführt wird, was genau die Politiker getan und gesagt haben sollen, um Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder an der Schule anzumelden. "Die Bewohner sind weit pragmatischer als die meisten lokalen Politiker, die oft lieber Symbolpolitik betreiben, als die wirklichen Probleme der Bevölkerung anzupacken", schreibt der Autor an anderer Stelle und belegt das mit Beispielen. Er schildert Nachbarn unterschiedlicher Ethnien, die problemlos miteinander auskommen und sich gemeinsam über ihre ständig streitenden gewählten Repräsentanten beschweren. Das wirft die Frage auf, "warum immer wieder Politiker gewählt werden, die genau das tun, worüber man sich beklagt".
Stiegers Buch wäre noch besser, wenn die Antworten auf diese naheliegenden Fragen darin ausführlicher ausgefallen wären. Eine Kenntnis der Methoden, mit denen sich nationalistische Parteien etwa in Bosnien Gefolgschaft sichern, ist schließlich zentral für das Verständnis ihres hartnäckigen Erfolgs. Stieger streift die Antworten allerdings meist nur. Er erläutert, dass "ethnonationale" Parteien politische Institutionen, wirtschaftliche Netzwerke und auf diese Weise den Zugang zu Stellen in der Verwaltung, in staatsnahen Betrieben oder in Schulen kontrollieren. Angesichts mangelnder Verdienstmöglichkeiten in der Privatwirtschaft verleihe ihnen das große Macht, indem sie Posten nur an Loyalisten vergeben.
Im serbischen Nordteil von Mitrovica trifft der Autor einen Serben, der sagt: "Mir ist der andere Teil der Stadt völlig fremd. Was soll ich da drüben?" Auf der anderen Seite des die Stadt teilenden Flusses Ibar ist es das gleiche Bild: "Viele junge Serben haben noch nie mit einem Albaner aus Süd-Mitrovica gesprochen und viele junge Albaner noch nie mit einem Serben aus Nord-Mitrovica." Die meisten scheinen auch kein Interesse daran zu haben, das zu ändern, konstatiert Stieger. Andererseits funktioniere die Wirtschaft (Schmuggel eingeschlossen) meist problemlos über ethnische Grenzen hinweg: "Zwar ist viel die Rede von ethnischer Trennung, doch in Nord-Mitrovica werden meist kosovo-albanische Bauunternehmen engagiert. Die Erklärung ist einfach; sie sind billiger als die serbischen." Portemonnaie sticht Nationalstolz.
In Bosnien stößt der Autor auf eine ähnliche Lage: "Wer sich nur auf die gehässige Rhetorik nationalistischer Politiker oder die zugespitzten Reportagen mancher einheimischer und ausländischer Berichterstatter stützt, die in dramatischen Tönen etwa die Gefahr eines Wiederaufflammens gewalttätiger Konflikte oder den Zerfall des bosnischen Staates heraufbeschwören, wird erstaunt sein, wie normal und unspektakulär sich das Leben im ethnisch dreigeteilten Bosnien (. . .) abspielt." In bosnischen Provinzstädten schaut sich Stieger Schulen an, in denen Kinder nach Ethnien getrennt voneinander unterrichtet werden, obwohl Kroatisch, Bosnisch und Serbisch sich nur in Nuancen unterscheiden, zumindest aber keine ihre Sprecher trennenden Sprachen sind. Es gibt in Bosnien auch gemeinsame Schulen, doch nur wenige Eltern nähmen ihr Recht wahr, ihre Kinder auf solche Schulen zu schicken, stellt Stieger fest. Ist das nun ein Erzübel, das überwunden werden muss? Dieser Ansicht scheint der Autor zuzuneigen. Er zitiert aber auch jene, die der Ansicht sind, dass es nun einmal zu den Errungenschaften moderner multiethnischer Demokratien zähle, den verschiedenen autochthonen Ethnien nicht wie in Zeiten der jugoslawischen Diktatur eine gemeinsame Schulform aufzuzwingen, sondern ihnen zu erlauben, kulturelle Eigenheiten zu betonen. Stieger erinnert zudem daran, dass es trotz getrennter Schulen friedlich zugeht in Bosnien: "Ethnisch motivierte Zwischenfälle, Beleidigungen oder tätliche Übergriffe sind selten."
Wenn dennoch viele der Menschen, die im Alltag leidlich miteinander auskommen, "nationale" Parteien wählen, hat das außer wirtschaftlichen Gründen aber wohl auch tiefer liegende Ursachen: Offenbar, so Stieger, fühlten sich gerade in ethnisch gemischten Orten viele "unter den Fittichen 'ihrer' nationalen Partei am besten geschützt". Die Macht des Ethnischen ist damit oft auch eine Macht der Gewohnheit, des Vertrauten und Bekannten, gespeist aus der Angst vor dem Ungewissen und dem anderen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Balkan also kaum von Westeuropa, wo sich die ethnische und religiöse Durchmischung ohne klare Mehrheitsverhältnisse, die im Südosten des Kontinents vielerorts seit Jahrhunderten besteht, erst aufbaut. MICHAEL MARTENS
Cyrill Stieger: Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan.
Rotpunkt Verlag, Zürich 2021. 224 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Besuch an den Schauplätzen der Jugoslawien-Kriege
Cyrill Stieger war jahrzehntelang Korrespondent und Redaktor der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ) und hat sich kontinuierlich vor allem mit Osteuropa befasst. Seine umfassende Erfahrung ist gleichsam Teil des Versuchsaufbaus in seinem jüngsten Buch. Stieger will wissen, wie es an Brennpunkten der Jugoslawien-Kriege, die er als Berichterstatter in den Neunzigerjahren mit eigenen Augen gesehen hatte, heute aussieht. Wie leben kroatische Mehrheit und serbische Minderheit in Vukovar, drei Jahrzehnte nachdem die Stadt von Belgrads Armee in Schutt und Asche gebombt wurde? Wie steht es um das serbisch-albanische Nebeneinander in der ethnisch geteilten Stadt Mitrovica im Kosovo? Wie kommen die Volksgruppen in Bosnien-Hercegovina, wo der blutigste der jugoslawischen Zerfallskriege tobte, heute miteinander aus? Um solche Fragen zu beantworten, bereiste Stieger nach einem Vierteljahrhundert oder noch längerer Zeit wieder Orte, die er im Krieg erlebt hatte. Seine Schilderungen von dort bettet er in umfangreiche Darstellungen der zeitgeschichtlichen Kontexte ein. Das Ergebnis ist ein aufschlussreiches Buch, geschrieben in jenem Stil unaufgeregter Sachlichkeit, der einst durchgängig für die NZZ prägend war.
In seinem 2014 erschienenen Buch über die Geschichte der bosnischen Hauptstadt Sarajevo hatte der 2015 verstorbene Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen betont, was nicht nur für eine Beschäftigung mit dem Balkan gilt: "Wer den Hass sucht, findet ihn, und wer das Miteinander sucht, findet es auch." Zu diesem Schluss kommt Stieger ebenfalls: "Wer Beweise für eine Verfestigung der ethnischen Trennlinien sucht, der findet sie", schreibt der Autor, doch gelte eben auch: "Wer den Nachweis erbringen will, dass das Zusammenleben im Alltag gut funktioniert und die Leute über die ethnischen Trennlinien hinweg normal miteinander umgehen, wird ebenfalls fündig." So bietet die Bestandsaufnahme Stiegers, dem apodiktische Urteile fremd sind und der nuanciert, ohne zu relativieren, das differenzierte Bild einer Region, die in vielem besser ist als ihr schlechter Ruf, dem sie mitunter freilich dennoch gerecht wird.
In Vukovar geht Stieger der Geschichte einer mit Hilfsgeldern aus Norwegen geförderten Schule nach, in der kroatische und serbische Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollten. Das Vorhaben scheiterte jedoch. Hier ist Stieger ausnahmsweise rasch mit einer Einschätzung bei der Hand: "Das Projekt scheiterte in erster Linie am Widerstand der lokalen Politiker", heißt es bei ihm, wobei leider nicht ausgeführt wird, was genau die Politiker getan und gesagt haben sollen, um Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder an der Schule anzumelden. "Die Bewohner sind weit pragmatischer als die meisten lokalen Politiker, die oft lieber Symbolpolitik betreiben, als die wirklichen Probleme der Bevölkerung anzupacken", schreibt der Autor an anderer Stelle und belegt das mit Beispielen. Er schildert Nachbarn unterschiedlicher Ethnien, die problemlos miteinander auskommen und sich gemeinsam über ihre ständig streitenden gewählten Repräsentanten beschweren. Das wirft die Frage auf, "warum immer wieder Politiker gewählt werden, die genau das tun, worüber man sich beklagt".
Stiegers Buch wäre noch besser, wenn die Antworten auf diese naheliegenden Fragen darin ausführlicher ausgefallen wären. Eine Kenntnis der Methoden, mit denen sich nationalistische Parteien etwa in Bosnien Gefolgschaft sichern, ist schließlich zentral für das Verständnis ihres hartnäckigen Erfolgs. Stieger streift die Antworten allerdings meist nur. Er erläutert, dass "ethnonationale" Parteien politische Institutionen, wirtschaftliche Netzwerke und auf diese Weise den Zugang zu Stellen in der Verwaltung, in staatsnahen Betrieben oder in Schulen kontrollieren. Angesichts mangelnder Verdienstmöglichkeiten in der Privatwirtschaft verleihe ihnen das große Macht, indem sie Posten nur an Loyalisten vergeben.
Im serbischen Nordteil von Mitrovica trifft der Autor einen Serben, der sagt: "Mir ist der andere Teil der Stadt völlig fremd. Was soll ich da drüben?" Auf der anderen Seite des die Stadt teilenden Flusses Ibar ist es das gleiche Bild: "Viele junge Serben haben noch nie mit einem Albaner aus Süd-Mitrovica gesprochen und viele junge Albaner noch nie mit einem Serben aus Nord-Mitrovica." Die meisten scheinen auch kein Interesse daran zu haben, das zu ändern, konstatiert Stieger. Andererseits funktioniere die Wirtschaft (Schmuggel eingeschlossen) meist problemlos über ethnische Grenzen hinweg: "Zwar ist viel die Rede von ethnischer Trennung, doch in Nord-Mitrovica werden meist kosovo-albanische Bauunternehmen engagiert. Die Erklärung ist einfach; sie sind billiger als die serbischen." Portemonnaie sticht Nationalstolz.
In Bosnien stößt der Autor auf eine ähnliche Lage: "Wer sich nur auf die gehässige Rhetorik nationalistischer Politiker oder die zugespitzten Reportagen mancher einheimischer und ausländischer Berichterstatter stützt, die in dramatischen Tönen etwa die Gefahr eines Wiederaufflammens gewalttätiger Konflikte oder den Zerfall des bosnischen Staates heraufbeschwören, wird erstaunt sein, wie normal und unspektakulär sich das Leben im ethnisch dreigeteilten Bosnien (. . .) abspielt." In bosnischen Provinzstädten schaut sich Stieger Schulen an, in denen Kinder nach Ethnien getrennt voneinander unterrichtet werden, obwohl Kroatisch, Bosnisch und Serbisch sich nur in Nuancen unterscheiden, zumindest aber keine ihre Sprecher trennenden Sprachen sind. Es gibt in Bosnien auch gemeinsame Schulen, doch nur wenige Eltern nähmen ihr Recht wahr, ihre Kinder auf solche Schulen zu schicken, stellt Stieger fest. Ist das nun ein Erzübel, das überwunden werden muss? Dieser Ansicht scheint der Autor zuzuneigen. Er zitiert aber auch jene, die der Ansicht sind, dass es nun einmal zu den Errungenschaften moderner multiethnischer Demokratien zähle, den verschiedenen autochthonen Ethnien nicht wie in Zeiten der jugoslawischen Diktatur eine gemeinsame Schulform aufzuzwingen, sondern ihnen zu erlauben, kulturelle Eigenheiten zu betonen. Stieger erinnert zudem daran, dass es trotz getrennter Schulen friedlich zugeht in Bosnien: "Ethnisch motivierte Zwischenfälle, Beleidigungen oder tätliche Übergriffe sind selten."
Wenn dennoch viele der Menschen, die im Alltag leidlich miteinander auskommen, "nationale" Parteien wählen, hat das außer wirtschaftlichen Gründen aber wohl auch tiefer liegende Ursachen: Offenbar, so Stieger, fühlten sich gerade in ethnisch gemischten Orten viele "unter den Fittichen 'ihrer' nationalen Partei am besten geschützt". Die Macht des Ethnischen ist damit oft auch eine Macht der Gewohnheit, des Vertrauten und Bekannten, gespeist aus der Angst vor dem Ungewissen und dem anderen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Balkan also kaum von Westeuropa, wo sich die ethnische und religiöse Durchmischung ohne klare Mehrheitsverhältnisse, die im Südosten des Kontinents vielerorts seit Jahrhunderten besteht, erst aufbaut. MICHAEL MARTENS
Cyrill Stieger: Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan.
Rotpunkt Verlag, Zürich 2021. 224 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.02.2022Mit Feindbildern
und eigener Wahrheit
Cyrill Stieger über die Einwohner Ex-Jugoslawiens
Wer hätte gedacht, heute vor dreißig Jahren, dass Sarajewo einmal so in Vergessenheit geraten könnte? Die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, die 1425 Tage lang belagert wurde, Anfang der Neunziger im vergangenen Jahrhundert. Kein Tag verging damals ohne erschreckende Nachrichten, ob nun aus der Hauptstadt oder einer der sogenannten Schutzzonen der Vereinten Nationen, die keinen Schutz boten für die Menschen, die sich in die Obhut der UN-Blauhelme begeben hatten. Tausende Opfer forderte dieser Krieg, noch mehr Menschen wurden aus ihren Heimatdörfern und -städten vertrieben. Damals hätte man sich kaum ausmalen können, wie schnell die Welt nach dem 1995 erzwungenen Friedensschluss von Dayton den Blick abwandte und versäumte zu fragen, wie es dort weiterging.
Der Schweizer Journalist Cyrill Stieger ist nun in Städten und Regionen in Bosnien, Kroatien, Serbien und Kosovo der Frage nachgegangen, wie die Menschen der verschiedenen Volksgruppen nach den Kriegen zusammenleben. Stieger war von 1986 bis 2015 Balkankorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Er gibt in seinem feinen Buch „Die Macht des Ethnischen“ zumeist kurze Eindrücke wieder, stets um Genauigkeit und Zurückhaltung bemüht. Es geht nicht um ein generelles Urteil, genau das wäre auch ein falscher Ansatz. Stieger sammelt und analysiert oft unspektakuläre Impressionen aus dem Nachkriegsalltag. An den Orten, die Stieger besucht, geht alles seinen geregelten Gang. Gerade deshalb wirken viele seiner so anschaulichen Beobachtungen doch beklemmend.
Niemand fuchtelt da mit Waffen herum oder raunt, dass der nächste Krieg bevorstehe. Die Kriege sind vorbei, die Waffen ruhen. Aber die Zeit scheint vielerorts auch stillzustehen. Das Gegeneinander und der Hass von einst sind zu festen Feindbildern geronnen, bestenfalls in ein Nebeneinander transformiert, bei dem das Trennende betont wird. Da werden Schülerinnen und Schüler verschiedener Volksgruppen getrennt unterrichtet und mit unterschiedlichen Lehrbüchern in gegensätzliche Weltbilder eingeführt, obwohl sie doch Nachbarn sind.
Stieger beschreibt ein Nebeneinander von gegensätzlichen Geschichtsbildern der Ethnien, bei dem stets die andere Seite Schuld auf sich geladen habe. Es ist eine Hypothek für das Zusammenleben auch jener Generationen, die den Krieg nicht erlebt haben. Diese Praxis der selektiven Erinnerung folgt einem tragischen Muster, das seit einer Ewigkeit in der Region fatale Folgen hat und auch die Erzählungen in den Kriegen vor drei Jahrzehnten prägte. Verlässlich fand jede Kriegspartei stets Gründe für die eigenen Taten in tatsächlichen oder vermeintlichen Untaten des Gegners, selbst wenn die viele Jahre zurücklagen.
Das Besondere an Stiegers Recherche ist, dass er sich wenig mit den nationalistischen Anführern aufhält, für die das Beharren auf die Abgrenzung gegen andere Volksgruppen das politische und persönliche Geschäftsmodell ist. Solche Profiteure der ethnischen Trennung gibt es zuhauf, gerade macht der bosnische Serbenführer Milorad Dodik sich wichtig und der internationalen Gemeinschaft Sorgen. Interessanter sind die Schuldirektoren oder Lokalfürsten, Lehrerinnen und Erzieher, denen Stieger begegnet und die oft aufrichtig meinen, das Beste zu wollen, und sei es, um die Identität ihres Volks zu schützen.
Intensiv schildert er den absurden Aufwand, der in Bosnien betrieben wird, um aus der einstmals gemeinsamen serbokroatischen Sprache drei zu machen. Da sollen stets die Bosniaken, die Serben und Kroaten gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, was bedeutet, dass von offiziellen Papieren stets drei Versionen gedruckt werden, fast gleichlautend, in ihren keineswegs besonders unterschiedlichen Sprachen. Nicht wenige Bürger finden das lächerlich, schreibt Stieger in diesem traurig-amüsanten Kapitel. Im ganzen Land kursierten zum Beispiel Witze über diese oft groteske „sprachliche Verdreifachung“, nur habe das kaum etwas an der Praxis geändert.
„Wir haben unsere Wahrheit, sie haben ihre Wahrheit“, lautet ein bestimmendes Zitat über die unvereinbaren Geschichtsbilder der Kroaten und Serben Jahre nach dem Krieg in Kroatien. Stieger stellt die Erkenntnisse über das tatsächliche Geschehen dagegen. Und er beschreibt die Anstrengungen von Historikern aus der Region, die sich den Zerrbildern entgegenstellen und etwa Schulbücher aufrichtig und wahrhaftig gestalten wollen.
Schon zu Kriegszeiten lag ein Fehler darin, im früheren Jugoslawien nur von Hass getriebene Nationalisten zu sehen. Viele dort litten an einem Krieg, der nie der ihre war. Auch heute stellt Stieger fest, dass die Menschen unabhängig von ihrer ethnisch-nationalen Zugehörigkeit vor allem die Wut eint über korrupte Machenschaften von Politikern und der Wunsch nach Arbeit und einem besseren Leben. Er begegnet auf seiner Reise vielen, die friedlich zusammenleben wollen und für alles verachtete Provinzpolitiker verantwortlich machen.
Solche Beteuerungen hörte man auch Anfang der Neunziger oft in Jugoslawien. So zutreffend sie gewesen sein mögen, die Kämpfe verhinderten sie nicht. Heute ändern sie nichts daran, dass die nationalistische Nomenklatura das Land wie eine Geisel hält und viele junge Leute nur die Perspektive darin sehen, ihr Land zu verlassen.
JENS SCHNEIDER
In Bosnien wurden
aus einer Sprache drei gemacht
Cyrill Stieger:
Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem
Balkan. Rotpunkt-Verlag, Zürich 2021.
224 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und eigener Wahrheit
Cyrill Stieger über die Einwohner Ex-Jugoslawiens
Wer hätte gedacht, heute vor dreißig Jahren, dass Sarajewo einmal so in Vergessenheit geraten könnte? Die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, die 1425 Tage lang belagert wurde, Anfang der Neunziger im vergangenen Jahrhundert. Kein Tag verging damals ohne erschreckende Nachrichten, ob nun aus der Hauptstadt oder einer der sogenannten Schutzzonen der Vereinten Nationen, die keinen Schutz boten für die Menschen, die sich in die Obhut der UN-Blauhelme begeben hatten. Tausende Opfer forderte dieser Krieg, noch mehr Menschen wurden aus ihren Heimatdörfern und -städten vertrieben. Damals hätte man sich kaum ausmalen können, wie schnell die Welt nach dem 1995 erzwungenen Friedensschluss von Dayton den Blick abwandte und versäumte zu fragen, wie es dort weiterging.
Der Schweizer Journalist Cyrill Stieger ist nun in Städten und Regionen in Bosnien, Kroatien, Serbien und Kosovo der Frage nachgegangen, wie die Menschen der verschiedenen Volksgruppen nach den Kriegen zusammenleben. Stieger war von 1986 bis 2015 Balkankorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Er gibt in seinem feinen Buch „Die Macht des Ethnischen“ zumeist kurze Eindrücke wieder, stets um Genauigkeit und Zurückhaltung bemüht. Es geht nicht um ein generelles Urteil, genau das wäre auch ein falscher Ansatz. Stieger sammelt und analysiert oft unspektakuläre Impressionen aus dem Nachkriegsalltag. An den Orten, die Stieger besucht, geht alles seinen geregelten Gang. Gerade deshalb wirken viele seiner so anschaulichen Beobachtungen doch beklemmend.
Niemand fuchtelt da mit Waffen herum oder raunt, dass der nächste Krieg bevorstehe. Die Kriege sind vorbei, die Waffen ruhen. Aber die Zeit scheint vielerorts auch stillzustehen. Das Gegeneinander und der Hass von einst sind zu festen Feindbildern geronnen, bestenfalls in ein Nebeneinander transformiert, bei dem das Trennende betont wird. Da werden Schülerinnen und Schüler verschiedener Volksgruppen getrennt unterrichtet und mit unterschiedlichen Lehrbüchern in gegensätzliche Weltbilder eingeführt, obwohl sie doch Nachbarn sind.
Stieger beschreibt ein Nebeneinander von gegensätzlichen Geschichtsbildern der Ethnien, bei dem stets die andere Seite Schuld auf sich geladen habe. Es ist eine Hypothek für das Zusammenleben auch jener Generationen, die den Krieg nicht erlebt haben. Diese Praxis der selektiven Erinnerung folgt einem tragischen Muster, das seit einer Ewigkeit in der Region fatale Folgen hat und auch die Erzählungen in den Kriegen vor drei Jahrzehnten prägte. Verlässlich fand jede Kriegspartei stets Gründe für die eigenen Taten in tatsächlichen oder vermeintlichen Untaten des Gegners, selbst wenn die viele Jahre zurücklagen.
Das Besondere an Stiegers Recherche ist, dass er sich wenig mit den nationalistischen Anführern aufhält, für die das Beharren auf die Abgrenzung gegen andere Volksgruppen das politische und persönliche Geschäftsmodell ist. Solche Profiteure der ethnischen Trennung gibt es zuhauf, gerade macht der bosnische Serbenführer Milorad Dodik sich wichtig und der internationalen Gemeinschaft Sorgen. Interessanter sind die Schuldirektoren oder Lokalfürsten, Lehrerinnen und Erzieher, denen Stieger begegnet und die oft aufrichtig meinen, das Beste zu wollen, und sei es, um die Identität ihres Volks zu schützen.
Intensiv schildert er den absurden Aufwand, der in Bosnien betrieben wird, um aus der einstmals gemeinsamen serbokroatischen Sprache drei zu machen. Da sollen stets die Bosniaken, die Serben und Kroaten gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, was bedeutet, dass von offiziellen Papieren stets drei Versionen gedruckt werden, fast gleichlautend, in ihren keineswegs besonders unterschiedlichen Sprachen. Nicht wenige Bürger finden das lächerlich, schreibt Stieger in diesem traurig-amüsanten Kapitel. Im ganzen Land kursierten zum Beispiel Witze über diese oft groteske „sprachliche Verdreifachung“, nur habe das kaum etwas an der Praxis geändert.
„Wir haben unsere Wahrheit, sie haben ihre Wahrheit“, lautet ein bestimmendes Zitat über die unvereinbaren Geschichtsbilder der Kroaten und Serben Jahre nach dem Krieg in Kroatien. Stieger stellt die Erkenntnisse über das tatsächliche Geschehen dagegen. Und er beschreibt die Anstrengungen von Historikern aus der Region, die sich den Zerrbildern entgegenstellen und etwa Schulbücher aufrichtig und wahrhaftig gestalten wollen.
Schon zu Kriegszeiten lag ein Fehler darin, im früheren Jugoslawien nur von Hass getriebene Nationalisten zu sehen. Viele dort litten an einem Krieg, der nie der ihre war. Auch heute stellt Stieger fest, dass die Menschen unabhängig von ihrer ethnisch-nationalen Zugehörigkeit vor allem die Wut eint über korrupte Machenschaften von Politikern und der Wunsch nach Arbeit und einem besseren Leben. Er begegnet auf seiner Reise vielen, die friedlich zusammenleben wollen und für alles verachtete Provinzpolitiker verantwortlich machen.
Solche Beteuerungen hörte man auch Anfang der Neunziger oft in Jugoslawien. So zutreffend sie gewesen sein mögen, die Kämpfe verhinderten sie nicht. Heute ändern sie nichts daran, dass die nationalistische Nomenklatura das Land wie eine Geisel hält und viele junge Leute nur die Perspektive darin sehen, ihr Land zu verlassen.
JENS SCHNEIDER
In Bosnien wurden
aus einer Sprache drei gemacht
Cyrill Stieger:
Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem
Balkan. Rotpunkt-Verlag, Zürich 2021.
224 Seiten, 24 Euro.
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