Stifters Werk brilliert nicht nur durch seine unübertrefflichen Landschaftsschilderungen sondern auch durch die intime Beschreibung der Liebe zwischen der Hauptfigur, einem Arzt, und einem örtlichen Mädchen. Die Serie "Meisterwerke der Literatur" beinhaltet die Klassiker der deutschen und weltweiten Literatur in einer einzigartigen Sammlung. Lesen Sie die besten Werke großer Schriftsteller,Poeten, Autoren und Philosophen auf Ihrem elektronischen Lesegerät. Dieses Werk bietet zusätzlich * Eine Biografie/Bibliografie des Autors.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2017Dieser Arzt heilt andere und damit sich selbst
Edieren ist Schwerstarbeit, kommentieren auch: Ein Band begleitet Adalbert Stifters "Die Mappe meines Urgroßvaters"
"Die Arbeit meiner Bücher ist so: Zuerst Hauptidee im Gedanken, 2. Ausarbeitung von Einzelheiten im Gedanken", schreibt Adalbert Stifter 1861 an seinen Verleger. Als dritter Schritt folgten Notizen zu Szenen oder auch nur einzelne Sätze auf vielen Zetteln - "hierzu müssen die erlesensten Stunden benüzt werden". Danach erst gehe er an die "Textierung", die erste Niederschrift, gefolgt von der kritischen Durchsicht dieser Fassung, und darauf wiederum "Durchsicht der Durchsicht nach geraumer Zeit. Verschmelzung mit dem Ganzen. Reinschrift."
Stifters Verleger dürfte bei dieser Schilderung nur müde gelächelt haben, schließlich hatte er seine Erfahrungen mit diesem Autor gemacht und wusste, dass dessen Arbeit auch nach noch so vielen Zwischenschritten mit der Reinschrift noch längst nicht an ihr Ende gekommen war, ja dass das Feilen eigentlich erst aufhörte, wenn der Drucktermin drängte, und dass Stifter dann, kaum war ein Werk erschienen, am liebsten wieder ans Überarbeiten gegangen wäre.
Für das Edieren einer historisch-kritischen Werkausgabe mag das reizvoll sein, es macht aber auch ständig heikle Entscheidungen über die Textgestalt nötig, die durch die Arbeit von Stifters literarischem Nachlassverwalter noch erschwert wurden: Jener Johann Aprent nämlich nahm sich der Manuskripte des Autors an und bearbeitete sie handschriftlich mit dem Ziel, dass seine eigenen Eingriffe von den Streichungen und Verbesserungen Stifters nicht zu unterscheiden wären - was ihm leider oft genug gelang.
Trotzdem entsteht seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Verlag Kohlhammer eine Stifter-Ausgabe, die sich diesen editorischen Herausforderungen stellt. Bislang sind seit 1978 mehr als dreißig Bände erschienen, zumeist die Textbände, während Apparat oder Erläuterung mancher Werkgruppen noch ebenso fehlen wie die Briefe des Autors.
Nun ist eine weitere Etappe in diesem Langzeitprojekt erreicht: Mit dem Band 6.4 liegt der Kommentar zu "Die Mappe meines Urgroßvaters" vor - und damit der Abschluss dieser Werkgruppe, deren Edition in nuce noch einmal alle Schwierigkeiten zeigt, die mit dieser Ausgabe verbunden sind. Denn die "Mappe" ist ein Werk, das Stifter ein Autorenleben lang begleitet hat, das immer wieder um- und neu geschrieben wurde und über dem er vor bald 150 Jahren, am 28. Januar 1868, auch gestorben ist. Seine Ursprünge reichen in Stifters Anfänge als Schriftsteller, als er in Periodika publizierte. 1841/42 erschien in der "Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode" die "Mappe" als vierteilige Geschichte, deren Erzähler vom Besuch im Elternhaus berichtet, wo er auf autobiographische Texte aus dem Besitz seines Urgroßvaters stößt. Darin ist von einem Selbstmordversuch des Urgroßvaters aus enttäuschter Liebe die Rede, den ein Obrist, der in der Nachbarschaft wohnt, durch sein Zutreten verhindert. Eingeschoben ist der Rückblick auf die Studentenzeit des Urgroßvaters in Prag und die Freundschaft mit einem gewissen Eustachius, der plötzlich aus der Stadt verschwindet. Schließlich baut sich Augustinus, der Urgroßvater, in seiner Heimat eine neue Existenz als Arzt auf und kommt nach einem Zerwürfnis am Ende mit Margarita, der Tochter des Obristen, wieder zusammen.
Diese "Journalfassung" war die Grundlage für eine weitere Publikation der "Mappe", und zwar, gründlich überarbeitet und erweitert, 1847 als Teil der "Studien". Hier allerdings lässt sich am schönsten beobachten, was Stifter zum ewigen Umschreiben bewog. Noch waren die Bände der "Studien" nicht gedruckt, da schrieb er an den Verleger Heckenast: "Das Buch gefällt mir nicht. Es ist so schön, so tief, so lieb in mir gewesen. Ich wollte drei Karaktere geben, in denen sich die Einfachheit, Größe und Güte der menschlichen Seele spiegelt, durch lauter gewöhnliche Begebenheiten und Verhältnisse gebothen." Das aber sei ihm nicht gelungen, schreibt er weiter, "und es hat mich oft bei der Correctur geradezu schreklich gelangweilt".
Also begann er eine dritte Fassung, die er abbrach, um den Roman "Witiko" fertigzustellen, und dann eine vierte. Die Handschriften dieser Fassung sind eine besondere Herausforderung, weil sie eng miteinander verschränkt sind, von den verworfenen Stellen, den "abgelegten Blättern" ganz abgesehen. Alle vier Fassungen liegen in der Werkausgabe inzwischen vor, und es ist eine faszinierende Lektüre, den Autor dabei zu verfolgen, wie ihm der Stoff immer persönlicher und zugleich immer stärker am Wunschbild einer Welt orientiert gerät, in der sich der Arzt Augustinus zum Segen für sich selbst und die gesamte Landschaft entwickelt, für die Stifters Heimat am Rand des Böhmerwalds Pate stand. Von Fassung zu Fassung werden die Hinweise auf den Selbstmordversuch immer dezenter, bis er schließlich entfällt, und je mehr Stifters eigene Gesundheit verfiel, desto mehr Heilungserfolge lässt er seine Romanfigur erleben. Es ist ein Jammer, dass auch die vierte Fassung Fragment geblieben ist und die Frage, unter welchen Vorzeichen sich der Künstler, jetzt Landschaftsarchitekt Eustachius und der Arzt und Hofbesitzer Augustinus wiederbegegnet wären, offenbleibt.
Der Kommentar dieser Ausgabe nun unterstützt die Lektüre auf vorbildliche Weise. Er geht Einzelaspekten in kleinen Referaten nach, listet Neologismen Stifters ebenso auf wie die realen und fiktiven Ortsnamen im Roman und bringt auch die unter der Feile des Autors verworfenen Passagen im Wortlaut. Die ausufernde Stifter-Forschung hat in kluger Auswahl Eingang in den Kommentar gefunden, und wo es - etwa beim Ausleuchten der Realien - etwas mehr hätte sein dürfen, finden sich Hinweise auf weitere Literatur.
Entstanden ist so ein ausgezeichneter Begleiter für die Lektüre der "Mappe". Nicht recht einzusehen ist allerdings, warum ein Buch, das durch mehrere Institutionen gefördert worden ist, zu einem so prohibitiven Preis angeboten wird. Für den einzelnen Leser unerschwinglich, wird man es wohl in den Bibliotheken konsultieren.
TILMAN SPRECKELSEN
Adalbert Stifter: "Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar". Werke und Briefe, Bd. 6.4.
Von Silvia Bengesser und Herwig Gottwald. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2017. 678 S., geb., 439,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Edieren ist Schwerstarbeit, kommentieren auch: Ein Band begleitet Adalbert Stifters "Die Mappe meines Urgroßvaters"
"Die Arbeit meiner Bücher ist so: Zuerst Hauptidee im Gedanken, 2. Ausarbeitung von Einzelheiten im Gedanken", schreibt Adalbert Stifter 1861 an seinen Verleger. Als dritter Schritt folgten Notizen zu Szenen oder auch nur einzelne Sätze auf vielen Zetteln - "hierzu müssen die erlesensten Stunden benüzt werden". Danach erst gehe er an die "Textierung", die erste Niederschrift, gefolgt von der kritischen Durchsicht dieser Fassung, und darauf wiederum "Durchsicht der Durchsicht nach geraumer Zeit. Verschmelzung mit dem Ganzen. Reinschrift."
Stifters Verleger dürfte bei dieser Schilderung nur müde gelächelt haben, schließlich hatte er seine Erfahrungen mit diesem Autor gemacht und wusste, dass dessen Arbeit auch nach noch so vielen Zwischenschritten mit der Reinschrift noch längst nicht an ihr Ende gekommen war, ja dass das Feilen eigentlich erst aufhörte, wenn der Drucktermin drängte, und dass Stifter dann, kaum war ein Werk erschienen, am liebsten wieder ans Überarbeiten gegangen wäre.
Für das Edieren einer historisch-kritischen Werkausgabe mag das reizvoll sein, es macht aber auch ständig heikle Entscheidungen über die Textgestalt nötig, die durch die Arbeit von Stifters literarischem Nachlassverwalter noch erschwert wurden: Jener Johann Aprent nämlich nahm sich der Manuskripte des Autors an und bearbeitete sie handschriftlich mit dem Ziel, dass seine eigenen Eingriffe von den Streichungen und Verbesserungen Stifters nicht zu unterscheiden wären - was ihm leider oft genug gelang.
Trotzdem entsteht seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Verlag Kohlhammer eine Stifter-Ausgabe, die sich diesen editorischen Herausforderungen stellt. Bislang sind seit 1978 mehr als dreißig Bände erschienen, zumeist die Textbände, während Apparat oder Erläuterung mancher Werkgruppen noch ebenso fehlen wie die Briefe des Autors.
Nun ist eine weitere Etappe in diesem Langzeitprojekt erreicht: Mit dem Band 6.4 liegt der Kommentar zu "Die Mappe meines Urgroßvaters" vor - und damit der Abschluss dieser Werkgruppe, deren Edition in nuce noch einmal alle Schwierigkeiten zeigt, die mit dieser Ausgabe verbunden sind. Denn die "Mappe" ist ein Werk, das Stifter ein Autorenleben lang begleitet hat, das immer wieder um- und neu geschrieben wurde und über dem er vor bald 150 Jahren, am 28. Januar 1868, auch gestorben ist. Seine Ursprünge reichen in Stifters Anfänge als Schriftsteller, als er in Periodika publizierte. 1841/42 erschien in der "Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode" die "Mappe" als vierteilige Geschichte, deren Erzähler vom Besuch im Elternhaus berichtet, wo er auf autobiographische Texte aus dem Besitz seines Urgroßvaters stößt. Darin ist von einem Selbstmordversuch des Urgroßvaters aus enttäuschter Liebe die Rede, den ein Obrist, der in der Nachbarschaft wohnt, durch sein Zutreten verhindert. Eingeschoben ist der Rückblick auf die Studentenzeit des Urgroßvaters in Prag und die Freundschaft mit einem gewissen Eustachius, der plötzlich aus der Stadt verschwindet. Schließlich baut sich Augustinus, der Urgroßvater, in seiner Heimat eine neue Existenz als Arzt auf und kommt nach einem Zerwürfnis am Ende mit Margarita, der Tochter des Obristen, wieder zusammen.
Diese "Journalfassung" war die Grundlage für eine weitere Publikation der "Mappe", und zwar, gründlich überarbeitet und erweitert, 1847 als Teil der "Studien". Hier allerdings lässt sich am schönsten beobachten, was Stifter zum ewigen Umschreiben bewog. Noch waren die Bände der "Studien" nicht gedruckt, da schrieb er an den Verleger Heckenast: "Das Buch gefällt mir nicht. Es ist so schön, so tief, so lieb in mir gewesen. Ich wollte drei Karaktere geben, in denen sich die Einfachheit, Größe und Güte der menschlichen Seele spiegelt, durch lauter gewöhnliche Begebenheiten und Verhältnisse gebothen." Das aber sei ihm nicht gelungen, schreibt er weiter, "und es hat mich oft bei der Correctur geradezu schreklich gelangweilt".
Also begann er eine dritte Fassung, die er abbrach, um den Roman "Witiko" fertigzustellen, und dann eine vierte. Die Handschriften dieser Fassung sind eine besondere Herausforderung, weil sie eng miteinander verschränkt sind, von den verworfenen Stellen, den "abgelegten Blättern" ganz abgesehen. Alle vier Fassungen liegen in der Werkausgabe inzwischen vor, und es ist eine faszinierende Lektüre, den Autor dabei zu verfolgen, wie ihm der Stoff immer persönlicher und zugleich immer stärker am Wunschbild einer Welt orientiert gerät, in der sich der Arzt Augustinus zum Segen für sich selbst und die gesamte Landschaft entwickelt, für die Stifters Heimat am Rand des Böhmerwalds Pate stand. Von Fassung zu Fassung werden die Hinweise auf den Selbstmordversuch immer dezenter, bis er schließlich entfällt, und je mehr Stifters eigene Gesundheit verfiel, desto mehr Heilungserfolge lässt er seine Romanfigur erleben. Es ist ein Jammer, dass auch die vierte Fassung Fragment geblieben ist und die Frage, unter welchen Vorzeichen sich der Künstler, jetzt Landschaftsarchitekt Eustachius und der Arzt und Hofbesitzer Augustinus wiederbegegnet wären, offenbleibt.
Der Kommentar dieser Ausgabe nun unterstützt die Lektüre auf vorbildliche Weise. Er geht Einzelaspekten in kleinen Referaten nach, listet Neologismen Stifters ebenso auf wie die realen und fiktiven Ortsnamen im Roman und bringt auch die unter der Feile des Autors verworfenen Passagen im Wortlaut. Die ausufernde Stifter-Forschung hat in kluger Auswahl Eingang in den Kommentar gefunden, und wo es - etwa beim Ausleuchten der Realien - etwas mehr hätte sein dürfen, finden sich Hinweise auf weitere Literatur.
Entstanden ist so ein ausgezeichneter Begleiter für die Lektüre der "Mappe". Nicht recht einzusehen ist allerdings, warum ein Buch, das durch mehrere Institutionen gefördert worden ist, zu einem so prohibitiven Preis angeboten wird. Für den einzelnen Leser unerschwinglich, wird man es wohl in den Bibliotheken konsultieren.
TILMAN SPRECKELSEN
Adalbert Stifter: "Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar". Werke und Briefe, Bd. 6.4.
Von Silvia Bengesser und Herwig Gottwald. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2017. 678 S., geb., 439,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main