Emma Braslavsky blickt einer Stadt ins Nachtherz und führt uns auf die dunkle Seite einer aufgekratzten Metropole. Ihr Roman ist Großstadtmärchen und Kriminalgeschichte und erzählt witzig und rasant von der Radikalisierung des Individuums, von der schmalen Grenze zwischen natürlichem und künstlichem Leben und von der Allmacht der Algorithmen.
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Emma Braslavskys neuer Roman gibt vor, ein Krimi zu sein, lockt uns aber in ein Zerrspiegelkabinett des Menschseins
"Von den Speisenden und Tanzenden im Lokal blieb unbemerkt, was sich unterdessen draußen ereignet hatte. Eine junge Frau war vom Dach des Gebäudes gesprungen, ihr schmaler Körper lag verdreht auf dem Gehweg, ihr Kopf hing über dem Bordstein. Einige Passanten liefen zusammen, zwei, drei Gäste, die an den Fenstertischen saßen, standen auf, um die Szene draußen besser beobachten zu können."
Dieses Ereignis kommt früh im neuen Roman von Emma Braslavsky. Über die junge Freitote erfahren wir nichts Weiteres, aber ihr Suizid verschafft eine Ahnung davon, dass es nicht recht geheuer ist in diesem Berlin der nahen Zukunft. Die Stadt ist auf das Doppelte ihrer heutigen Bevölkerungszahl angewachsen, aber ein Gutteil der Personen in den Straßen und Wohnungen sind "Recheneinheiten", wie ein neuer Typ von Robotern genannt wird, die nach den partnerschaftlichen Bedürfnissen der Kunden konfektioniert werden. Doch immer mehr Menschen töten sich. Die junge Frau ist nur die Erste, von der wir es hören; keine zwanzig Seiten später folgt ihr eine der beiden Hauptfiguren des Romans, der erfolglose Tauchunternehmer Lennart Fischer.
Lennarts Selbstmord ist das Resultat eines Identitätsproblems, das im heiklen Verhältnis zu seinen Eltern begründet liegt. Eine neue Liebe zu einer Recheneinheit ist nicht genug, um sich ans Leben zu klammern. Mit den künstlichen Menschen glauben die echten zwar, sich ein problemloses Privatleben anschaffen zu können, doch das ist eine Illusion. Und selbstverständlich bleibt es auch nicht beim Privaten: Die zweite Hauptfigur ist die Polizistin Roberta Köhl, ein Prototyp für Künstliche Intelligenzen, die nun auch im Berufsleben zum Einsatz kommen soll. Gut gefüttert mit dem für eine Kriminalermittlerin nötigen logischen Denken, muss sich Roberta ein Gefühlsleben, das fürs Verständnis der Umwelt und somit für die Erfüllung ihrer Aufgabe nötig ist, erst zulegen. So streift sie des Nachts durch Berlin, auf amourösen und anderen Abwegen. Ihr Blick auf die Stadt und deren Bewohner ist das, als was sich die von ihr Beobachteten in den seltensten Fällen erweisen: unschuldig.
Emma Braslavskys "Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten" evoziert schon durch seinen Titel eine Genrestimmung. So beginnen Krimis. Und in gewisser Weise ist dieser Science-Fiction-Roman auch einer, denn wir folgen den Ermittlungen von Roberta zu Lennarts Tod. Die ersten beiden Kapitel, die die Namen der beiden Hauptfiguren tragen, erinnern vom Sog ihrer Stadtbeschreibungen und der inneren Anteilnahme an den Wahrnehmungen von Lennart und Roberta her an ein berühmtes und erfolgreiches Beispiel einer anderen Grenzüberschreitung avancierter deutscher Science-Fiction-Literatur zum Krimi: Georg Kleins Romandebüt "Libidissi", erschienen vor zwanzig Jahren. Nur dass darin ein imaginärer Orient der Schauplatz war, während hier nur weniges gegenüber dem uns vertrauten Berlin verändert ist - darunter aber das Zentrale: die Conditio humana. Die Krimihandlung ist ein Trick, mit dem Braslavsky uns Leser in eine weitaus komplexere Problematik verwickelt als die Aufklärung eines Todes.
Alle Beteiligten wissen ohnehin, dass es ein Suizid war; das Movens von Robertas Bemühungen ist die Beibringung der notwendigen amtlichen Bescheinigungen über Lennarts Ableben, weil damit erst die Kosten für seine Beisetzung aufgetrieben werden können - und daran ist der Staat (über dessen Verfasstheit in jener nahen Zukunft wir nichts erfahren) brennend interessiert angesichts der schieren Masse von durch eigene Hand sterbender Bürger. Ein sozialpolitisches Problem ist also der Hintergrund der Handlung, und dadurch wandelt sich der Science-Fiction-Krimi zur Dystopie.
Damit nicht genug. Die eigentliche Ebene, um die es Braslavsky geht, ist das Selbstverständnis einer Künstlichen Intelligenz. Immer wieder sieht Roberta eine Frau, die ihr aufs Haar gleicht, meist mit Kind an deren Seite - und so wird die Recheneinheit nicht nur darauf verweisen, dass sie etwas Nachgemachtes ist, sondern auch, dass ihr der Horizont eines befristeten Lebens fehlt, aus dem aber erst das Gattungsdasein entsteht. Just das aber geben die Menschen gerade aus Bequemlichkeit auf, und die hohe Suizidquote ist das Resultat dieses Umbruchs, während Berlin gefüllt wird mit Recheneinheiten, die zwar menschliche Erfahrungen sammeln, aber nie ein vergleichbares Eigeninteresse daran entwickeln. In einer der vielen Buchpassagen, die Spiegelphänomene zum Gegenstand haben, stellt Roberta fest: "War der Spiegel mit seiner oberflächlichen und unreflektierten Wiedergabe eines vermeintlichen Ichs nicht eigentlich schuld am Zerfall komplexer Gesellschaften?" Der Clou ist hier natürlich die Rede vom unreflektierten Spiegelbild - ein Scheinparadox.
Braslavsky liebt solche Spitzfindigkeiten; das weiß man schon seit dem Vorgängerroman "Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen", einer weiteren Berliner Zukunftsgeschichte. Die neue ist kürzer gehalten, darum auch ärmer an metareferentiellen Passagen, aber existenzialistisch angehauchte Textinvasionen gibt es immer noch reichlich. Eingestreut in die Handlung sind etwa kursiv gesetzte Stadtreflexionen von Lennart, die Emma Blasavsky den Aufzeichnungen eines verstorbenen Bekannten entnommen hat. Die sind etwas viel des Selbstbezugs und erscheinen als Fremdkörper. Denen die unschuldige Sachlichkeit einer Recheneinheit fehlt.
ANDREAS PLATTHAUS.
Emma Braslavsky: "Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 271 S., geb., 22,- [Euro].
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