Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2020Gewohnt wird wie gewohnt
Der Schweizer Architekt und Hochschullehrer Ernst Hubeli ist besorgt über den Zustand der Stadt. Wem sie gehört, wer sie pflegt und wie, das treibt ihn um. Seine Prämisse lautet dabei: Es gibt kein Zuhause, solange die "Wohnungsfrage" keine Antwort findet. Und diese drehe sich, wie schon vor hundertfünfzig Jahren, um einen "innerkapitalistischen Widerspruch": Der Immobilienmarkt profitiere vom knappen Wohnungsangebot, das Boden- wie Mietpreise hochtreibe, während der Arbeitsmarkt dafür sorge, dass diese Entwicklung nicht durch höhere Löhne abgefedert wird. Unabwendbares Schicksal müsse das allerdings nicht sein. Der Berliner Mietendeckel zeige, dass Druck aus der Zivilgesellschaft wirke.
Wenngleich Hubeli aus seinen politischen Ansichten keinen Hehl macht, so stehen sie doch nicht im Vordergrund. Vielmehr denkt er auf recht grundlegende Weise über das Wohnen nach: "Wohnen entsteht nicht aus einer Vorstellung von Gesellschaft - und umgekehrt: Die Gesellschaft hat heute keinen Entwurf für das Wohnen." Er konstatiert eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen heterogenen Lebensformen und homogenen Wohnformen. Dass achtzig Prozent der Leute die Frage, ob sie mit ihrer Wohnsituation zufrieden sind, bejahen, erklärt er durch den Hinweis, dass den Befragten ein Nein "das Zugeständnis bedeuten würde, im Leben versagt zu haben". Und dieser Umstand erschwere eine Verständigung darüber, was "gutes Wohnen" sein könnte.
Der Autor verknüpft solche Aspekte mit den Begriffen "Heimat" und "Zuhause": "Die schwindende Bedeutungsschwere des Wohnens in der digitalen Welt schließt nicht aus, dass das Zuhause mit großer Inbrunst analog entworfen wird - als eine nach innen gekehrte Heimat." Gleichwohl impliziert das Wohnen etwas Unberechenbares und lässt sich kaum in einen vorgegebenen Plan einengen. Die neue Krise der Städte ist eine Streitschrift, keine abwägende Abhandlung. Just das macht sie zu einer kurzweiligen Lektüre: über weite Strecken glänzend geschrieben, meinungsstark und facettenreich.
ROBERT KALTENBRUNNER.
Ernst Hubeli: "Die neue Krise der Städte". Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert.
Rotpunktverlag, Zürich 2020. 192 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schweizer Architekt und Hochschullehrer Ernst Hubeli ist besorgt über den Zustand der Stadt. Wem sie gehört, wer sie pflegt und wie, das treibt ihn um. Seine Prämisse lautet dabei: Es gibt kein Zuhause, solange die "Wohnungsfrage" keine Antwort findet. Und diese drehe sich, wie schon vor hundertfünfzig Jahren, um einen "innerkapitalistischen Widerspruch": Der Immobilienmarkt profitiere vom knappen Wohnungsangebot, das Boden- wie Mietpreise hochtreibe, während der Arbeitsmarkt dafür sorge, dass diese Entwicklung nicht durch höhere Löhne abgefedert wird. Unabwendbares Schicksal müsse das allerdings nicht sein. Der Berliner Mietendeckel zeige, dass Druck aus der Zivilgesellschaft wirke.
Wenngleich Hubeli aus seinen politischen Ansichten keinen Hehl macht, so stehen sie doch nicht im Vordergrund. Vielmehr denkt er auf recht grundlegende Weise über das Wohnen nach: "Wohnen entsteht nicht aus einer Vorstellung von Gesellschaft - und umgekehrt: Die Gesellschaft hat heute keinen Entwurf für das Wohnen." Er konstatiert eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen heterogenen Lebensformen und homogenen Wohnformen. Dass achtzig Prozent der Leute die Frage, ob sie mit ihrer Wohnsituation zufrieden sind, bejahen, erklärt er durch den Hinweis, dass den Befragten ein Nein "das Zugeständnis bedeuten würde, im Leben versagt zu haben". Und dieser Umstand erschwere eine Verständigung darüber, was "gutes Wohnen" sein könnte.
Der Autor verknüpft solche Aspekte mit den Begriffen "Heimat" und "Zuhause": "Die schwindende Bedeutungsschwere des Wohnens in der digitalen Welt schließt nicht aus, dass das Zuhause mit großer Inbrunst analog entworfen wird - als eine nach innen gekehrte Heimat." Gleichwohl impliziert das Wohnen etwas Unberechenbares und lässt sich kaum in einen vorgegebenen Plan einengen. Die neue Krise der Städte ist eine Streitschrift, keine abwägende Abhandlung. Just das macht sie zu einer kurzweiligen Lektüre: über weite Strecken glänzend geschrieben, meinungsstark und facettenreich.
ROBERT KALTENBRUNNER.
Ernst Hubeli: "Die neue Krise der Städte". Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert.
Rotpunktverlag, Zürich 2020. 192 S., geb., 15,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Wohnungsfrage ist eigentlich eine Bodenfrage, lernt Oliver Herwig und empfiehlt Ernst Hubelis Streitschrift "Die neue Krise der Städte" nicht nur wegen ihrer Eleganz, sondern auch wegen ihrer Wucht. "Unverdiente Gewinne" heißt der Profit, der sich allein aus der Steigerung des Bodenwerts ergibt, berichtet Herwig weiter, und natürlich habe der Stadttheoretiker Hubeli jede Menge Ideen, wie man diesen Gewinn für die Allgemeinheit abschöpfen kann. Und noch etwas erfährt der Rezensent: Hubeli schätzt nach einem Blick auf die Paradise Papers, dass bei ungefähr der Hälfte des Immobilienumsatzes in den vergangenen Jahren Schwarzgeld bewegt wurde. Auch dies für den Autor - und den Rezensenten - ein Grund, den Spekulationen mit dem Gut Wohnen Einhalt zu gebieten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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