Als im November 1989 die Mauer fiel, begann ein Großexperiment kontinentalen Ausmaßes: Die ehemaligen Staaten des »Ostblocks« wurden binnen kurzer Zeit auf eine neoliberale Ordnung getrimmt und dem Regime der Privatisierung und Liberalisierung unterworfen. Diese Transformation brachte Gewinner und Verlierer hervor: Russland glitt in ein wirtschaftliches Chaos ab, auf dem Präsident Putin sein autoritäres Regime begründete, Länder wie Polen, Tschechien oder Ungarn erholten sich und sind heute Mitglieder der EU. Während Warschau und andere Hauptstädte sich zu Boomtowns entwickelten, verarmten ländliche Regionen.
In seinem »elektrisierenden Buch« (Jens Bisky, SZ) legt Philipp Ther eine umfassende zeithistorische Analyse der neuen Ordnung auf dem alten Kontinent vor - und zwar erstmals in gesamteuropäischer Perspektive. Er räumt mit einigen Mythen rund um »1989« auf und präsentiert eine erste Bilanz der neoliberalen Ordnung.
In seinem »elektrisierenden Buch« (Jens Bisky, SZ) legt Philipp Ther eine umfassende zeithistorische Analyse der neuen Ordnung auf dem alten Kontinent vor - und zwar erstmals in gesamteuropäischer Perspektive. Er räumt mit einigen Mythen rund um »1989« auf und präsentiert eine erste Bilanz der neoliberalen Ordnung.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Philipp Thers "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" hat den Rezensenten György Dalos sehr beeindruckt. Das Buch ist schön geschrieben, akribisch recherchiert und logisch einwandfrei in seinen Argumenten, so der Rezensent. Ther beschreibt die Geschichte des neoliberalen Europa seit dem Jahr 1989, dessen Umbrüche er auf die unbeabsichtigten Folgen der Reformen Gorbatschows zurückführt, berichtet Dalos. Es folgt eine genaue Untersuchung der sich wandelnden Ökonomien und politischen Strukturen der Ostblockstaaten, ihres Verhältnisses zum Westen, der Migration, der Finanzkrise und ihrer Folgen bis hin zum aktuellen Konflikt zwischen Putins Russland und der Ukraine, fasst der Rezensent zusammen, der mit der Lektüre mehr als zufrieden ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014Mit dem Sonderzug am Abgrund entlang
Historischer Weitblick, ökonomische Kurzsichtigkeit: Philipp Ther bilanziert die Versäumnisse in der jüngsten Geschichte Europas - und vernachlässigt den Westen des Kontinents.
Von Kim Christian Priemel
Mit dem Neoliberalismus ist es ein wenig wie mit der Pornographie, über die der amerikanische Verfassungsrichter Potter Stewart einmal sagte, er könne sie nicht definieren, erkenne sie aber, wenn er sie sehe. Der in Wien lehrende Osteuropa-Historiker Philipp Ther löst das Problem auf doppelt elegante Weise - einmal metaphorisch, wenn er neoliberales Denken als "funkelnden Expresszug, der Wachstum und Wohlstand verspricht", beschreibt; zum anderen analytisch, indem er in begrifflicher Unschärfe und konzeptioneller Anpassungsfähigkeit einen Schlüssel zur neoliberalen Hegemonie erkennt.
Der Zug nahm in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht zuletzt deswegen so rapide Fahrt auf, weil Zielort, Route und Reisekomfort nicht beliebig, aber doch situativ definierbar waren. Thers Band über "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" ist das famose Logbuch dieser langen Zugfahrt entlang des Abgrundes. Es setzt ein mit der Desintegration der staatssozialistischen Diktaturen seit den späten siebziger Jahren und vollzieht dann im Panoramablick, der große Linien ebenso wie lokale Unterschiede herausarbeitet, die Revolutionen der Jahre 1989 bis 1991 nach.
Deren überwiegend friedlichen Verlauf erklärt Ther teils aus dem bildungsbürgerlichen Sozialprofil der zentralen Akteure, teils aus der Unterschätzung durch die buchstäblich alten Eliten. Der Fahrplan, dem die neuen Demokratien in den neunziger Jahren folgten, war der des Washington Consensus (der, wie Ther klarstellt, nie konsensual war) und seines Dreiklanges aus Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung, mithin ein Rückbau des Staates, in dem sich nicht nur die antikommunistische, sondern ebenso die antisozialdemokratische Stoßrichtung neoliberaler Vordenker spiegelt.
Dieser Zeitgeist prägte die Jahre des Umbruchs, mal in schrittweisen Reformen, mal in Gestalt der berüchtigten Schocktherapie des polnischen Finanzministers Leszek Balcerowicz, doch an allen postsozialistischen Schauplätzen hoffte man, auf den Wohlstandszug aufzuspringen. Wie eklatant Balcerowicz die kalkulierte Krise unterschätzte, ist bekannt, und auch an das tschechische Privatisierungsdesaster mag man sich hierzulande noch erinnern. Doch tut man aus deutscher Sicht gut daran, mit einer gehörigen Portion Demut auf die Schwierigkeiten der Nachbarn zu blicken.
Denn die radikalste Form der Schocktherapie findet Ther in der ehemaligen DDR, die über Nacht um ihre Währung und einen erheblichen Teil ihrer Kapitalien gebracht, dann nachhaltig deindustrialisiert wurde. Der in diesen Tagen wieder vielfach gefeierte historische Weitblick Helmut Kohls ging mit ökonomischer Kurzsichtigkeit, wenn nicht Ignoranz einher. Täuschte darüber zunächst der Reichtum der Bundesrepublik hinweg, die sich enorme Transferleistungen und das Treuhandfiasko leisten konnte, schlugen die Wiedervereinigungskosten doch bald auf die Sozialkassen durch und führten geradewegs in die westliche "Kotransformation", konkret: in die Agenda-Politik der rot-grünen Koalition.
Deren politische Vorbilder verortet Ther wiederum im neoliberalen Verheißungsdiskurs und, gewissermaßen eine Umdrehung weiter, in der Anleihe bei jenen osteuropäischen Staaten, die mit geschleiften Sozialsystemen, Einheitssteuersätzen und weit offenen Kapitalmärkten zu den Lieblingen der internationalen Finanzszene geworden waren.
Das ist keineswegs despektierlich oder gar, mit Blick auf die Abstürze Lettlands oder Sloweniens seit 2008, triumphalistisch gemeint. In einem Kapitel über die osteuropäischen Hauptstädte Berlin, Bratislava, Budapest, Prag, Warschau und Wien - erzählerisch wie analytisch das Herzstück der Studie - zeichnet Ther eindrucksvoll nach, wie verschieden die Neuerfindung der Metropolen nach 1990 verlief, und kontrastiert das kreative, in die Zukunft gewandte Warschau mit einem nicht nur architektonisch historistischen Berlin, das den Zug verpasste.
Statt sich nach Osten zu öffnen, pflegte man den überkommenen Sonderstatus des Westteils und fand auf die Abwicklung des Ost-Berliner Industriestandorts keine Antwort - übrigens auch, weil im Bankenskandal der Diepgen-Ära Milliarden versenkt wurden, gegen die sich die BER-Posse beinahe bescheiden ausnimmt. Die Schwierigkeiten, sich auf die neue Zeit einzustellen, hätten jedoch keineswegs bei den als "Jammerossis" Verunglimpften, tatsächlich aber überdurchschnittlich mobilen und anpassungsbereiten ehemaligen Brüdern und Schwestern gelegen, sondern bei einer bundesdeutschen Bevölkerung, die vor allem wollte, dass alles so weiterging wie bisher.
Von verpassten Chancen spricht Ther mehrfach, und an diesen Stellen gerät die zeithistorische Darstellung zum Plädoyer dafür, die osteuropäischen Transformationsleistungen zu würdigen - für sich und in ihren Auswirkungen auf ganz Europa. Kenntnisarme, aber meinungsstarke Kommentatoren wie Helmut Schmidt standen (und stehen) demnach repräsentativ für eine Mischung aus Ignoranz und Überheblichkeit westlich des früheren Eisernen Vorhanges, wenn es um den abzuwickelnden "Ostblock" ging.
Polenwitze zur Primetime begleiteten die Schließung sogenannter Polenmärkte und finden heute eine Entsprechung in vulgären Finanzmarktkürzeln à la PIGS für die finanziell schwer angeschlagenen Mittelmeerstaaten. Thers Kritik fällt an solchen Stellen wohltuend deutlich aus und unterstreicht, dass verbreitete Ängste ernst zu nehmen nicht gleichbedeutend damit ist, jenen nach dem Mund zu reden, die sie schüren, ob Haider oder Orbán, UKIP oder AfD.
Auf außenpolitischer Ebene gelten seine Sympathien erkennbar jenen, die die ukrainischen Reformer schon 2004/5 unterstützten; die deutsche Regierung schneidet entsprechend schlecht ab. Überraschend gut hingegen kommt die Europäische Union weg. Anders als der Kölner Soziologe Wolfgang Streeck, der Brüssel kürzlich als Neoliberalisierungsagentur geißelte, betont Ther die großen Erfolge der europäischen Kohäsionspolitik sowohl für die Armutsbekämpfung als auch für die demokratische Stabilisierung - Ungarn gleichsam zum Trotz.
Dank zahlreicher klarer, anregender und überaus aktueller Bewertungen wird die Lektüre von Thers Buch auch dann nicht langweilig, wenn man den Eindruck hat, Ähnliches aus der Tagespresse zu erfahren oder doch zumindest erfahren zu können, wenn man so polyglott wäre wie der Autor. Die Aktualität hat indes in zweierlei Hinsicht ihren Preis.
Eine Geschichte des neoliberalen Europas, wie sie der Untertitel verspricht, bietet der Band zum einen deswegen nicht, weil abseits Deutschlands und Österreichs der Westen des Subkontinents im Grunde nicht auftaucht. Die wiederholt gezogenen Vergleichslinien zur gegenwärtigen Krisenpolitik sind zwar instruktiv, ersetzen aber nicht den breiteren Blick. Entsprechend ausgeblendet bleiben historisch weiter zurückreichende Perspektiven, die danach fragen, wie viel dessen, was Ther als kotransformative Effekte beschreibt - Stichwort Sozialkassen -, auf ältere Entwicklungen zurückgeht.
Zum anderen bleibt die Frage offen, wie viel Geschichtsschreibung in einer solchen Gegenwartsgeschichte eigentlich steckt. Gerade weil Ther das neoliberale Unausweichlichkeits-Narrativ in Frage stellt und konkrete Entscheidungen benennbarer Akteure betont, möchte man doch mehr über das Wie und Warum dieser Entscheidungen, über die Erfahrungen und Erwartungen der Entscheidenden wissen. Allein, dafür fehlen (noch) die Quellen, und so dominieren im Index die Orte, nicht die Menschen. Natürlich weiß Ther darum und warnt eingangs selbst vor der möglichen Kurzlebigkeit seiner Befunde. Für heute aber ist sein Buch allen Fahrgästen zu empfehlen.
Philipp Ther: "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent". Eine Geschichte des neoliberalen Europa.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 432 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Historischer Weitblick, ökonomische Kurzsichtigkeit: Philipp Ther bilanziert die Versäumnisse in der jüngsten Geschichte Europas - und vernachlässigt den Westen des Kontinents.
Von Kim Christian Priemel
Mit dem Neoliberalismus ist es ein wenig wie mit der Pornographie, über die der amerikanische Verfassungsrichter Potter Stewart einmal sagte, er könne sie nicht definieren, erkenne sie aber, wenn er sie sehe. Der in Wien lehrende Osteuropa-Historiker Philipp Ther löst das Problem auf doppelt elegante Weise - einmal metaphorisch, wenn er neoliberales Denken als "funkelnden Expresszug, der Wachstum und Wohlstand verspricht", beschreibt; zum anderen analytisch, indem er in begrifflicher Unschärfe und konzeptioneller Anpassungsfähigkeit einen Schlüssel zur neoliberalen Hegemonie erkennt.
Der Zug nahm in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht zuletzt deswegen so rapide Fahrt auf, weil Zielort, Route und Reisekomfort nicht beliebig, aber doch situativ definierbar waren. Thers Band über "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" ist das famose Logbuch dieser langen Zugfahrt entlang des Abgrundes. Es setzt ein mit der Desintegration der staatssozialistischen Diktaturen seit den späten siebziger Jahren und vollzieht dann im Panoramablick, der große Linien ebenso wie lokale Unterschiede herausarbeitet, die Revolutionen der Jahre 1989 bis 1991 nach.
Deren überwiegend friedlichen Verlauf erklärt Ther teils aus dem bildungsbürgerlichen Sozialprofil der zentralen Akteure, teils aus der Unterschätzung durch die buchstäblich alten Eliten. Der Fahrplan, dem die neuen Demokratien in den neunziger Jahren folgten, war der des Washington Consensus (der, wie Ther klarstellt, nie konsensual war) und seines Dreiklanges aus Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung, mithin ein Rückbau des Staates, in dem sich nicht nur die antikommunistische, sondern ebenso die antisozialdemokratische Stoßrichtung neoliberaler Vordenker spiegelt.
Dieser Zeitgeist prägte die Jahre des Umbruchs, mal in schrittweisen Reformen, mal in Gestalt der berüchtigten Schocktherapie des polnischen Finanzministers Leszek Balcerowicz, doch an allen postsozialistischen Schauplätzen hoffte man, auf den Wohlstandszug aufzuspringen. Wie eklatant Balcerowicz die kalkulierte Krise unterschätzte, ist bekannt, und auch an das tschechische Privatisierungsdesaster mag man sich hierzulande noch erinnern. Doch tut man aus deutscher Sicht gut daran, mit einer gehörigen Portion Demut auf die Schwierigkeiten der Nachbarn zu blicken.
Denn die radikalste Form der Schocktherapie findet Ther in der ehemaligen DDR, die über Nacht um ihre Währung und einen erheblichen Teil ihrer Kapitalien gebracht, dann nachhaltig deindustrialisiert wurde. Der in diesen Tagen wieder vielfach gefeierte historische Weitblick Helmut Kohls ging mit ökonomischer Kurzsichtigkeit, wenn nicht Ignoranz einher. Täuschte darüber zunächst der Reichtum der Bundesrepublik hinweg, die sich enorme Transferleistungen und das Treuhandfiasko leisten konnte, schlugen die Wiedervereinigungskosten doch bald auf die Sozialkassen durch und führten geradewegs in die westliche "Kotransformation", konkret: in die Agenda-Politik der rot-grünen Koalition.
Deren politische Vorbilder verortet Ther wiederum im neoliberalen Verheißungsdiskurs und, gewissermaßen eine Umdrehung weiter, in der Anleihe bei jenen osteuropäischen Staaten, die mit geschleiften Sozialsystemen, Einheitssteuersätzen und weit offenen Kapitalmärkten zu den Lieblingen der internationalen Finanzszene geworden waren.
Das ist keineswegs despektierlich oder gar, mit Blick auf die Abstürze Lettlands oder Sloweniens seit 2008, triumphalistisch gemeint. In einem Kapitel über die osteuropäischen Hauptstädte Berlin, Bratislava, Budapest, Prag, Warschau und Wien - erzählerisch wie analytisch das Herzstück der Studie - zeichnet Ther eindrucksvoll nach, wie verschieden die Neuerfindung der Metropolen nach 1990 verlief, und kontrastiert das kreative, in die Zukunft gewandte Warschau mit einem nicht nur architektonisch historistischen Berlin, das den Zug verpasste.
Statt sich nach Osten zu öffnen, pflegte man den überkommenen Sonderstatus des Westteils und fand auf die Abwicklung des Ost-Berliner Industriestandorts keine Antwort - übrigens auch, weil im Bankenskandal der Diepgen-Ära Milliarden versenkt wurden, gegen die sich die BER-Posse beinahe bescheiden ausnimmt. Die Schwierigkeiten, sich auf die neue Zeit einzustellen, hätten jedoch keineswegs bei den als "Jammerossis" Verunglimpften, tatsächlich aber überdurchschnittlich mobilen und anpassungsbereiten ehemaligen Brüdern und Schwestern gelegen, sondern bei einer bundesdeutschen Bevölkerung, die vor allem wollte, dass alles so weiterging wie bisher.
Von verpassten Chancen spricht Ther mehrfach, und an diesen Stellen gerät die zeithistorische Darstellung zum Plädoyer dafür, die osteuropäischen Transformationsleistungen zu würdigen - für sich und in ihren Auswirkungen auf ganz Europa. Kenntnisarme, aber meinungsstarke Kommentatoren wie Helmut Schmidt standen (und stehen) demnach repräsentativ für eine Mischung aus Ignoranz und Überheblichkeit westlich des früheren Eisernen Vorhanges, wenn es um den abzuwickelnden "Ostblock" ging.
Polenwitze zur Primetime begleiteten die Schließung sogenannter Polenmärkte und finden heute eine Entsprechung in vulgären Finanzmarktkürzeln à la PIGS für die finanziell schwer angeschlagenen Mittelmeerstaaten. Thers Kritik fällt an solchen Stellen wohltuend deutlich aus und unterstreicht, dass verbreitete Ängste ernst zu nehmen nicht gleichbedeutend damit ist, jenen nach dem Mund zu reden, die sie schüren, ob Haider oder Orbán, UKIP oder AfD.
Auf außenpolitischer Ebene gelten seine Sympathien erkennbar jenen, die die ukrainischen Reformer schon 2004/5 unterstützten; die deutsche Regierung schneidet entsprechend schlecht ab. Überraschend gut hingegen kommt die Europäische Union weg. Anders als der Kölner Soziologe Wolfgang Streeck, der Brüssel kürzlich als Neoliberalisierungsagentur geißelte, betont Ther die großen Erfolge der europäischen Kohäsionspolitik sowohl für die Armutsbekämpfung als auch für die demokratische Stabilisierung - Ungarn gleichsam zum Trotz.
Dank zahlreicher klarer, anregender und überaus aktueller Bewertungen wird die Lektüre von Thers Buch auch dann nicht langweilig, wenn man den Eindruck hat, Ähnliches aus der Tagespresse zu erfahren oder doch zumindest erfahren zu können, wenn man so polyglott wäre wie der Autor. Die Aktualität hat indes in zweierlei Hinsicht ihren Preis.
Eine Geschichte des neoliberalen Europas, wie sie der Untertitel verspricht, bietet der Band zum einen deswegen nicht, weil abseits Deutschlands und Österreichs der Westen des Subkontinents im Grunde nicht auftaucht. Die wiederholt gezogenen Vergleichslinien zur gegenwärtigen Krisenpolitik sind zwar instruktiv, ersetzen aber nicht den breiteren Blick. Entsprechend ausgeblendet bleiben historisch weiter zurückreichende Perspektiven, die danach fragen, wie viel dessen, was Ther als kotransformative Effekte beschreibt - Stichwort Sozialkassen -, auf ältere Entwicklungen zurückgeht.
Zum anderen bleibt die Frage offen, wie viel Geschichtsschreibung in einer solchen Gegenwartsgeschichte eigentlich steckt. Gerade weil Ther das neoliberale Unausweichlichkeits-Narrativ in Frage stellt und konkrete Entscheidungen benennbarer Akteure betont, möchte man doch mehr über das Wie und Warum dieser Entscheidungen, über die Erfahrungen und Erwartungen der Entscheidenden wissen. Allein, dafür fehlen (noch) die Quellen, und so dominieren im Index die Orte, nicht die Menschen. Natürlich weiß Ther darum und warnt eingangs selbst vor der möglichen Kurzlebigkeit seiner Befunde. Für heute aber ist sein Buch allen Fahrgästen zu empfehlen.
Philipp Ther: "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent". Eine Geschichte des neoliberalen Europa.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 432 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Dieses komplizierte Geschehen schildert Ther akribisch, präzise, stilistisch schön und logisch."
György Dalos, DIE ZEIT 01.10.2014
György Dalos, DIE ZEIT 01.10.2014