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H.-U. Wehlers Streitschrift
Es gibt viele Neuerscheinungen, die sich mit neuen und alten Fliehkräften in Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigen. Am Niedergang der sozialen Gerechtigkeit, am Niedergang des Mittelstands, am Niedergang Deutschlands und am Niedergang der ganzen Welt ist darin wahlweise der Euro, der Kapitalismus, das Internet oder Frau Merkel ("Mutter Blamage") schuld. Die Bücher folgen einem Trend: Nach Jahren einer "neoliberalen" Offensive sind nach der Finanzkrise und inmitten der europäischen Schuldenkrise alte Gewissheiten in der Defensive. Auf Deutschland bezogen, kämpfen solche pessimistischen Diagnosen allerdings mit einem Phänomen, das sich nur schwer weganalysieren lässt: So gut wie in den vergangenen zehn Jahren ging es Deutschland seit der Varus-Schlacht nicht mehr - sieht man einmal davon ab, dass es für immer mehr Leute immer unwahrscheinlicher wird, dass es ihnen noch besser gehen könnte.
Hans-Ulrich Wehlers Buch gehört in die Reihe dieser Bücher. Seine Streitschrift - eine Art Katheder-Armutsbericht - zur sozialen Ungleichheit tut sich wohltuend dadurch hervor, dass sie ein wenig weiter ausholt als nur zum Rundumschlag. Das steht gleich mit dem ersten Satz fest: "Vor kurzem galt es unter namhaften deutschen Soziologen als chic, anstelle der harten Barrieren der Sozialen Ungleichheit die bunte Vielfalt der Individualisierung und Pluralisierung zu beschwören." Darauf kommt Wehler immer wieder zurück. Sein Buch richtet sich "gegen die modische Behauptung der Entstrukturierung und Individualisierung, welche die gegenwärtige deutsche Gesellschaft angeblich in wachsendem Maße prägt." Mit anderen Worten: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft und die angebliche Auflösung der Milieus können nicht erklären, was für Wehler die Konsequenzen aus Klassenformationen, sozialem "Habitus" und alldem sind, was Gesellschaftswissenschaftler früher "Gesittung", später dann Mentalitäten genannt haben.
Wehler braucht diese Hypothese, um zu der Wirklichkeit zu kommen, wie er sie sieht. Der emeritierte Bielefelder Sozialhistoriker, der gerne auch historischer Sozialwissenschaftler ist, nimmt einen langen theoretischen Anlauf, bis er zur Sache kommt. Ein Vierzig-Seiten-Ritt durch die "Stratifikationsforschung" muss schon sein, um anschließend in kleinen Häppchen sagen zu können, worin denn nun die soziale Ungleichheit, ihre Ursachen und Wirkungen bestehen. Nichts gegen diese Einführung, die jedem Leser vor Augen führt, wie wertvoll die Arbeiten von Karl Marx, Lorenz von Stein, Max Weber und - vor allem - von Pierre Bourdieu sind. Dass es sich in den Konflikten zwischen Klassen im Weberschen Sinne um "historisch kontingente Verhältnisse mit wechselnden Bedingungskonstellationen" handelt, was auch immer das heißen mag, ist dann aber doch eine Einsicht, die nur noch vom Wahlprogramm Peer Steinbrücks übertroffen werden dürfte.
Der SPD seien die dann folgenden Seiten deshalb als Pflichtlektüre für jeden ihrer Wahlkämpfer empfohlen. Wehler breitet auf dreißig Seiten die "Ungleichheitsveränderungen" der vergangenen Jahrzehnte aus - die Reichen werden superreich, alle anderen werden entweder nicht viel reicher oder ärmer. Dabei geht es Wehler nicht nur "um privilegiertes Humankapital mit hohem Einkommen oder um ungelernte Arbeiter mit stagnierenden Löhnen, sondern vor allem um die politisch und rechtlich fundierte Machtausübung kleiner Eliten, die sich in einem Maße, das vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre, ein Einkommen verschaffen, die sich von der Lebenswelt ihrer Mitarbeiter denkbar weit abheben". Das illustriert Wehler, er selbst würde wohl sagen: Das belegt er mit Zahlen, sehr vielen Zahlen. Spätestens aber im Kapitel über die "Ungleichheit der Bildungschancen" fragt man sich, ob es tatsächlich die "Machtausübung kleiner Eliten" ist, die dazu geführt hat, dass selbst massive staatliche Interventionen in die "egalitätsfreundliche Aufstiegsmobilität" an Schulen und Universitäten die Bedeutung sozialer Herkunft nicht zurückdrängen konnte.
Dem "Voodoo-Aberglaube" an den deregulierten Markt setzt Wehler am Ende des Buches einen durchaus sympathischen Bielefelder Konservatismus entgegen: "Kleine und große menschliche Verbände können nur dann auf Dauer friedlich zusammenleben, wenn sie sich einem allseits akzeptierten Satz von verbindlichen Normen und institutionellen Regelungen unterwerfen. Das gilt für Ehepaare, Vereine, Parteien und ganze Nationen." Man möchte hinzufügen: auch für die deutsche Wirklichkeit, die nicht nur aus den Ackermanns, Winterkorns und den Dax-Unternehmen besteht, sondern aus dem Mittelstand, über den endlich einmal eine Gesellschaftsgeschichte geschrieben werden sollte.
JASPER VON ALTENBOCKUM
Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland. C. H. Beck Verlag, München 2013. 191 S., 14,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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