Die Nordsee: Sie zeigt sich oft stürmisch und rau, ist jedoch so viel mehr als nur unbeständiges Wetter, meterhohe Wellen und Bohrplattformen. Künstler und Dichter ließen sich von ihren Küstenlandschaften im ewigen Wandel inspirieren; als Handels- und Kriegsschauplatz hat sie das Schicksal ganzer Nationen entschieden; und auch heute noch formt sie die Identitäten ihrer Anrainerstaaten und derer Bewohner auf vielfältige Art und Weise. Tom Blass ist an die entlegensten Ufer der Nordsee gereist, er hat Fischer, Historiker und Bürgermeister getroffen und ist mit einem gewaltigen Fundus an Mythen, Anekdoten und Kuriositäten zurückgekehrt. Entstanden ist ein facettenreiches Porträt der Nordsee, das uns dieses vermeintlich unversöhnliche Meer in einem neuen Licht zeigt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019Der diskrete Charme der Melancholie
Hässliches muss man auch hässlich nennen: Der englische Reporter Tom Blass erkundet die Küsten der windumtobten Nordsee und findet dort jede Menge Geschichten. Manche davon sind sogar wahr.
Von Matthias Hannemann
Die schönsten Treibgüter, die von einer Welle der Nordsee zur nächsten gereicht werden, sind die Geschichten ihrer Bewohner. Wie jene des Dänen Ole Christian Lund. Er lebte vor rund zweihundert Jahren in Skagen, ganz im Norden Dänemarks, wo Nordsee und Ostsee aufeinander treffen und die Touristen heute in zwei Meeren auf einmal zu stehen versuchen. Er war fürs Bäumepflanzen zuständig, um die sandige Gegend vor der Erosion zu schützen, eine Sisyphos-Arbeit.
Und so machte Lund eines Tages, als ein Schiff aus den sklavenfreundlichen Südstaaten vor Skagen verunglückte, einen beiläufigen Scherz: Einen Sklaven könne er hier in Dänemark auch mal gebrauchen, sagte Lund dem geretteten Kapitän des Schiffes, der bei ihm einquartiert wurde. Monate drauf traf per Schiff eine Frachtlieferung bei Lund ein - der dankbare Kapitän schickte einen Sklaven. Lund machte das Beste daraus, verzichtete sowohl auf die empfohlene Peitsche wie das Angebot, auch eine Sklaven-Frau zu bestellen, und gab dem unfreiwillig nach Dänemark gelangten Kerl bis ans Lebensende Arbeit und Lohn.
Was für eine Geschichte. Und angeblich sogar wahr. Aufgelesen hat sie der britische Journalist Tom Blass, dessen Reisereportage "The Naked Shore" aus dem Jahr 2016 jetzt in deutscher Übersetzung erscheint. Für dieses Buch ist er kreuz und quer über die Nordsee gereist. Wir besteigen mit ihm an der Humber-Mündung einen Frachter mit Kurs Göteborg, streifen von London aus die Themse entlang bis in Küstenorte, die glänzten und verblassten oder nie geglänzt haben. Wir suchen nach dem Charme von Ostende, betreten das Geisterdorf Doel am Hafen von Antwerpen. Die Dünen von Spurn Point und die Halligen vor Deutschland, die Reichen auf Sylt und die Fischer von Mersea, die Grenzen der Nordsee in Skagen und an den Shetlands - Blass hat all das gesehen, überall viel Kaffee getrunken und Tee, und stets kehrte er mit tollen Geschichten im Gepäck zurück.
Manche dieser Histörchen streichen vorbei, ohne dass man sie zu fassen bekämen. Auch über breiter Dargestelltes wie die Invasion Walcherens durch die Briten 1809, den "Bäder-Antisemitismus" im Deutschen Reich oder die Gründung der Mikronation "Sealand" auf einer Plattform vor Suffolk 1967 hätte man gern eine reflektiertere Darstellung gelesen. Der Autor gibt sich bei Kontext und ergänzenden Fakten oft vorschnell zufrieden, und die Reportageform lädt ebenfalls zur Verkürzung ein.
Wenn man die Plaudereien trotzdem zur Hand nehmen will, dann wegen der aufrichtigen Art, die den Autor auszeichnet. Er beschreibt die Nordsee-Region so, wie sie ist. Blass nennt die Hässlichkeit großer Teil der belgischen Küste ebenso beim Namen wie die "Disneyfizierung" Frieslands auf Amrum. Er denkt bei der Halbinsel Dengie mit ihren melancholischen Stränden auch an die Nähe des stillgelegten Kernkraftwerkes, beobachtet das "Getrampel der Tagestouristen" auf Helgoland im Sommer (um im Winter wiederzukommen), erwähnt den Gestank einer Fischmehlfabrik in Nordjütland, der einen im wahrsten Sinne des Wortes malerischen, durch die Skagen-Maler weltberühmt gewordenen Strand überweht. Dass Blass dem eigenwilligen Charme der Region verfallen ist, dem Charme des Unglamourösen, Windumtobten und Ernsten, steht dabei außer Frage.
Und auch dies spricht für sein Buch: In deutscher Übersetzung erschien 2017 der Band "Am Rand der Welt" von Michael Pye, der darin kurzweilig von der Geschichte der Nordsee erzählte, aber im siebzehnten Jahrhundert haltmachte. In den lockeren Reiseschilderungen von Tom Blass, der Anthropologie, Jura und Politische Geographie studierte, kommt die Entwicklung bis hin zur Gegenwart mit ihren niederländischen Reaktionen auf den Klimawandel, schottischen Hoffnungen auf Öl-Reichtum und Regionalkrimis in Deutschland zur Sprache. Das macht "Die Nordsee" trotz mancher, teils auch sprachlicher, Schwächen bis auf Weiteres zur willkommenen Ergänzung.
Tom Blass: "Die Nordsee". Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küste.
Aus dem Englischen von Tobias Rothenbücher.
Mare Verlag, Hamburg 2019. 352 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hässliches muss man auch hässlich nennen: Der englische Reporter Tom Blass erkundet die Küsten der windumtobten Nordsee und findet dort jede Menge Geschichten. Manche davon sind sogar wahr.
Von Matthias Hannemann
Die schönsten Treibgüter, die von einer Welle der Nordsee zur nächsten gereicht werden, sind die Geschichten ihrer Bewohner. Wie jene des Dänen Ole Christian Lund. Er lebte vor rund zweihundert Jahren in Skagen, ganz im Norden Dänemarks, wo Nordsee und Ostsee aufeinander treffen und die Touristen heute in zwei Meeren auf einmal zu stehen versuchen. Er war fürs Bäumepflanzen zuständig, um die sandige Gegend vor der Erosion zu schützen, eine Sisyphos-Arbeit.
Und so machte Lund eines Tages, als ein Schiff aus den sklavenfreundlichen Südstaaten vor Skagen verunglückte, einen beiläufigen Scherz: Einen Sklaven könne er hier in Dänemark auch mal gebrauchen, sagte Lund dem geretteten Kapitän des Schiffes, der bei ihm einquartiert wurde. Monate drauf traf per Schiff eine Frachtlieferung bei Lund ein - der dankbare Kapitän schickte einen Sklaven. Lund machte das Beste daraus, verzichtete sowohl auf die empfohlene Peitsche wie das Angebot, auch eine Sklaven-Frau zu bestellen, und gab dem unfreiwillig nach Dänemark gelangten Kerl bis ans Lebensende Arbeit und Lohn.
Was für eine Geschichte. Und angeblich sogar wahr. Aufgelesen hat sie der britische Journalist Tom Blass, dessen Reisereportage "The Naked Shore" aus dem Jahr 2016 jetzt in deutscher Übersetzung erscheint. Für dieses Buch ist er kreuz und quer über die Nordsee gereist. Wir besteigen mit ihm an der Humber-Mündung einen Frachter mit Kurs Göteborg, streifen von London aus die Themse entlang bis in Küstenorte, die glänzten und verblassten oder nie geglänzt haben. Wir suchen nach dem Charme von Ostende, betreten das Geisterdorf Doel am Hafen von Antwerpen. Die Dünen von Spurn Point und die Halligen vor Deutschland, die Reichen auf Sylt und die Fischer von Mersea, die Grenzen der Nordsee in Skagen und an den Shetlands - Blass hat all das gesehen, überall viel Kaffee getrunken und Tee, und stets kehrte er mit tollen Geschichten im Gepäck zurück.
Manche dieser Histörchen streichen vorbei, ohne dass man sie zu fassen bekämen. Auch über breiter Dargestelltes wie die Invasion Walcherens durch die Briten 1809, den "Bäder-Antisemitismus" im Deutschen Reich oder die Gründung der Mikronation "Sealand" auf einer Plattform vor Suffolk 1967 hätte man gern eine reflektiertere Darstellung gelesen. Der Autor gibt sich bei Kontext und ergänzenden Fakten oft vorschnell zufrieden, und die Reportageform lädt ebenfalls zur Verkürzung ein.
Wenn man die Plaudereien trotzdem zur Hand nehmen will, dann wegen der aufrichtigen Art, die den Autor auszeichnet. Er beschreibt die Nordsee-Region so, wie sie ist. Blass nennt die Hässlichkeit großer Teil der belgischen Küste ebenso beim Namen wie die "Disneyfizierung" Frieslands auf Amrum. Er denkt bei der Halbinsel Dengie mit ihren melancholischen Stränden auch an die Nähe des stillgelegten Kernkraftwerkes, beobachtet das "Getrampel der Tagestouristen" auf Helgoland im Sommer (um im Winter wiederzukommen), erwähnt den Gestank einer Fischmehlfabrik in Nordjütland, der einen im wahrsten Sinne des Wortes malerischen, durch die Skagen-Maler weltberühmt gewordenen Strand überweht. Dass Blass dem eigenwilligen Charme der Region verfallen ist, dem Charme des Unglamourösen, Windumtobten und Ernsten, steht dabei außer Frage.
Und auch dies spricht für sein Buch: In deutscher Übersetzung erschien 2017 der Band "Am Rand der Welt" von Michael Pye, der darin kurzweilig von der Geschichte der Nordsee erzählte, aber im siebzehnten Jahrhundert haltmachte. In den lockeren Reiseschilderungen von Tom Blass, der Anthropologie, Jura und Politische Geographie studierte, kommt die Entwicklung bis hin zur Gegenwart mit ihren niederländischen Reaktionen auf den Klimawandel, schottischen Hoffnungen auf Öl-Reichtum und Regionalkrimis in Deutschland zur Sprache. Das macht "Die Nordsee" trotz mancher, teils auch sprachlicher, Schwächen bis auf Weiteres zur willkommenen Ergänzung.
Tom Blass: "Die Nordsee". Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küste.
Aus dem Englischen von Tobias Rothenbücher.
Mare Verlag, Hamburg 2019. 352 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main