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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Felwine Sarr versucht sich an einem Roman
Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr hat sich in der europäischen Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren insbesondere durch seine Beteiligung an den Debatten um die Restitution geraubter Kulturgüter hervorgetan. Gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy verfasste Sarr einen vom französischen Präsidenten Macron in Auftrag gegebenen "Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter". Nun hat sich der auch dem deutschsprachigen Publikum als Verfasser eines visionär ausgreifenden, das Eigenrecht nicht westlicher Traditionen einklagenden Sachbuchs zur Zukunft des afrikanischen Kontinents bekannte Autor an die Überführung seines postkolonialen Interesses in einen Roman gewagt.
Sarr stützt sich dafür auf das literaturgeschichtlich nicht gerade selten beschriebene Motiv zweier ungleicher Brüder: Während Fodé sich für den Verbleib in seinem afrikanischen Heimatland entscheidet und einen großen Teil seines Alltags der Aufrechterhaltung ritueller Initiationsriten der heimischen Dorfgemeinschaft widmet, drängt es den gegenüber den lokalen Usancen skeptischen Bouhel zur Migration nach Frankreich, um dort ein Studium der Semiologie aufzunehmen. Fodé wurde in den letzten Jahren vor dem Tod des "Kumax" Ngof in das arkane Wissen des Beschneidungsritus eingeweiht und sieht sich nun mit der psychischen Last konfrontiert, die die Fortführung dieses Erbes bedeuten kann. Bouhel hingegen trifft im studentischen Milieu der Stadt Orléans auf die aus Warschau stammende Ulga, mit der sich eine anfangs intensive, zum Ende hin jedoch scheiternde Liebesbeziehung entwickelt.
Es ist das Verwandtschaftsverhältnis des Zwillingspaars, das dessen in äußerst kurzen Kapiteln geschilderte, nicht bloß geographisch, sondern kulturell disparate Lebensumstände miteinander verbinden soll. Dabei kommt jedoch der Beziehung der beiden eine für den Handlungsverlauf allenfalls marginale, über weite Strecken eher ausgeblendete und gegen Ende hin gänzlich konstruiert wirkende Rolle zu.
An diesem Kreuzungspunkt zum Ende seines Romans versucht Fodé, seinen zu Unrecht in französischer Untersuchungshaft sitzenden Bruder aus dieser misslichen Lage zu befreien. Dieser sitzt ein, weil er seine Freundin gegenüber ihrem gewalttätig gewordenen Bruder verteidigte, diesen dabei jedoch nicht nur verletzte, sondern umbrachte. Fodé rät der Freundin am Telefon, ein Samenkorn vor dem Gefängnis zu pflanzen, um damit auf die Freilassung seines Bruders hinzuwirken. Die junge Frau nimmt diese lokalafrikanischen Wissensbeständen entstammende Anweisung mit den Worten auf: "Meine wissenschaftliche Seite ließ Unerklärtes zu. Schließlich bildet das, was wir nicht wissen, den größten und fruchtbarsten Raum."
Die Stelle steht exemplarisch für das verspielte Potential, das die motivische Ausgangskonstellation des Buches an Widersprüchen und Spannungen hätte hervortreiben können, wenn die Handlungsstränge gekonnter miteinander verschränkt wären und die Sprache mit etwas anderem als kraft- und gestaltlosen, oftmals in parataktischer Einfachheit gehaltenen Registrier- und Vermerksätzen überzeugen könnte. Auch die Perspektivwechsel zwischen Fodé, Bouhel und ihren Frauen in den einzelnen Kapiteln erzeugen durch die Gleichförmigkeit des sprachlichen Ausdrucks eher Verwirrung aufseiten des Lesers als eine Vervielfältigung der dargebotenen Szenerie.
Angesprochen ist mit dieser Situation ebenfalls das für den Roman zentrale Thema der Spiritualität, das als weiterer Versuch gewertet werden kann, die Lebenswelten der beiden Brüder zu parallelisieren: Fodés Verantwortlichkeiten für die dörfliche Initiationszeremonie "Ndut", die ihm vom aus dem Jenseits zu ihm sprechenden Ngof übermittelt werden, auf der einen Seite, Bouhels Versuche, in der Begegnung mit einem Mönch im Kloster Entlastung vom Alltag zu finden, auf der anderen Seite. Für sich genommen fehlt beiden Erzählungen die Pointe, und so bleibt, wie so häufig in diesem Roman, am Ende die unbeantwortete Frage nach einheitsstiftendem Zusammenhang. TOBIAS SCHWEITZER
Felwine Sarr:
"Die Orte, an denen meine Träume
wohnen". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 192 S., geb., 24,- Euro.
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