Packend, dramatisch, zeitlos – "Die Perser" ist das älteste überlieferte Drama der Welt und hat bis heute nichts von seiner Dringlichkeit eingebüßt. König Xerxes zieht mit seinem Heer gegen die Griechen ins Feld, um den Tod seines Vaters Darius zu rächen. Doch der wachsame Chor im Hintergrund zweifelt an seinen Aussichten. Xerxes Mutter wird von Alpträumen geplagt und die persischen Provinzen weigern sich, weiter ihren Tribut zu zahlen. Überraschend modern und schonungslos fragt Aischylos hier nach dem Nutzen des Krieges und wägt dabei zwischen den Ambitionen eines Königs und der Trauer einer hinterbliebenen Witwe ab.-
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2001Grausam lernen wir neu, was wir sind
Durs Grünbeins grandiose Übertragung der "Perser" des Aischylos · Von Kurt Flasch
Grünbein gibt uns die älteste vollständig erhaltene europäische Tragödie in ihrer jüngsten Form. Aischylos hat selbst dreimal am Krieg gegen die Perser teilgenommen. Der Tod fürs Vaterland ist nach einem Spruch des Erasmus nur denjenigen süß, die den Krieg nicht am eigenen Leib erfahren haben. Vor dieser Gefahr war der Tragödiendichter gefeit. Aischylos gehörte 480 vor Christus auf die Seite der Sieger; das weit überlegene Perserheer wurde vernichtet, Athen von einem ungeheuren Druck befreit - für wenige Jahrzehnte, bis es sich im Peloponnesischen Krieg um seinen Vorrang brachte.
Der welthistorische Gegensatz zwischen Asien und Europa liegt seitdem als Thema für Historiker, Philosophen, Dichter und Politiker bereit. Aischylos versucht, die Niederlage aus der Sicht der Perser zu sehen. Er spart nicht an indirektem Lob für die Griechen; aber ein Triumphgeheul stimmt er nicht an. Er kennt den Krieg. Grünbein, Jahrgang 1962 und immer noch der jüngste Büchner-Preisträger, kennt ihn nicht aus eigener Erfahrung, aber die Rückseite des Suhrkamp-Bändchens zeigt ihn als einfachen Soldaten der Volksarmee. Der Lehrling im Handwerk des Tötens blickt traurig und klar in die ungeheuren Kriegsvorbereitungen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er fragt "Wo, um Himmels willen, liegt dieses Athen?" Er hätte auch fragen können: "Wer, um Himmels willen, sind denn die Perser?" Wer war, wer ist so dumm, sich die eigene Niederlage zu schaffen?
Der konzentrierte kleine Text - etwa 47 großzügig bedruckte Seiten - gibt viel, sehr viel zu denken. Er lehrt, was Übermut und was Krieg ist. Er zeigt, was eine Tragödie und was "tragisch" ist. Vielleicht belehrt er nicht historisch über die "Perser"; sein Thema ist ernster. Er beschreibt den tragischen Charakter eines Volkes, das sich von der Vorsehung zu Krieg und Eroberung bestimmt sieht.
Grünbein betont in seinem kleinen Essay, den er - merkwürdigerweise - unter den Titel "Materialien" stellt: Die "Perser" sind kein Anti-Kriegs-Stück; dazu war "Krieg" in der antiken Lebenswirklichkeit zu präsent, zu unvermeidlich. Augustinus hielt jeden für einen Phantasten, der glaubte, die Erde könne je ein Boden des Friedens werden. Der Krieg - das ist in dieser Tragödie die Folge von Götterstreitigkeit, von dämonischer Verblendung, von Kurzsichtigkeit der Sterblichen. Die "Perser" des Aischylos sind eine Schlachtbeschreibung als politische Theologie; sie sind kein pazifistisches Dokument. Aber sie beschreiben die militärischen Folgen von Übermut und Verblendung mit einer Intensität, daß man danach ein wenig besser weiß, was das Wort "Krieg" bedeutete, gewiß in einer vergangenen Welt, als die Kriege noch nicht Völkervernichtungsveranstaltungen waren.
Der Aufbau dieser Tragödie ist denkbar einfach. Sie bringt nichts als die stufenweise Enthüllung dessen, was geschehen ist: die Niederlage der Perser. Die furchtbare Realität enthüllt sich, Zug um Zug. Ihre religiösen, politischen und moralischen Gründe werden zunehmend deutlich, in klassisch-klarer Abstufung: Zuerst spricht der Chor; er, das politische, ethische und religiöse Gewissen der Perser, ahnt den Zusammenbruch, er beklagt die Sorglosigkeit und das Nichtbeachten warnender Zeichen. Dann tritt Atossa auf, die Mutter des Königs Xerxes. Als die Frau des Vaters von Xerxes, Dareios, erinnert sie an ein glücklicheres Land, das stärker, weil umsichtiger und verhaltener war.
Chor und Königsmutter ahnen das Schlimmste, wissen es aber noch nicht. Doch dann trifft der Bote ein; er nennt Einzelheiten der Niederlage von Salamis, 480 vor Christus. Der Geist des Dareios erinnert noch einmal an die moralisch-politischen Konzepte der älteren, fast möchte man sagen: der "vorwilhelminischen" Zeit. Zuletzt bezeugt der zerlumpte Kriegsflüchtling Xerxes die Furchtbarkeit der Schlacht. Nach dem fünften Enthüllungsschritt ist klar: Götter haben vernichtende Spiele inszeniert; Dämonen haben die politischen Führer verblendet, das Volk ist auf sie hereingefallen. Ereignisse herrschen über Menschen, nicht Menschen über die Ereignisse.
Es ist ein tristes, ein tragisches Buch. Es wäre unerträglich, hätten ihm nicht Aischylos zuerst und nun Grünbein zuletzt eine Sprachform gegeben, die tröstet, gerade auch indem sie Schleier wegzieht. Grünbein teilt uns leider nicht mit, auf Grund welches Textes er übersetzt hat; er redet auch nicht von seinen Vorgängern als Übersetzern des Aischylos; es sind viele, von Droysen zu Lion Feuchtwanger.
Grünbein, der letzte in der Reihe, bringt den großen Text noch einmal mächtig zum Klingen: Ohne beflissene Aktualisierung, ohne "modernen" Jargon evoziert er Wahrheit der Poesie. Das Dichterische in diesem schmalen Bändchen ist die Kunst der warnenden Klage. Sie schlägt sich nicht moralisierend auf eine der beiden Seiten. Grünbein zwingt dem antiken Text keine Reimform auf, aber er übersetzt glücklich in rhythmischer Form, die nichts Gesuchtes hat. Das klingt so:
"Ja, von alters her hat Moira, das Schicksal, / Das letzte Wort. Den Persern befahl es, / Kriege zu führen, sooft es geht, fremde Türme / Niederzureißen. Und Schlachtroßgetümmel. / Und die Zerstörung der Städte."
Ich frage nicht noch einmal: Wer, um Himmels willen, sind die Perser? Es genügt zu zeigen: Diese Übertragung ist weder populistisch noch hermetisch verschlossen. Grünbein erklärt wie nebenbei noch den Ausdruck "Moira", ohne lehrerhaften Gestus, ohne didaktisches Gerassel. Das ist hohe Kunst, wie wir sie von Heiner Müller, vor allem von dessen Sophokles-Arbeiten, kennen und von - Durs Grünbein. Das ist ein bewunderungswürdiger, ein schwer nachzuahmender Umgang mit alten Texten. Er läßt den antiken Chor in klassisch-gefaßter Diktion, in diskreter Anlehnung an die Sprache der Goethezeit, also auch an Hölderlin, seine Unglücksahnungen aussprechen. Er hascht nicht nach Gegenwartseffekten und erinnert doch an Warschau, an Coventry und Dresden, ohne sie zu nennen. Heiner Müller hatte "dem Westen" vorgeworfen, er habe "für die tragische Dimension der Geschichte" "keinen Blick, nur den sentimentalen": Nun, Grünbein hat den Blick fürs Tragische.
Studierte Kenner des Griechischen werden wohl dennoch an einigen Stellen zusammenzucken. Und zarte Anhänger der stillen Einfalt werden ihre Ohren verstopfen, wenn der (griechische, versteht sich) Westen aus der Sicht des Ostens wie folgt beschrieben wird: "Diese Rasse, die aus dem Goldregen kommt." Oder wenn der Chor, den die Unglücksbotschaft noch nicht erreicht hat, siegessicher im Deutsch einer Nazi-Kohorte tönt: "Und morgen gehört uns Griechenland." Ossi-Unmut klingt an in klassizistischer Mimikry, wenn der Chor besorgt in die Zukunft blickt: "Denen, die nichts besitzen, leuchtet der Glanz der Begüterten bald nicht mehr ein." Taktschläger des langsamen Geistes werden die Stirn runzeln.
Bei Grünbein spricht die älteste Tragödie unserer Literatur vom Scheitern der "großen Armee", von "Flottenkommandeuren" und, ganz unverhüllt, vom "Führer". Auf dessen "Kommando hört die Streitmacht"; er wird überrascht vom frühen Einbruch des Winters. In diesem Moment erscheint der Geist des Dareios, also des Vaters von Xerxes, der den Krieg verloren hat, und fragt: "Wer von den Jungs hat den Feldzug geführt?" Es ist schlicht Kunst, mit der Grünbein die Landessprache virtuos integriert: "wir im Dreck", "gebrochen das Rückgrat". Der geschlagene König in zerrissener Uniform, dem Untergang knapp entkommen, blickt auf die Reste seiner Armee und wünscht sich den Tod: "Ein Haufen alter Männer. Pah, Zeus, kurzen Prozeß mit mir / Hättest du machen sollen. Längst wie die anderen wär ich / krepiert."
Der Krieg gegen Griechenland ist bei Aischylos Folge der Hybris und der Verblendung. Sterbliche haben vergessen, was sie sind. Sie müssen es grausam neu lernen. Keinen dieser original-antiken Töne hat Grünbein verschenkt: Der Untergang Persiens ist selbstverschuldet und zugleich die Folge höherer, göttlicher Koalitionen. Die Götter rächen den Hochmut: "Ares schlug sich auf ihre Seite."
Grünbein respektiert den monumentalen Ernst der alten Mythologie von Götterkampf und Hybris. Das ist das Erstaunliche: Es gibt in Durs Grünbeins Übertragung keine Zeile, die nicht große Tragödie wäre. Er hält deren hohen Ton auch dann, wenn er Soldatenjargon und Politikerpalaver augenblicksweise einblendet. Sein Text ist von einer Gegenwärtigkeit, die der immer noch kriegsgeplagten Gegenwart das Befremdliche läßt, er ist von einer Klassizität, die nichts Museales hat. Dies ist ein bewunderungswürdiges Werk, das an die Übertragungen Hölderlins, Goethes und Schillers erinnert. Wir werden, so ist zu hoffen, diese "Perser" bald wieder auf einer Bühne sehen. Dann werden wir den Anblick eines erneuerten Klassikers ganz rein genießen. Denn jetzt stören noch einige unverzeihliche Druckfehler im poetischen Text, aber auch einige windige Assoziationen und ein nachgeholter Anti-Stalinismus im Nachwort von Durs Grünbein. Das aber sind nur Kleinigkeiten, die der grandiosen Übertragung dieses Dichters nichts anhaben können. Ich bewundere ihn. Wer über ihn nachdenkt, dem ist das Wort eines anderen Griechen in Erinnerung zu rufen: Aristoteles, in einem erleuchteten Augenblick, sagte über den von ihm scharf kritisierten Platon, mittelmäßige Leute dürften noch nicht einmal loben.
Aischylos: "Die Perser". Wiedergegeben von Durs Grünbein. Stück und Materialien. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 65 S., br., 14,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Durs Grünbeins grandiose Übertragung der "Perser" des Aischylos · Von Kurt Flasch
Grünbein gibt uns die älteste vollständig erhaltene europäische Tragödie in ihrer jüngsten Form. Aischylos hat selbst dreimal am Krieg gegen die Perser teilgenommen. Der Tod fürs Vaterland ist nach einem Spruch des Erasmus nur denjenigen süß, die den Krieg nicht am eigenen Leib erfahren haben. Vor dieser Gefahr war der Tragödiendichter gefeit. Aischylos gehörte 480 vor Christus auf die Seite der Sieger; das weit überlegene Perserheer wurde vernichtet, Athen von einem ungeheuren Druck befreit - für wenige Jahrzehnte, bis es sich im Peloponnesischen Krieg um seinen Vorrang brachte.
Der welthistorische Gegensatz zwischen Asien und Europa liegt seitdem als Thema für Historiker, Philosophen, Dichter und Politiker bereit. Aischylos versucht, die Niederlage aus der Sicht der Perser zu sehen. Er spart nicht an indirektem Lob für die Griechen; aber ein Triumphgeheul stimmt er nicht an. Er kennt den Krieg. Grünbein, Jahrgang 1962 und immer noch der jüngste Büchner-Preisträger, kennt ihn nicht aus eigener Erfahrung, aber die Rückseite des Suhrkamp-Bändchens zeigt ihn als einfachen Soldaten der Volksarmee. Der Lehrling im Handwerk des Tötens blickt traurig und klar in die ungeheuren Kriegsvorbereitungen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er fragt "Wo, um Himmels willen, liegt dieses Athen?" Er hätte auch fragen können: "Wer, um Himmels willen, sind denn die Perser?" Wer war, wer ist so dumm, sich die eigene Niederlage zu schaffen?
Der konzentrierte kleine Text - etwa 47 großzügig bedruckte Seiten - gibt viel, sehr viel zu denken. Er lehrt, was Übermut und was Krieg ist. Er zeigt, was eine Tragödie und was "tragisch" ist. Vielleicht belehrt er nicht historisch über die "Perser"; sein Thema ist ernster. Er beschreibt den tragischen Charakter eines Volkes, das sich von der Vorsehung zu Krieg und Eroberung bestimmt sieht.
Grünbein betont in seinem kleinen Essay, den er - merkwürdigerweise - unter den Titel "Materialien" stellt: Die "Perser" sind kein Anti-Kriegs-Stück; dazu war "Krieg" in der antiken Lebenswirklichkeit zu präsent, zu unvermeidlich. Augustinus hielt jeden für einen Phantasten, der glaubte, die Erde könne je ein Boden des Friedens werden. Der Krieg - das ist in dieser Tragödie die Folge von Götterstreitigkeit, von dämonischer Verblendung, von Kurzsichtigkeit der Sterblichen. Die "Perser" des Aischylos sind eine Schlachtbeschreibung als politische Theologie; sie sind kein pazifistisches Dokument. Aber sie beschreiben die militärischen Folgen von Übermut und Verblendung mit einer Intensität, daß man danach ein wenig besser weiß, was das Wort "Krieg" bedeutete, gewiß in einer vergangenen Welt, als die Kriege noch nicht Völkervernichtungsveranstaltungen waren.
Der Aufbau dieser Tragödie ist denkbar einfach. Sie bringt nichts als die stufenweise Enthüllung dessen, was geschehen ist: die Niederlage der Perser. Die furchtbare Realität enthüllt sich, Zug um Zug. Ihre religiösen, politischen und moralischen Gründe werden zunehmend deutlich, in klassisch-klarer Abstufung: Zuerst spricht der Chor; er, das politische, ethische und religiöse Gewissen der Perser, ahnt den Zusammenbruch, er beklagt die Sorglosigkeit und das Nichtbeachten warnender Zeichen. Dann tritt Atossa auf, die Mutter des Königs Xerxes. Als die Frau des Vaters von Xerxes, Dareios, erinnert sie an ein glücklicheres Land, das stärker, weil umsichtiger und verhaltener war.
Chor und Königsmutter ahnen das Schlimmste, wissen es aber noch nicht. Doch dann trifft der Bote ein; er nennt Einzelheiten der Niederlage von Salamis, 480 vor Christus. Der Geist des Dareios erinnert noch einmal an die moralisch-politischen Konzepte der älteren, fast möchte man sagen: der "vorwilhelminischen" Zeit. Zuletzt bezeugt der zerlumpte Kriegsflüchtling Xerxes die Furchtbarkeit der Schlacht. Nach dem fünften Enthüllungsschritt ist klar: Götter haben vernichtende Spiele inszeniert; Dämonen haben die politischen Führer verblendet, das Volk ist auf sie hereingefallen. Ereignisse herrschen über Menschen, nicht Menschen über die Ereignisse.
Es ist ein tristes, ein tragisches Buch. Es wäre unerträglich, hätten ihm nicht Aischylos zuerst und nun Grünbein zuletzt eine Sprachform gegeben, die tröstet, gerade auch indem sie Schleier wegzieht. Grünbein teilt uns leider nicht mit, auf Grund welches Textes er übersetzt hat; er redet auch nicht von seinen Vorgängern als Übersetzern des Aischylos; es sind viele, von Droysen zu Lion Feuchtwanger.
Grünbein, der letzte in der Reihe, bringt den großen Text noch einmal mächtig zum Klingen: Ohne beflissene Aktualisierung, ohne "modernen" Jargon evoziert er Wahrheit der Poesie. Das Dichterische in diesem schmalen Bändchen ist die Kunst der warnenden Klage. Sie schlägt sich nicht moralisierend auf eine der beiden Seiten. Grünbein zwingt dem antiken Text keine Reimform auf, aber er übersetzt glücklich in rhythmischer Form, die nichts Gesuchtes hat. Das klingt so:
"Ja, von alters her hat Moira, das Schicksal, / Das letzte Wort. Den Persern befahl es, / Kriege zu führen, sooft es geht, fremde Türme / Niederzureißen. Und Schlachtroßgetümmel. / Und die Zerstörung der Städte."
Ich frage nicht noch einmal: Wer, um Himmels willen, sind die Perser? Es genügt zu zeigen: Diese Übertragung ist weder populistisch noch hermetisch verschlossen. Grünbein erklärt wie nebenbei noch den Ausdruck "Moira", ohne lehrerhaften Gestus, ohne didaktisches Gerassel. Das ist hohe Kunst, wie wir sie von Heiner Müller, vor allem von dessen Sophokles-Arbeiten, kennen und von - Durs Grünbein. Das ist ein bewunderungswürdiger, ein schwer nachzuahmender Umgang mit alten Texten. Er läßt den antiken Chor in klassisch-gefaßter Diktion, in diskreter Anlehnung an die Sprache der Goethezeit, also auch an Hölderlin, seine Unglücksahnungen aussprechen. Er hascht nicht nach Gegenwartseffekten und erinnert doch an Warschau, an Coventry und Dresden, ohne sie zu nennen. Heiner Müller hatte "dem Westen" vorgeworfen, er habe "für die tragische Dimension der Geschichte" "keinen Blick, nur den sentimentalen": Nun, Grünbein hat den Blick fürs Tragische.
Studierte Kenner des Griechischen werden wohl dennoch an einigen Stellen zusammenzucken. Und zarte Anhänger der stillen Einfalt werden ihre Ohren verstopfen, wenn der (griechische, versteht sich) Westen aus der Sicht des Ostens wie folgt beschrieben wird: "Diese Rasse, die aus dem Goldregen kommt." Oder wenn der Chor, den die Unglücksbotschaft noch nicht erreicht hat, siegessicher im Deutsch einer Nazi-Kohorte tönt: "Und morgen gehört uns Griechenland." Ossi-Unmut klingt an in klassizistischer Mimikry, wenn der Chor besorgt in die Zukunft blickt: "Denen, die nichts besitzen, leuchtet der Glanz der Begüterten bald nicht mehr ein." Taktschläger des langsamen Geistes werden die Stirn runzeln.
Bei Grünbein spricht die älteste Tragödie unserer Literatur vom Scheitern der "großen Armee", von "Flottenkommandeuren" und, ganz unverhüllt, vom "Führer". Auf dessen "Kommando hört die Streitmacht"; er wird überrascht vom frühen Einbruch des Winters. In diesem Moment erscheint der Geist des Dareios, also des Vaters von Xerxes, der den Krieg verloren hat, und fragt: "Wer von den Jungs hat den Feldzug geführt?" Es ist schlicht Kunst, mit der Grünbein die Landessprache virtuos integriert: "wir im Dreck", "gebrochen das Rückgrat". Der geschlagene König in zerrissener Uniform, dem Untergang knapp entkommen, blickt auf die Reste seiner Armee und wünscht sich den Tod: "Ein Haufen alter Männer. Pah, Zeus, kurzen Prozeß mit mir / Hättest du machen sollen. Längst wie die anderen wär ich / krepiert."
Der Krieg gegen Griechenland ist bei Aischylos Folge der Hybris und der Verblendung. Sterbliche haben vergessen, was sie sind. Sie müssen es grausam neu lernen. Keinen dieser original-antiken Töne hat Grünbein verschenkt: Der Untergang Persiens ist selbstverschuldet und zugleich die Folge höherer, göttlicher Koalitionen. Die Götter rächen den Hochmut: "Ares schlug sich auf ihre Seite."
Grünbein respektiert den monumentalen Ernst der alten Mythologie von Götterkampf und Hybris. Das ist das Erstaunliche: Es gibt in Durs Grünbeins Übertragung keine Zeile, die nicht große Tragödie wäre. Er hält deren hohen Ton auch dann, wenn er Soldatenjargon und Politikerpalaver augenblicksweise einblendet. Sein Text ist von einer Gegenwärtigkeit, die der immer noch kriegsgeplagten Gegenwart das Befremdliche läßt, er ist von einer Klassizität, die nichts Museales hat. Dies ist ein bewunderungswürdiges Werk, das an die Übertragungen Hölderlins, Goethes und Schillers erinnert. Wir werden, so ist zu hoffen, diese "Perser" bald wieder auf einer Bühne sehen. Dann werden wir den Anblick eines erneuerten Klassikers ganz rein genießen. Denn jetzt stören noch einige unverzeihliche Druckfehler im poetischen Text, aber auch einige windige Assoziationen und ein nachgeholter Anti-Stalinismus im Nachwort von Durs Grünbein. Das aber sind nur Kleinigkeiten, die der grandiosen Übertragung dieses Dichters nichts anhaben können. Ich bewundere ihn. Wer über ihn nachdenkt, dem ist das Wort eines anderen Griechen in Erinnerung zu rufen: Aristoteles, in einem erleuchteten Augenblick, sagte über den von ihm scharf kritisierten Platon, mittelmäßige Leute dürften noch nicht einmal loben.
Aischylos: "Die Perser". Wiedergegeben von Durs Grünbein. Stück und Materialien. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 65 S., br., 14,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein "bewunderungswürdiges Werk", ruft niederknieend Rezensent Kurt Flasch, das ihn an die Übertragungen Hölderlins, Goethes und Schillers erinnerte. Keine Zeile, die nicht "große Tragödie" sei: den hohen Ton halte Grünbein auch dann, wenn er "Soldatenjargon und Politikerpalaver" einblende. Grünbeins Übertragung fand Flasch "weder populistisch noch hermetisch", sie erkläre manches "wie nebenbei" und ohne "didaktisches Gerassel". Und natürlich "kein Haschen nach Gegenwartseffekten", aber im Ton doch an die Schrecken gegenwärtigerer Kriege als der Perserkriege erinnernd. Das erinnert den hingerissenen Rezensenten dann wiederum an Heiner Müller, von dessen Fluch, der Westen habe keinen Blick "für die tragischen Dimensionen der Geschichte" er die Westler durch Grünbein nun endlich erlöst sieht. Studierte Kenner des Griechischen, räumt Flasch allerdings ein, "werden wohl an manchen Stellen zusammenzucken". Zarte Anhänger der "stillen Einfalt" gar "ihre Ohren verstopfen". Selber zusammengezuckt und aus dem Hymnentaumel gerissen wurde Kurt Flasch durch einige "unverzeihliche Druckfehler". Aber auch von ein paar "windigen Assoziationen" Grünbeins im Nachwort sowie dessen dort nachgeholtem "Anti-Stalinismus". Merkwürdig findet der Rezensent auch, dass Grünbein diesen Text unter den Titel "Materialien" gestellt habe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dies ist ein bewundernswürdigendes Werk, das an die Übertragungen Hölderlins, Goethes und Schillers erinnert.« Kurt Flasch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20010728