Die erste Fassung dieses Buches wurde 1994 in einer italienischen Übersetzung unter dem Titel La prospettiva della morale im Verlag Armando in Rom veröffentlicht. Im Jahre 2000 folgte eine erweiterte Version in spanischer Übersetzung (La perspectiva de la moral) im Verlag Rialp, Madrid. Schließlich ist nun auch die Zeit gekommen, das deutsche Original zu veröffentlichen, allerdings in einer wiederum erheblich erweiterten und aktualisierten Version. Abgesehen von einigen substantiellen inhaltlichen Zusätzen versuche ich hier nun auch auf Kritik an einigen meiner Ansichten und Positionen zu antworten, wie ich sie in der ersten, im deutschen Sprachraum kaum rezipierten Version dieses Buches wie auch in anderen Arbeiten vertreten habe. Dies betrifft vor allem die Studie "Natur als Grundlage der Moral" (Tyrolia, Innsbruck 1987, in einer englischen Übersetzung unter dem Titel Natural Law and Practical Reason: A Thomist View of Moral Autonomy bei Fordham University Press, New York 2000 erschienen) und die breit angelegten Untersuchungen zur ethischen Handlungstheorie bei Aristoteles und Thomas von Aquin, die 1994 unter dem Titel "Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis" ebenfalls im Berliner Akademie Verlag erschienen sind.
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Arbeit am Glück: Martin Rhonheimer will wissen, warum der Mensch den Arm hebt, und empfiehlt ein Kehren vor der eigenen Tür
Philosophische Ethik findet seit Beginn der Neuzeit unter massiven Vorbehalten des Zweifels an ihrer Möglichkeit statt. Der Zweifel betrifft - bei Descartes - ihre Prinzipien, die offenbar über eine geringere "Evidenz" verfügen als diejenigen theoretischen Wissens. Er behauptet - bei Hume -, daß es jedenfalls nicht die Vernunft sei, die über "gut" und "schlecht" urteilt, sondern das Gefühl. Er spricht - bei Kant - davon, daß es kein einziges zwingendes Beispiel für eine moralische Handlung, eine Handlung aus Pflicht gebe, die eigenen sämtlich nicht ausgenommen.
Was als gut erscheint, muß es nicht sein, Handlungen aber sind empirische Erscheinungen und deshalb im letzten nicht transparent. Wollen wir dennoch rational Ethik betreiben, sagt Kant, so darf es sich nicht um eine Theorie über konkrete Handlungen handeln, denn diese gehen nur das Recht und allenfalls das Gewissen des jeweils Handelnden etwas an. Die Ethik kann vielmehr nur eine Theorie über subjektive Grundsätze, über Maximen zu Handlungen und ihre Tauglichkeit zur Handlungsdetermination sein, sie ist in diesem Sinne "Normentheorie". Ihrer Freiheit bewußte Vernunft "normiert" sich hier selbst auf Bedingungen ihrer Selbsterhaltung in möglicher Praxis hin, sie bindet sich selbst an "Gesetze der Freiheit". Andere dergleichen Gesetze - Gesetze des Herzens und der Affekte, Regeln der Klugheit und des zu erwartenden Nutzens - reden nicht von Moral, sondern von etwas anderem. Welche Handlungen im moralischen Sinne "gut" wären, bestimmen sie nicht.
Kant bezeichnet den denkbar schärfsten Widerpart gegen alle Ethiken, welche die Moralität von Handlungen an das Erreichen eines außerhalb des Handelnden selbst liegenden Guten knüpfen. Aus seiner Warte unterscheiden sich beispielsweise antike Strebensethik und neuzeitlicher Utilitarismus insoweit nicht, als sie beide über "Ziele" reflektiert sind, die wesentlich praxistranszendent sein sollen. Ob das Ziel ein ontologisch oder nur ein empirisch Gutes "da draußen" meint, tut wenig zur Sache. Denn beide verfallen in ihrem "Gutsein" in jedem Fall der Skepsis, die Kant in die ethische Reflexion schon aufgenommen hat: das ontologisch Gute der Kritik aller Metaphysik, in der Kant zu sich selbst fand, das Empirische des empirisch nicht zu schlichtenden Streit empirischer Meinungen, der das konstruktive Ergebnis aus jener Kritik noch erst vor sich hat. Bekanntlich jedoch hat Kants Verwahrung wenig gegen die fortgesetzte Blüte insbesondere utilitaristischen, "konsequentialistischen" und "teleologischen" Denkens in der Ethik vermocht. Ja, das ausgehende zwanzigste Jahrhundert hat zudem die "Wiederkehr der Tugend" und des konkreten Gemeinschaftsethos als ethischen Richtwert erlebt. Mit pragmatischem, mitunter auch relativistischem Einschlag knüpfen angelsächsische Vertreter der neueren "virtue ethics" dafür bei Hegel, aber auch bei Aristoteles an, dessen Polis in den "Kommunitäten", die sich gegen die Nivellierung durch die egalitär-anonyme Gesellschaft sperren, aufersteht. In seinem neuen Buch zur Moralphilosophie, das die Tugend als ethischen Leitbegriff empfiehlt, geht Martin Rhonheimer auf Aristoteles und seinen großen mittelalterlichen Adepten, auf Thomas von Aquin, zurück, an deren ungebrochener Aktualität bei aller scheinbaren Anachronie er keinen Zweifel läßt - und das auch ohne Anleihen bei den Kommunitaristen.
Im Zentrum der Tugendethik steht statt des moralisch oder auf seinen Nutzen reflektierenden Subjekts das leibhaftige Individuum, um dessen individuell bestes Sein es geht. Tugend im aristotelischen Sinne steht dabei für Fülle und "Willenssättigung", wie Rhonheimer sagt, nicht primär für den heroischen Kampf mit "widerstrebenden Neigungen" (Kant). Tugendhaft sein heißt nicht, sich möglichst vieles zu versagen, sondern möglichst viele wahre Güter der eigenen sittlichen Identität integrieren zu lassen. Die Frage nach der Tugend ist die nach dem "guten Leben", das nicht nur "glückswürdig", sondern effektiv glücklich geführt wird.
Das Glück wiederum ist Ausfluß von durch Tugend vernünftig geordneter Handlungen; es ist nicht selbst ein Handlungsziel, sondern das, was sich mit dem Erreichen des jeweils Guten im Erlöschen weiteren Strebens einstellt. Rhonheimer plaziert die nähere Tugendlehre zwischen eine recht subtile Handlungstheorie und eine abschließende Prinzipienlehre, er beginnt mit den konkreten Selbsterfahrungen des Handelns und führt im Aufstieg über die bestimmten "Handlungskontexte", die die Tugend im einzelnen öffnet, auf die abschließende "Intelligibilität des konkret Guten". Auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird, ist leicht zu sehen, daß die Systematik hier wie in manchen anderen Details dem Aufriß der "Prima secundae" der Summa theologiae des Aquinaten folgt, der die aristotelische Ethik nicht zuletzt um die Prinzipienlehre - die Lehre vom "ewigen" und vom "natürlichen Gesetz" etwa - erweitert hat.
Eine der Pointen, auf die Rhonheimer hinauswill, lautet, daß diesem Aufriß gemäß die Ethik im ganzen in der "Perspektive der ersten Person", nicht in einer Außenansicht handelnder Subjekte entwickelt wird. Der Ethiker partizipiert an dem, worüber er schreibt, und hätte es andernfalls nur mit Naturvorgängen zu tun, er weiß um die Intentionalität von Handlungen, um Wahlfreiheit und Gewissen nicht als Beobachter, sondern aus eigener Praxis. Er weiß so zum Beispiel, daß schon die "intentionalen Basishandlungen" wie das Heben eines Armes nicht in diesem physischen Vorgang selbst aufgehen, sondern auf ein "Wozu" (zum Beispiel ein Zeigen) gerichtet sind, das keine physische Tatsache ist. Aber er weiß auch, daß am anderen Ende die Prinzipien keine abstrakten "Normen" sind, mit denen "über" Handlungen und Handlungsklassen gesprochen wird, sondern daß es sich hier um reflexive Letztverständigung ethischer Praxis über sich selbst und ihre Richtung aufs Gute hin handelt.
Mehr als eine Naturtatsache ist dann freilich auch, daß Handlungen überhaupt und mit Konstanz diese Richtung erhalten, daß sie "strebensrichtig" sind. Sie sind dies kraft kognitiver Leitung durch praktische Vernunft, die nicht nur die adäquaten Mittel in Gestalt von "Basishandlungen" wählt, sondern auch die konkreten Strebensobjekte formt und dabei das "wahre Gute" vom nur scheinbaren zu scheiden vermag. Tugend, die man als lebenspraktisch inkarnierte Vernunft verstehen kann, läßt das wahre Gute auch als solches erscheinen, sie bewahrt vor dem Mißgriff und tut dies vor allem dadurch, daß sie eine "affektive Konnaturalität mit dem Guten" erzeugt. Die sinnlichen Strebungen, denen sich nach Thomas die Tugend "wie ein Siegel einprägt", sekundieren die Wahl der Vernunft, und dies in steigendem Maße, da Tugendpraxis eine kontinuierliche Angleichung des Handelnden an sein Strebensziel einschließt: "Handeln heißt immer auch jemand werden", bedeutet "etwas mit uns selbst tun" - Rhonheimer ist damit, seine ontologischen Prämissen abgezogen, näher bei Kant und insbesondere bei Fichte, als ihm selbst vielleicht scheint.
Daß Habitualisierung, die die nichtreflexiven Persönlichkeitsschichten umfaßt, hier nicht einfach "Konditionierung" heißt, macht Rhonheimer nicht zuletzt daran klar, daß Tugenden nicht von der Wahl entlasten, sondern im Gegenteil die Disposition zur vernunftgemäßen Wahl unter immer neuen Umständen meinen; in ähnlichem Sinne meint die berühmte Mitte, welche die Tugend trifft, nicht das "Mittelmaß", sondern das immer individuelle "Angemessene". Nach ihrem eigensten Verständnis leitet die Tugendethik so zum Erwerb praktischer Konsequenzen durch Praxis an, nicht zum Besitz von Regelwerken und Kasuistik. Die recht verstandene "Klugheit", in der Rhonheimer diese Kompetenzen zusammenlaufen läßt, ist in gewisser Weise nichts anderes als das Vermögen, sittliche Identität bei maximaler Falloffenheit in Kraft von Vernunft wahren zu können.
Allerdings - und in dieser Hinsicht erweist sich vor allem die Prinzipienlehre als wichtig - stößt die Tugendethik doch auch zu obersten Ordnungsaspekten und absoluten Handlungsverboten vor. Hiroshima, eines der Beispiele Rhonheimers, gehört zu den Konsequentialisten: Eine Gerechtigkeit, die aus dem intendierten Tod möglichst vieler Zivilisten, also aus einem ungerechten Mittel kommt, hat sich in der Tugendethik, die eine Mittel-Ziel-Kongruenz fordert, schon selbst zerstört. Hiroshima ist die Folge einer Reflexion auf Weltzustände, die die "Perspektive der Moral", die bei mir selbst anfängt, schon ausgeblendet hat. Der beste Weltzustand aber, sagt Rhonheimer, ist der, in dem wir uns nicht aus Weltzuständen, sondern aus Tugend motivieren. Die Tür zu diesem Zustand ist immer die eigene, vor der zuerst zu kehren wäre.
Rhonheimer wirbt für ein ethisches Konzept, das er in ausgesprochen durchdachter und in jedem Fall informativer Form vorträgt, das er, ohne in Anbiederung zu verfallen, mit aktuellen Diskussionen vermittelt und für das Sympathie zu wecken ihm zweifelsohne gelingt. Nicht immer ganz glücklich fallen die Abgrenzungen gegen Kant aus, so, wenn das Projekt der "Kritik der reinen Vernunft", ohne das auch Kants Ethik zuletzt nicht verständlich ist, in einer einzigen Fußnote als im Ansatz verfehlt abgetan wird oder wenn Kant, da er eine der "Glückswürdigkeit" korrespondierende "Gückseligkeit" als inneren Abschlußgedanken von Moralität postuliert, des "Hedonismus" geziehen wird. Dem Leser wäre hier mit begründetem Aufschluß darüber, weshalb der Verfasser seine eigene "Handlungsmetaphysik", seine Ontologie des Guten wie auch seine realistische Erkenntnislehre für gegen die diesbezügliche neuzeitliche Skepsis resistent hält, mehr gedient gewesen als mit dem Anblick von Blößen wie den genannten. Man kann dabei zugestehen, daß, wer Aristoteles und Thomas im Rücken hat, niemals ganz schlecht dastehen wird, auch wenn ansonsten der Versuch einer Versöhnung von substantialistischem und kritisch-transzendentalem Ansatz seit dem ersten Anlauf dazu bei Hegel bislang kaum einen Schritt nach vorne getan hat.
Rhonheimer selbst läßt sein Buch übrigens in einem Epilog münden, der einen Ausblick auf eine Komplettierung seiner Überlegungen in theologischer Perspektive gibt. Die Tugendethik, die, wie gesagt, eine Ethik des Individuellen ist, bleibt sich ihrer Fragilität und Unabschließbarkeit bewußt, die christlich nach Rhonheimer noch einmal als selbst sinnhafte Momente menschlicher Existenz angenommen werden können. Die Tugendethik als solche enthält keine Heilsversprechen. Daß sie auch in diesem Betracht menschliches Maß hält, wird sie zuletzt auch dem Skeptiker am meisten empfehlen.
THOMAS SÖREN HOFFMANN
Martin Rhonheimer: "Die Perspektive der Moral". Philosophische Grundlagen der Tugendethik. Akademie Verlag, Berlin 2001. 398 S., geb., 68,06 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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