"Was war sie eigentlich für eine Art von Frau? Vor ein paar Jahren hätte sie geantwortet, sie sei ein Exemplar der Neuen Frau, zeittypisch und modern, mit Erfahrung sowohl im Berufs- als auch im Liebesleben und mit einer Karriere als Journalistin im Blick. Dann war aus ihr ein Mädchen geworden, das
in eine Haushaltsschule ging und das sich auf eine bürgerliche Ehe vorbereitete. Und jetzt, wer war…mehr"Was war sie eigentlich für eine Art von Frau? Vor ein paar Jahren hätte sie geantwortet, sie sei ein Exemplar der Neuen Frau, zeittypisch und modern, mit Erfahrung sowohl im Berufs- als auch im Liebesleben und mit einer Karriere als Journalistin im Blick. Dann war aus ihr ein Mädchen geworden, das in eine Haushaltsschule ging und das sich auf eine bürgerliche Ehe vorbereitete. Und jetzt, wer war sie jetzt?"
Obwohl in "Die Pestinsel" in erster Linien Kommissar Nils Gunnarsson ermittelt, spielt Ellen (von der die obrigen Gedanken stammen) eine wichtige Rolle in diesem Roman. Die junge Frau ist mir mit ihrer Unerschrockenheit und ihrem forschen Auftreten fast mehr ans Herz gewachsen als der Ermittler. Denn sie ist es, die in Nils Auftrag auf der alten Pestinsel ermittelt. Dort, wo früher die Seemänner darauf warten mussten, dass ihre Quarantäne-Zeit ablief (da werden doch Erinnerungen an die aktuelle Pandemie wach), wird 1925 nur noch ein Gefangener vom Personal betreut. Doch da scheint etwas nicht ganz zu stimmen, denn eine Leiche weist Verbindungen zum Inhaftierten auf der Insel auf. Da Nils als Polizist wenig herausfinden kann, schickt er Ellen als Dienstmädchen vor, die bald mehr herausfindet, als ihr lieb gewesen ist.
Marie Hermanson gelingt in ihrem Roman das große Kunststück, eine spannende und in Teilen wirklich nervenzerreißende Atmosphäre aufzubauen, ohne dabei auf die üblichen Thriller-Elemente zu setzen. Es wird weder besonders detailliert blutig, noch muss sie auf die üblichen Psycho-Elemente zurückgreifen, um ihre LeserInnen bei der Stange zu halten. Die Handlung an sich, die kleinen Andeutungen, die damit verbundenen Erwartungen reichen ihr aus, um einen echten Page-Turner zu verfassen. Gelungen sind dabei auch die vielen Perspektivwechsel. Über den Roman hinweg erhält der Leser Einblicke in die Gedanken mehrerer Figuren, sodass am Ende ein vielfältiges Bild entsteht. Dabei zeichnet die Autorin ihre Romanbesetzung so liebevoll, dass man am Ende auf einen weiteren Teil hofft, nur um den Figuren noch einmal begegnen zu können.
Gefallen hat mir außerdem die subtil eingebundenen zeitgeschichtlichen Referenzen. "Die Pestinsel" spielt im Göteborg der 1920er Jahre, in einer Zeit zwischen Schnapsschmuggel und großer Armut. Ohne plakativ auf beides hinzuweisen, spielen diese Themen immer wieder eine große Rolle. Dadurch entsteht fast wie nebenbei eine historische Atmosphäre, in die man direkt eintauchen möchte. Regine Elsässer, der Übersetzerin, gelingt es wunderbar, diese Atmosphäre auch ins Deutsch zu tragen.
Bei all den gelungenen Elementen gibt es leider auch Kritik. Zum einen ist das Buch schlecht lektoriert. Zwar machen Titelbild und Gestaltung auf den ersten Blick einen hochwertigen Eindruck. Wenn aber immer wieder Buchstaben fehlen oder falsche Wörter durch Tippfehler entstehen, muss das einem Lektor vor der Veröffentlichung auffallen. Leider sind einige dieser Schnitzer im Buch.
Auch inhaltlich bin ich nicht gänzlich von der insgesamt unterhaltsamen Lektüre überzeugt. Man hat den Eindruck, die Autorin wollte stellenweise etwas zu viel. So gibt es mehrere Handlungselemente, die zwar am Ende alle zusammengeführt und logisch gelöst werden, die aber möglicherweise größere Wirkung hätten erzielen können, wenn sie reduziert und dafür detaillierter ausgearbeitet worden wären. So erschien mir zum Beispiel der Zusammenhang mit dem Krimi, den Nils gerade liest und von dem schon der Klappentext erzählt, sehr konstruiert.
Da ich mich aber insgesamt gut unterhalten gefühlt habe, würde ich den Krimi für dunkle Herbsttage weiterempfehlen - auch deshalb, weil die Autorin zeigt, wie man Spannung ohne (allzu) blutige Effekte hervorragend aufbauen kann.