Für viele Menschen gehört Kochen zur täglichen Routine. Wir kochen für uns und unsere Familie, für Freunde und Kollegen, und freuen uns über ein gelungenes Gericht. Oft muss es möglichst schnell gehen, mal wird es aber auch ein Festessen, das alle unsere Sinne anspricht. In genau diesem Moment wird uns bewusst, dass Kochen mehr vermag, als einfach nur satt zu machen. Sechzehn Autoren - darunter Köche, Food-Aktivisten, Journalisten, Blogger, Gastrokritiker, Wissenschaftler und natürlich Philosophen - schreiben über diesen besonderen Moment und definieren dabei ihre Philosophie des Kochens. Wir erfahren, welch evolutionären Einfluss das Kochen von Speisen auf die Menschheit hatte, wie der Zen-Buddhismus die japanische Küche beeinflusst, lernen mehr über die Wahrnehmung von Geschmack und über die Fähigkeit, darüber auch sprechen zu können. Und wir verstehen, was nachhaltiges und regionales Kochen mit Einfachheit zu tun haben kann, wann Kochen politisch wird und warum die vegane und vegetarische Küche in aller Munde ist. Herausgeber Stevan Paul ist als Autor und Foodjournalist schon immer interessiert am Einfluss, den das Kochen auf unser Leben und unser Miteinander hat. In diesem Band lässt er Profis aus allen Bereichen der Kochwelt zu Wort kommen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2018Wie wägt man eine Existenz ab?
Seelen aus dem Lot: Hans Maarten van den Brinks poetischer Roman "Ein Leben nach Maß" erzählt von einem niederländischen Kontrolleur, dem die zu kontrollierenden Objekte ausgehen.
Ein amerikanischer Kritiker hat Schriftsteller einmal in Typen eingeteilt - hier die "Hineinstopfer" wie etwa der Großepiker Thomas Wolfe, dort ein "Auslasser" wie der Sprachpoet Scott Fitzgerald. Der Niederländer Hans Maarten van den Brink, geboren 1956, gehört eindeutig zu den Auslassern. Vor achtzehn Jahren erschien auf Deutsch sein schmaler Roman "Über das Wasser", die meisterhaft erzählte Geschichte einer Freundschaft unter jungen Ruderern, hinter der die Katastrophe des Nationalsozialismus aufscheint. Das Buch erhielt fabelhafte Kritiken und erlebte drei Auflagen. Andere Bücher des Autors wurden nicht ins Deutsche übersetzt, mit Ausnahme eines schönen Essays über Spanien, wo van den Brink in den neunziger Jahren als Korrespondent des "NRC Handelsblad" beschäftigt war.
Auch in seinem neuen Roman, "Ein Leben nach Maß", hat sich van den Brink eine Szenerie abseits der großen Geschichte gewählt. Nach 45 Jahren ist der Erzähler, der namenlos bleibt, als Mitarbeiter des königlichen Amtes für Eichwesen in Ruhestand gegangen. Über die Jahre ist das Amt zerlegt und privatisiert worden - "Outsourcing" nennt man das -, es hat den Standort gewechselt und das alte Ethos des Prüfens ausgehöhlt. Service am Kunden, heißt die neue Devise. Der Siegeszug abgepackter Waren im Supermarkt hat dem Tante-Emma-Laden das Wasser abgegraben und das Wiegen überflüssig gemacht.
In Fieberträumen aber verfolgt den Erzähler sein gleichaltriger Kollege Karl Dijk, mit dem er das ganze Berufsleben geteilt hat, ohne ihn wirklich kennenzulernen. Anders als der anpassungsbereite Erzähler war Dijk ein mürrischer Prinzipienreiter, der sich die Kontrolle der Waagen zu Herzen nahm und auch im Charakterlichen keine Abweichung duldete. Dass Dijk am Ende allen ein Rätsel geblieben ist, aber bohrende Fragen zurücklässt, bildet das Rückgrat dieses Romans; zur Krise kommt es, als der Erzähler für die Direktorin eine Abschiedsrede auf den herausgedrängten Dijk schreibt und dieser nicht zur letzten Feier erscheint.
Das Skelett der äußeren Handlung kann nur eine Andeutung sein; denn im Inneren des Buches ist die Zeit fließend, getreu dem Motto des Romans: "Time is the longest distance between two places" (Tennessee Williams). Erinnerungen strömen herein und lassen die eigene, halbwegs korrekt erledigte Existenz in einem anderen Licht erscheinen. Erinnerungen an Fahrten in die nördliche Provinz, in der der junge Kontrolleur ein niedergedrücktes Land erlebt, mit misstrauischen Gemüsehändlern, widerborstigen Metzgern und Alten, die in lautloser Armut dahinvegetieren und unbemerkt sterben. Dieses Holland, mit ein paar Strichen skizziert (und abermals in der leuchtend poetischen Sprache der Übersetzerin Helga van Beuningen), wirkt wie eine unheimliche Filmlandschaft. Und nirgendwo schert man sich um exakt geeichte Waagen, denn "es gehörte sich nicht, zu wiegen und zu rechnen. Man vertraute einander." Oder betrog einander.
Hans Maarten van den Brink ist ein kapitaler Erzähler, der das Schwierigste kann: mit Hilfe eines auf den ersten Blick harmlosen Gewerbes fast ein halbes Jahrhundert im Bewusstsein eines Landes zu erzählen. Nirgendwo stehen Thesen herum, doch die Metapher des Wiegens und Messens durchdringt zu jeder Sekunde das Geschehen und lässt hinter banalen Einzelheiten den tieferen Sinn ahnen. Hat der Kontrolleur überhaupt das Recht, auf dem platten Land für Ordnung zu sorgen und sich in das Elend der Menschen zu mischen? Ist die Welt nicht schlimm genug und jeder mit seiner privaten Misere allein?
Im Lauf des Romans dämmert dem Leser, dass es dem Autor um die Folgen des Fortschritts geht, nicht nur im technischen Sinn beim Eich- und Messwesen. Auf dem Spiel steht die Seele des arbeitenden, effizienzoptimierten Menschen selbst. Denn die Spielregeln müssen nicht einmal erwähnt werden, man erlernt sie durch Nachahmung. Gefordert sind Anpassung, Opportunismus, Leisetreterei. Dabei sorgt die Fortschrittsidee für Trost nach einem verheerenden Krieg, der das Selbstverständnis der Niederlande noch Jahrzehnte später prägt und dessen Spuren sich den Menschen ins Gemüt gegraben haben. Besser, den Betrieb nicht zu stören, wenn man beim großen Karriererennen nicht unter die Räder geraten will.
Der Außenseiter des Romans - der niederländische Originaltitel heißt schlicht "Dijk" - ist die einzige Kraft, die sich diesem Zukunftsoptimismus widersetzt und an aus der Mode kommenden Prinzipien festhält. Hätte der Autor diesen Karl Dijk zum handelnden Helden des Widerstands gemacht, wäre daraus vielleicht eine schrullige, womöglich pathetische Figur geworden. Doch weil der Roman Dijk nur von außen und wie durch einen leichten Schleier zeigt, nämlich durch die Augen des Erzählers, der seinen Kollegen bis zum Ende nicht entziffern kann, breitet sich auf den Seiten so etwas wie eine Gegenmacht aus: Zweifel, Unbehagen, Traurigkeit - und ein kaum benennbares Verlorenheitsgefühl.
Dijk, so stellt sich heraus, war ein Waisenkind, mutmaßlich Sohn eines deutschen Offiziers. Vielleicht schwul, eine anonyme Denunziation liegt in der Personalakte, in jedem Fall ein Auslaufmodell, ein Störfaktor. "Eine Frage der Zeit, bis man ihm kündigte. Unvermeidlich. Logisch. Weil es besser für alle war."
Womit es in diesem schmalen Buch dann doch um alles geht. Wer wir sind, auch und gerade als selbstzufriedene Beobachter. Wohin wir wollen. Woran wir glauben. "The Way We Live Now", um den berühmten Romantitel des Viktorianers Anthony Trollope zu bemühen. Unsere Modernisierung: ein Wohlstandsmärchen, dessen Opfer wir lieber verschweigen. Ein Hauch von Melvilles "Bartleby" weht durch die Seiten dieses wunderbar leisen, aber unbeirrbaren und lange nachwirkenden Romans, eine Sehnsucht nach Stolz und Verneinung. Für all das könnte der schweigsame, griesgrämige Karl Dijk stehen, und der Erzähler begreift es erst durch das Erzählen: weil Unbehagen zu Nachdenklichkeit wird und weil sich das einmal aufgestörte Gemüt nicht mehr beruhigen lässt. Solche Bewusstseinsdramen passen nicht in Geschichtsbücher. Dafür werden Romane geschrieben.
PAUL INGENDAAY
Hans Maarten van den Brink: "Ein Leben nach Maß". Roman.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag, München 2018. 207 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seelen aus dem Lot: Hans Maarten van den Brinks poetischer Roman "Ein Leben nach Maß" erzählt von einem niederländischen Kontrolleur, dem die zu kontrollierenden Objekte ausgehen.
Ein amerikanischer Kritiker hat Schriftsteller einmal in Typen eingeteilt - hier die "Hineinstopfer" wie etwa der Großepiker Thomas Wolfe, dort ein "Auslasser" wie der Sprachpoet Scott Fitzgerald. Der Niederländer Hans Maarten van den Brink, geboren 1956, gehört eindeutig zu den Auslassern. Vor achtzehn Jahren erschien auf Deutsch sein schmaler Roman "Über das Wasser", die meisterhaft erzählte Geschichte einer Freundschaft unter jungen Ruderern, hinter der die Katastrophe des Nationalsozialismus aufscheint. Das Buch erhielt fabelhafte Kritiken und erlebte drei Auflagen. Andere Bücher des Autors wurden nicht ins Deutsche übersetzt, mit Ausnahme eines schönen Essays über Spanien, wo van den Brink in den neunziger Jahren als Korrespondent des "NRC Handelsblad" beschäftigt war.
Auch in seinem neuen Roman, "Ein Leben nach Maß", hat sich van den Brink eine Szenerie abseits der großen Geschichte gewählt. Nach 45 Jahren ist der Erzähler, der namenlos bleibt, als Mitarbeiter des königlichen Amtes für Eichwesen in Ruhestand gegangen. Über die Jahre ist das Amt zerlegt und privatisiert worden - "Outsourcing" nennt man das -, es hat den Standort gewechselt und das alte Ethos des Prüfens ausgehöhlt. Service am Kunden, heißt die neue Devise. Der Siegeszug abgepackter Waren im Supermarkt hat dem Tante-Emma-Laden das Wasser abgegraben und das Wiegen überflüssig gemacht.
In Fieberträumen aber verfolgt den Erzähler sein gleichaltriger Kollege Karl Dijk, mit dem er das ganze Berufsleben geteilt hat, ohne ihn wirklich kennenzulernen. Anders als der anpassungsbereite Erzähler war Dijk ein mürrischer Prinzipienreiter, der sich die Kontrolle der Waagen zu Herzen nahm und auch im Charakterlichen keine Abweichung duldete. Dass Dijk am Ende allen ein Rätsel geblieben ist, aber bohrende Fragen zurücklässt, bildet das Rückgrat dieses Romans; zur Krise kommt es, als der Erzähler für die Direktorin eine Abschiedsrede auf den herausgedrängten Dijk schreibt und dieser nicht zur letzten Feier erscheint.
Das Skelett der äußeren Handlung kann nur eine Andeutung sein; denn im Inneren des Buches ist die Zeit fließend, getreu dem Motto des Romans: "Time is the longest distance between two places" (Tennessee Williams). Erinnerungen strömen herein und lassen die eigene, halbwegs korrekt erledigte Existenz in einem anderen Licht erscheinen. Erinnerungen an Fahrten in die nördliche Provinz, in der der junge Kontrolleur ein niedergedrücktes Land erlebt, mit misstrauischen Gemüsehändlern, widerborstigen Metzgern und Alten, die in lautloser Armut dahinvegetieren und unbemerkt sterben. Dieses Holland, mit ein paar Strichen skizziert (und abermals in der leuchtend poetischen Sprache der Übersetzerin Helga van Beuningen), wirkt wie eine unheimliche Filmlandschaft. Und nirgendwo schert man sich um exakt geeichte Waagen, denn "es gehörte sich nicht, zu wiegen und zu rechnen. Man vertraute einander." Oder betrog einander.
Hans Maarten van den Brink ist ein kapitaler Erzähler, der das Schwierigste kann: mit Hilfe eines auf den ersten Blick harmlosen Gewerbes fast ein halbes Jahrhundert im Bewusstsein eines Landes zu erzählen. Nirgendwo stehen Thesen herum, doch die Metapher des Wiegens und Messens durchdringt zu jeder Sekunde das Geschehen und lässt hinter banalen Einzelheiten den tieferen Sinn ahnen. Hat der Kontrolleur überhaupt das Recht, auf dem platten Land für Ordnung zu sorgen und sich in das Elend der Menschen zu mischen? Ist die Welt nicht schlimm genug und jeder mit seiner privaten Misere allein?
Im Lauf des Romans dämmert dem Leser, dass es dem Autor um die Folgen des Fortschritts geht, nicht nur im technischen Sinn beim Eich- und Messwesen. Auf dem Spiel steht die Seele des arbeitenden, effizienzoptimierten Menschen selbst. Denn die Spielregeln müssen nicht einmal erwähnt werden, man erlernt sie durch Nachahmung. Gefordert sind Anpassung, Opportunismus, Leisetreterei. Dabei sorgt die Fortschrittsidee für Trost nach einem verheerenden Krieg, der das Selbstverständnis der Niederlande noch Jahrzehnte später prägt und dessen Spuren sich den Menschen ins Gemüt gegraben haben. Besser, den Betrieb nicht zu stören, wenn man beim großen Karriererennen nicht unter die Räder geraten will.
Der Außenseiter des Romans - der niederländische Originaltitel heißt schlicht "Dijk" - ist die einzige Kraft, die sich diesem Zukunftsoptimismus widersetzt und an aus der Mode kommenden Prinzipien festhält. Hätte der Autor diesen Karl Dijk zum handelnden Helden des Widerstands gemacht, wäre daraus vielleicht eine schrullige, womöglich pathetische Figur geworden. Doch weil der Roman Dijk nur von außen und wie durch einen leichten Schleier zeigt, nämlich durch die Augen des Erzählers, der seinen Kollegen bis zum Ende nicht entziffern kann, breitet sich auf den Seiten so etwas wie eine Gegenmacht aus: Zweifel, Unbehagen, Traurigkeit - und ein kaum benennbares Verlorenheitsgefühl.
Dijk, so stellt sich heraus, war ein Waisenkind, mutmaßlich Sohn eines deutschen Offiziers. Vielleicht schwul, eine anonyme Denunziation liegt in der Personalakte, in jedem Fall ein Auslaufmodell, ein Störfaktor. "Eine Frage der Zeit, bis man ihm kündigte. Unvermeidlich. Logisch. Weil es besser für alle war."
Womit es in diesem schmalen Buch dann doch um alles geht. Wer wir sind, auch und gerade als selbstzufriedene Beobachter. Wohin wir wollen. Woran wir glauben. "The Way We Live Now", um den berühmten Romantitel des Viktorianers Anthony Trollope zu bemühen. Unsere Modernisierung: ein Wohlstandsmärchen, dessen Opfer wir lieber verschweigen. Ein Hauch von Melvilles "Bartleby" weht durch die Seiten dieses wunderbar leisen, aber unbeirrbaren und lange nachwirkenden Romans, eine Sehnsucht nach Stolz und Verneinung. Für all das könnte der schweigsame, griesgrämige Karl Dijk stehen, und der Erzähler begreift es erst durch das Erzählen: weil Unbehagen zu Nachdenklichkeit wird und weil sich das einmal aufgestörte Gemüt nicht mehr beruhigen lässt. Solche Bewusstseinsdramen passen nicht in Geschichtsbücher. Dafür werden Romane geschrieben.
PAUL INGENDAAY
Hans Maarten van den Brink: "Ein Leben nach Maß". Roman.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag, München 2018. 207 S., geb., 19,- [Euro].
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