Der Tod und die Toten spielen eine gesellschaftspolitisch und kulturtheoretisch zentrale Rolle. Man kann mit den Toten Politik machen, sie können aber auch selbst als Teil von Politik und Gesellschaft begriffen werden. Debatten hierüber reichen von der Erinnerungs- bis zur Begräbnispolitik und berühren auch den Umgang mit toten Geflüchteten sowie mit den Toten revolutionärer Bewegungen. Die Beitragenden aus Literaturwissenschaft und Politischer Theorie laden zu einer breiten Lesart einer ›Politik der Toten‹ ein. Dabei wird deutlich, dass der Umgang mit den Toten und die Klärung ihrer Stellung in der Gesellschaft immer wieder aufs Neue ausgelotet werden müssen. In den dabei entstehenden Konflikten können die Toten nicht nur als Objekte des Streits, sondern mitunter auch als Mitwirkende verstanden werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2023Aktives Nachleben
Hannah Arendts Lehre der Unsterblichkeit
Von einer "Politik der Toten" kann dort gesprochen werden, wo die Kontinuität von Lebenden und Toten über die Momente des Gedächtnisses hinausgeht: Die politische Theorie Hannah Arendts zeigt sich als nicht-kollektivistischer Versuch einer Sinngebung, bei der die Lebenden bereit sein müssten, ihr Handeln zu Lebzeiten in einen zeitlich sie selbst überdauernden Horizont zu stellen. Diese Interpretation entwickelt Marcus Llanque in seinem Beitrag zu dem von ihm und Katja Sarkowsky herausgegebenen Sammelband "Die Politik der Toten. Figuren und Funktionen der Toten in Literatur und Politischer Theorie" (transcript Verlag, Bielefeld 2023).
Der Sinn politischen Handelns gewinnt mit diesem Horizont eine Dimension von Unsterblichkeit, die sich aber von quasi-metaphysischen Formen der Unsterblichkeit (im Sinn der Ewigkeit) wie auch von einem nur persönlichen Leben im Ruhm absetzt. Weder ein individualistischer Liberalismus noch gar ein Kollektivismus der totalitären Herrschaft, der auf Begriffe wie Volk, Nation oder Rasse zurückgreift, können politisches Denken begründen. In der Vernichtung eines ganzen Volkes sieht Arendt nicht allein die Untat, Sterbliches zu töten, sondern das Skandalon, "etwas möglicherweise Unsterbliches" zu löschen. Denn das gemeinsame Handeln kann über den Tod hinaus wirken, indem es seinen Sinn erst nach dem eigenen Tod erreicht.
Im dynamischen Raum des Politischen erweisen sich noch die physisch Toten als lebendig, denn die unverfügbare Vergangenheit - wie die unerkennbare Zukunft - kann durch das "Heilmittel" des Handelns (so Arendt in "Vita activa") zwar nicht Wunder im Sinne der Transzendenz leisten, aber Unwahrscheinliches und Unberechenbares. Dieses politische "Wunder der Freiheit" liegt im "Anfangen-Können", wonach die Geburt jeden Menschen mit Potentialität ausstattet. Freiheit als der "Sinn von Politik" wird gegen die in Totalitarismus und Atomkrieg erfahrbare Sinnlosigkeit verteidigt, nicht zuletzt durch die Fähigkeit, Vergangenes - das nicht rückgängig gemacht werden kann - zu verzeihen und Künftiges zu versprechen.
In diesem Handlungsbegriff meldet sich ein Verständnis von Unsterblichkeit, das über den individuellen Ruhm und seine Gedächtnisstiftung, wie sie bei Homer studiert werden kann, hinausgeht. Der handelnde Umgang mit Vergangenheit und Zukunft führt in der politischen Praxis nicht zu einem statischen Anspruch auf Ewigkeit. Deshalb erscheinen Geburt und Tod auch nicht als natürliche Gegebenheiten, sondern als "weltliche Ereignisse". Und die "Sterblichkeit" wird zu einer faszinierenden, vielleicht von Martin Heidegger nicht ganz entfernten Möglichkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet, insofern sie als lebensweltliche Erfahrung nur gemeinsam begriffen werden kann.
Dieser Gedanke führt zur römisch-republikanischen Vorstellung einer "Gründung", mit der Hannah Arendt Überlegungen Machiavellis aufgreift, nämlich wie sich mittels der Gründung einer Republik Unsterblichkeit sichern lasse. Aber erst, so referiert Llanque die Emigrantin, die 1951 die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten erhielt, mit den amerikanischen "Founding Fathers" des achtzehnten Jahrhunderts sei es gelungen, Gründung gewaltfrei als einen Akt des Beginnens zu entwerfen, bei dem die Nachfolgenden in die fortwährende Fortsetzung einbezogen würden, um so Lebende und Tote in einem gemeinsamen Handeln zu verbinden.
Fast möchte es scheinen, dass sich Hannah Arendts Vision vom Raum der Unsterblichkeit, jenseits des biologischen Todes und diesseits der "Ewigkeit", als eine kritische Variante eines von ihr vielfach wahrgenommenen literarischen Musters lesen lässt: Wenn Goethe seinen von der Sorge geblendeten, hundertjährigen Faust am Ende das Landgewinnungsprojekt verfolgen lässt (mit Anklängen an den Panamakanal), spricht er von der Gewissheit, "Auf freiem Grund mit freiem Volke [zu] stehn", sodass die Spur von seinen Erdentagen "Nicht in Äonen untergehn" könne. Dass hier persönliches Ruhmdenken und politisches Handeln sich überlagern und in Gewalt umschlagen, legt Mephisto offen, wenn er Fausts akustische Wahrnehmung des "Grabens" auf dessen "Grab" reduziert - "Man spricht, wie man mir Nachricht gab, / Von keinem Graben doch vom Grab".
Behält der teuflische Zynismus politisch doch nicht das letzte Wort? Mephistos unheilige Trinität von "Krieg, Handel und Piraterie" gehörte zum Zitatenfundus Hannah Arendts. Um so beeindruckender, mit welcher Kraft sie das Vertrauen in den gemeinsamen Sinn politischen Handelns bewahrt hat. MATHIAS MAYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hannah Arendts Lehre der Unsterblichkeit
Von einer "Politik der Toten" kann dort gesprochen werden, wo die Kontinuität von Lebenden und Toten über die Momente des Gedächtnisses hinausgeht: Die politische Theorie Hannah Arendts zeigt sich als nicht-kollektivistischer Versuch einer Sinngebung, bei der die Lebenden bereit sein müssten, ihr Handeln zu Lebzeiten in einen zeitlich sie selbst überdauernden Horizont zu stellen. Diese Interpretation entwickelt Marcus Llanque in seinem Beitrag zu dem von ihm und Katja Sarkowsky herausgegebenen Sammelband "Die Politik der Toten. Figuren und Funktionen der Toten in Literatur und Politischer Theorie" (transcript Verlag, Bielefeld 2023).
Der Sinn politischen Handelns gewinnt mit diesem Horizont eine Dimension von Unsterblichkeit, die sich aber von quasi-metaphysischen Formen der Unsterblichkeit (im Sinn der Ewigkeit) wie auch von einem nur persönlichen Leben im Ruhm absetzt. Weder ein individualistischer Liberalismus noch gar ein Kollektivismus der totalitären Herrschaft, der auf Begriffe wie Volk, Nation oder Rasse zurückgreift, können politisches Denken begründen. In der Vernichtung eines ganzen Volkes sieht Arendt nicht allein die Untat, Sterbliches zu töten, sondern das Skandalon, "etwas möglicherweise Unsterbliches" zu löschen. Denn das gemeinsame Handeln kann über den Tod hinaus wirken, indem es seinen Sinn erst nach dem eigenen Tod erreicht.
Im dynamischen Raum des Politischen erweisen sich noch die physisch Toten als lebendig, denn die unverfügbare Vergangenheit - wie die unerkennbare Zukunft - kann durch das "Heilmittel" des Handelns (so Arendt in "Vita activa") zwar nicht Wunder im Sinne der Transzendenz leisten, aber Unwahrscheinliches und Unberechenbares. Dieses politische "Wunder der Freiheit" liegt im "Anfangen-Können", wonach die Geburt jeden Menschen mit Potentialität ausstattet. Freiheit als der "Sinn von Politik" wird gegen die in Totalitarismus und Atomkrieg erfahrbare Sinnlosigkeit verteidigt, nicht zuletzt durch die Fähigkeit, Vergangenes - das nicht rückgängig gemacht werden kann - zu verzeihen und Künftiges zu versprechen.
In diesem Handlungsbegriff meldet sich ein Verständnis von Unsterblichkeit, das über den individuellen Ruhm und seine Gedächtnisstiftung, wie sie bei Homer studiert werden kann, hinausgeht. Der handelnde Umgang mit Vergangenheit und Zukunft führt in der politischen Praxis nicht zu einem statischen Anspruch auf Ewigkeit. Deshalb erscheinen Geburt und Tod auch nicht als natürliche Gegebenheiten, sondern als "weltliche Ereignisse". Und die "Sterblichkeit" wird zu einer faszinierenden, vielleicht von Martin Heidegger nicht ganz entfernten Möglichkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet, insofern sie als lebensweltliche Erfahrung nur gemeinsam begriffen werden kann.
Dieser Gedanke führt zur römisch-republikanischen Vorstellung einer "Gründung", mit der Hannah Arendt Überlegungen Machiavellis aufgreift, nämlich wie sich mittels der Gründung einer Republik Unsterblichkeit sichern lasse. Aber erst, so referiert Llanque die Emigrantin, die 1951 die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten erhielt, mit den amerikanischen "Founding Fathers" des achtzehnten Jahrhunderts sei es gelungen, Gründung gewaltfrei als einen Akt des Beginnens zu entwerfen, bei dem die Nachfolgenden in die fortwährende Fortsetzung einbezogen würden, um so Lebende und Tote in einem gemeinsamen Handeln zu verbinden.
Fast möchte es scheinen, dass sich Hannah Arendts Vision vom Raum der Unsterblichkeit, jenseits des biologischen Todes und diesseits der "Ewigkeit", als eine kritische Variante eines von ihr vielfach wahrgenommenen literarischen Musters lesen lässt: Wenn Goethe seinen von der Sorge geblendeten, hundertjährigen Faust am Ende das Landgewinnungsprojekt verfolgen lässt (mit Anklängen an den Panamakanal), spricht er von der Gewissheit, "Auf freiem Grund mit freiem Volke [zu] stehn", sodass die Spur von seinen Erdentagen "Nicht in Äonen untergehn" könne. Dass hier persönliches Ruhmdenken und politisches Handeln sich überlagern und in Gewalt umschlagen, legt Mephisto offen, wenn er Fausts akustische Wahrnehmung des "Grabens" auf dessen "Grab" reduziert - "Man spricht, wie man mir Nachricht gab, / Von keinem Graben doch vom Grab".
Behält der teuflische Zynismus politisch doch nicht das letzte Wort? Mephistos unheilige Trinität von "Krieg, Handel und Piraterie" gehörte zum Zitatenfundus Hannah Arendts. Um so beeindruckender, mit welcher Kraft sie das Vertrauen in den gemeinsamen Sinn politischen Handelns bewahrt hat. MATHIAS MAYER
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Besprochen in: www.faz.net, 07.06.2023, Mathias Mayer https://limnews.com, 07.06.2023