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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In ihrem beeindruckenden Buch „Die Postkarte“ geht die französische Autorin Anne Berest ihrer Familiengeschichte nach,
von Auschwitz ins Paris der Gegenwart – das von Antisemitismus auch nicht völlig frei ist
VON SUSAN VAHABZADEH
Die Sache mit der Postkarte fällt Anne erst wieder ein, als sie schwanger ist, zehn Jahre nach ihrem Eintreffen. Im Januar 2003 hat Annes Mutter, Lélia, die Familie um den Tisch zusammengerufen und sie allen gezeigt, man sieht die Opéra Garnier darauf mit ihrer neobarocken Fassade, auf der Rückseite stehen vier Namen, kein Absender, adressiert ist sie an Annes verstorbene Großmutter.
Ephraim steht darauf, Emma, Noémie, Jacques. Es sind Namen, die Anne kennt, aber sie gehören Menschen, von denen nie gesprochen wird: Es sind die ihrer Urgroßeltern und der Geschwister ihrer Großmutter, allesamt 1942 in Auschwitz ermordet. Die anonyme Nachricht löst Unbehagen und Angst aus, aber so richtig bewusst wird Anne sich dessen erst, als sie selbst Mutter wird: Weil sie nun selbst jemand sein wird, der einen anderen beschützen muss.
In Frankreich kann man vieles gut, die Aufarbeitung der eigenen Geschichte allerdings ist nicht unbedingt eine französische Spezialität. „Die Postkarte“ von Anne Berest schlägt eine Brücke vom Antisemitismus der Vergangenheit zu jenem, den viele französische Juden heute beschreiben – und er lässt sich natürlich viel leichter vom Tisch wischen, wenn keiner daran rührt, dass das Klavier von Anne Berests Urgroßmutter auf ungeklärtem Weg in einem Nachbarhaus gelandet ist.
„Die Postkarte“ ist im weitesten Sinne ein Roman – eigentlich ist es eine Familienbiografie, persönlich, und doch ahnt man, das viele ähnliche Geschichten unerzählt blieben. Die Erzählerin heißt Anne, wie die Autorin, ihre Mutter heißt Lélia, wie auch in Wirklichkeit – die beiden füllen in langen Unterhaltungen die Fragmente der Familiengeschichte, die sie belegen können, mit Leben.
Niemand weiß, was wirklich in den Köpfen von Ephraim und Emma vorging, als sie bald nach der Oktoberrevolution mit ihrer kleinen Tochter Moskau verlassen, um ihr Glück in Lettland zu versuchen. Sie landen bei Ephraims Vater in Palästina, und dann in Paris, Träume von Sesshaftigkeit im Gepäck; aber Anne Berest erzählt von ihren Urgroßeltern, als seien wir alle dabei gewesen, als er bei einem besonders fröhlichen Abendessen plötzlich an seine Verflossene denken muss und seine Frau sofort bemerkt, wie sich ein Schatten über die gute Laune legt. Manchmal zitiert sie aus Briefen, und dann wieder stellt sie sich nur vor, dass der Mensch vor hundert Jahren in Moskau ganz genauso gefühlt hat wie heute in Paris.
Anne Berest hat ihrer Mutter abgetrotzt, was noch da war, wenig mündliche Überlieferung, die Großmutter hat geschwiegen, so wie sich in vielen jüdischen Familien die Überlebenden nach dem Holocaust ihre Erinnerungen verschlossen haben. Die Mutter wiederholt, was ihre Mutter gemacht hat, und Berest beschreibt das, was sie wahrnimmt in diesem Schweigen, als würden die Bilder der verlorenen Eltern und Geschwister sich auflösen, sobald sie losgelassen werden, gepaart mit einem Schutzmechanismus: Die Erinnerungen werden gleichzeitig den Töchtern vorenthalten, um ihnen Unbeschwertheit zu ermöglichen, und doch auch eifersüchtig bewacht.
Irgendwann ist der Damm gebrochen, ein paar Briefe, Fotos, alte Papiere. Und es lassen sich noch weitere Spuren finden – das Haus in einem Dorf, in das sich Ephraim und Emma nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten zurückgezogen hatten, alte Akten im Rathaus. Und schließlich arbeitet sie sich durch die Autobiografien von allerhand Résistance-Kämpfern und -Kämpferinnen und findet auch da die Großmutter, die es aus der besetzten Zone herausgeschafft hatte und sich dort dem Widerstand anschloss, sie geistert durch einige dieser Bücher – sogar Noémie findet sie dort, im Bericht einer Ärztin, die sie kennengelernt hatte in der Zeitspanne zwischen ihrer Verhaftung und ihrer Deportation.
Es gibt Passagen in diesem Buch, die schwer auszuhalten sind, und in Frankreich gab es den Vorwurf, Anne Berest habe sich zu viel ausgemalt, eine Diskussion wie damals bei „Schindlers Liste“, als Spielberg sich sehr weit ins Vernichtungslager Auschwitz vorwagte. Manchmal schreibt Berest sehr szenisch, da merkt man, dass sie auch eine Reihe von Drehbüchern geschrieben hat, dann wieder verliert sie sich in den Gedanken ihrer Figuren.
Aber ein Buch ist kein Film, es macht sich kein Bild, es evoziert sie nur; und die Diskussion war überschattet von einem Skandälchen innerhalb der Académie Goncourt, die das Buch nominiert hatte, bevor eine Jurorin gegen „Die Postkarte“ ins Feld zog, die wiederum mit dem Autor eines anderen nominierten Buches verbandelt war.
Jedenfalls hat Berest ihre Familiengeschichte so aufgeschrieben, dass ein Kapitel französischer Geschichte gut sichtbar wird und wie der eingeübte französische Laizismus dazu führt, dass sie erst in der Recherche eine Haltung zu ihrem Jüdisch-Sein findet und bemerkt, dass sie das, was der allgegenwärtige Antisemitismus in ihr anrichtet, seit Kindertagen unterdrückt.
Was nun die Herkunft der Postkarte betrifft: Von der weiß sie nur, dass sie auf einem Postamt am Louvre aufgegeben wurde, das es gar nicht mehr gibt, an einem verschneiten Samstag. Wen soll sie schon fragen? Sie landet bei der Agentur Duluc Détective, die schon seit Jahrzehnten durchs Kino geistert, ein kleiner Krimi entspinnt sich: Annes Mutter will gar nicht von der Karte reden, weil das ihre Art ist, mit diffuser Bedrohung umzugehen – Anne aber muss wissen, wer sie geschrieben hat, um ihre Ängste in Schach zu halten.
„Die Postkarte“ ist kein Meisterwerk der fein ziselierten Sprache oder dichterischen Kniffe; aber Berest treibt ein wunderbares Spiel mit der Zeit. Alles, was sie über ihre Familiengeschichte erfährt, erzählt sie im Präsens; die Recherche und ihre Suche nach sich selbst beschreibt sie in der Vergangenheit. Die Zeitebenen vermengen sich, bis alle überall sind und man das Lachen von Myriam und Noémie auf den Gängen jenes Mädchengymnasiums hört, das auch Anne besucht hat, ohne zu wissen, dass die Räume schon Teil der Familiengeschichte sind, bis die Straßen voller Schatten sind, weil alle Gegenwart immer nur ein Produkt von Gestern ist.
In Frankreich gab es den Vorwurf,
die Autorin habe sich
zu viel ausgemalt
Die Zeitebenen vermengen sich,
bis alle immer überall sind –
ein meisterhaftes Spiel
Anne Berest hat ihrer Mutter abgetrotzt, was noch da war an Information, die Großmutter hat geschwiegen, wie viele Holocaust-Überlebende.
Foto: afp
Anne Berest: Die Postkarte. Aus dem Französischen von Michaela Meßner, Amelie Thoma. Berlin Verlag, 544 Seiten, 28 Euro.
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