Hätte nicht alles gut werden müssen? Der neue Roman von Thomas von Steinaecker über die verpassten Chancen einer Generation In Norwegen beginnt der Winter. Der erste seit vielen Jahren. In einer abgelegenen Hütte muss sich Bastian eingestehen, dass er zu alt ist, um dort zu überleben. Anstatt zur weit entfernten Siedlung aufzubrechen, beginnt er sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Mit seiner Kindheit in den 90ern zwischen Star Wars, Magnum-Eis und Lichterketten gegen Rechts. Der Herausforderung als junger Vater, Familie, Karriere und eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Und mit den Jahren in der geschützten Wohnsiedlung in der Nähe Münchens, in denen die Welt immer bedrohlicher wurde. In seinem neuen Roman blickt Thomas von Steinaecker virtuos aus einer nahen Zukunft zurück auf unsere Gegenwart und zeigt, wie das Leben an uns vorbeirauscht, während wir um uns selbst kreisen. Hochaktuell erzählt »Die Privilegierten« von einer Generation, die alle Möglichkeiten hatte und dennoch scheitert.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Nicht viel Freude hat Rezensent Eberhard Falcke mit Thomas von Steinaeckers Roman, und zwar vor allem, weil er den Erzähler Sebastian für schlecht konstruiert hält. In der Erzählgegenwart des Jahrs 2039 befindet sich der in der norwegischen Einsamkeit, erfahren wir, die Geschichte entfaltet sich in Rückblenden, die bis in die 1980er zurück reichen. Im bildungsbürgerlichen Milieu aufgewachsen, tendiert Sebastian später politisch nach links, zeichnet der Rezensent die fiktionale Biografie nach, was Sebastian freilich nicht dabei hilft, die sozial zunehmend aus den Fugen geratene Welt zu verstehen. Wie ein saturierter Mitteleuropäer die Welt um sich zusammenbrechen sieht: Das hätte ein toller Kommentar zur Gegenwart werden können, meint Falcke, nur leider bleibe dieser Sebastian eine soziologisch zurecht gezimmerte Kopfgeburt, die für den Kritiker auch nicht im Sinne einer satirischen Überzeichnung funktioniert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2023Die falsche Version der Welt
Was hat uns bloß so ruiniert? Thomas von Steinaecker fragt in seinem satirischen Roman "Die Privilegierten", welche Zukunft der eskapistischen Generation droht
Was machen die Menschen, wenn die Apokalypse vor der Tür steht? Die Romane Cormac McCarthys vermitteln eine Vorstellung davon, wie sie einander noch mehr zu Wölfen werden. In Bov Bjergs jüngst erschienenem Roman "Der Vorweiner" nehmen sie sich, sofern sie noch können, einen "Trauer-Gastarbeiter", der sie bedauert. Und in Thomas von Steinaeckers neuem Roman "Die Privilegierten" setzen sie sich eine Virtual-Reality-Brille auf und werden Teilnehmer einer Retro-Spielshow mit Frank Elstner.
Wer gerade noch überlegt, welche Option wohl die schlimmste ist, droht den Anschluss zu verpassen: Denn Steinaeckers Roman ist von einer komplexen Struktur, die etwas erläutert werden will. Die Rahmenerzählung in knappem Tagebuchstil wirkt einfach und eindringlich. Die restlichen knapp sechshundert Seiten sind verwickelte Reflexionsprosa.
Das eine bedingt das andere: Zunächst begegnen wir einem Erzähler in einer Extremsituation. Allein in norwegischer Einöde, protokolliert er im Sekundenstil, wie die Chancen seines Überlebens stehen: Er zählt seine Hühner und Eier sowie die benötigten Schmerztabletten, überlegt, wie viel Energie in verschiedener Hinsicht ihm noch bleibt. Wir erfahren, dass er schon seit vier Jahren auf seinem Außenposten ist. Warum, das wird nur angedeutet, er erzählt es einer Katze: "Selbstbeschäftigung? Mission? Ablenkung?"
Ferner notiert der Einsiedler: "Nachts wach. Intensive Erinnerungen. Nach weiß nicht wie langer Zeit wieder. Plötzlich Brigitte vor Augen. In Jung. Das Gefühl ihres warmen Körpers. Masturbation. Zweimal hintereinander. Später von Samy geträumt. Schrien uns an." Dann spitzt sich die Lage zu. Ein Wolfsrudel nähert sich, die Katze stirbt, und ein Eintrag endet so: "Die einzige Möglichkeit, jetzt nicht verrückt zu werden, ist, meine Vergangenheit zu sortieren. Warum ich hier bin. Wie ich lernte, die Menschen zu hassen."
Das ist der Einstieg zu den sechshundert Seiten Reflexion: Auf diesen will jemand Rechenschaft ablegen. Über das eigene Leben, scheint es zunächst, über Beziehungen und Brüche - aber dann wird aus dem "Ich" immer öfter auch ein "Wir", in dessen Namen der Erzähler spricht, und somit klar, dass er seine ganze Generation meint.
Thomas von Steinaecker, geboren 1977, hat mit diesem Erzähler vielleicht einiges gemeinsam, aber das scheint für die Interpretation seines neuen Roman nicht entscheidend zu sein. Vielmehr werden alle Leser, die die Neunzigerjahre erlebt haben, und erst recht diejenigen, die in ihnen jung waren, sehr vieles wiedererkennen, was damals die Nachrichten und die Popkultur bestimmt hat.
Steinaecker liefert zunächst eine Art Pop-Bildungsroman der Achtziger und Neunziger, zwischen Alf, Bill Cosby und Nivea-Creme. Es geht um die Generation der Fernsehkinder - man könnte auch sagen: um die Generation Golf, denn mit Florian Illies' gleichnamigem, einst sehr populärem Sachbuch hat dieser Teil des Romans auch viel gemeinsam.
Aber das Gefühl von Wohlstandsgeborgenheit wird bald flankiert von der kritischen Einsicht, man lebe nur auf Kosten anderer im Schlaraffenland (unter einem deutlichen Hinweis auf das gleichnamige Bruegel-Gemälde). Und dann folgt die diffuse Einsicht, es sei damals etwas "nicht wieder Gutzumachendes passiert".
Was das war, darum dreht sich der Rest des Romans und kann es doch nie recht einkreisen. Aus den Medienkindern werden Eltern, die von Beruf Mediengestalter sind. Der Erzähler selbst, in der Jugend noch getrieben von Weltrettungsideen, wird nun zum Designer von Weltfluchten: So ist er etwa mit der Entwicklung jener "VR-Retro-Version" der Spielshow "Jeopardy" befasst, in der Erwachsene des Jahres 2019 sich mit Hologrammen der "Gesichter ihrer Kindheit" ablenken vom eigentlichen Leben. Das Hologramm von Frank Elstner, so liest man, verfügt sogar "über ein Smalltalk-Programm". Als kreativer Zeitzeuge ist der Erzähler bald Teil einer regelrechten Retro-Industrie, in der die Spieler auch Helden historischer Ereignisse werden können - oder eben im Kopfkino einer ewigen Jugend verharren, zwischen Michael Jackson, R.E.M. und Nirvana (auf teils amüsante Weise verhandelt der Roman auch die Frage, ob die Musik der Neunziger so schlecht ist wie ihr Ruf).
Dem Romanleser wird indessen klar, dass die Erzählzeit schon viel weiter vorangeschritten und auch unsere Gegenwart darin längst Vergangenheit ist. Der Erzähler im norwegischen Exil blickt zurück auf die "großen Verwerfungen der 2030er Jahre" und erwähnt, dass viele Länder sich "noch immer im Bürgerkrieg" befinden, während Deutschland in geheimnisvolle "Zonen" eingeteilt ist. Die Folgen des Klimawandels sind da stark zu spüren. Aus dieser Realität heraus stellt er sich die Frage: Wann ging eigentlich alles schief?
Eine der Antworten lautet: "Ich kann mich an den Moment erinnern, 2016 oder 2017, als ich plötzlich das Gefühl hatte, die Realität sei irreal geworden. Als hätte die Zeit irgendwann nach 2001 auf dem Pfad mit seinen vielen Möglichkeiten eine falsche Abzweigung genommen und als befänden wir uns nun aufgrund dieses Versehens oder Unfalls oder was auch immer in einer falschen Version der Welt. Wir redeten uns wieder und wieder ein, wie gut es uns ging. Wir spendeten per automatischem Dauerauftrag 50 Euro Jahresbeitrag an Amnesty International."
In diesen Spalt zwischen "Doing good and doing well" (so die Überschrift eines Roman-Abschnitts) schreibt Steinaecker sein immer satirischer wirkendes Porträt einer Generation Weltflucht, die irgendwann doch von dieser Welt eingeholt wird - auch durch die Konfrontation mit den Ansichten ihrer Kinder.
Vorher aber treibt sie es noch ordentlich weit: Der Erzähler wohnt da in einer surrealen Siedlung, die "Strawberry Fields" genannt wird, und beim Betreten einer viel zu schönen VR- Retro-Animation seines Kindheitsdorfes gerät er an einen Kipp-Punkt, der Ton wird ganz märchenhaft: "Da überkam mich eine heiße Lust, hierzubleiben. Nur noch um die Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen, würde ich in die Wirklichkeit zurückkehren."
Vor solchem Realitätsverlust bewahrt ihn ein Freund und vielleicht auch eine leitmotivisch wiederkehrende "Zecke", die seit Kindheitstagen an ihm saugt und mit der Stimme eines Nachrichtensprechers ihm Dinge einflüstert, wenn sie auch nicht zu finden ist. Es ist die Zecke des schlechten Gewissens. Ein weiterer Schlüssel zu diesem Roman ist, wie häufig in ihm der Begriff "Version" vorkommt: Als andere, als jüngere, als weisere Version begegnen uns darin Menschen oder ihre Avatare. Das Buch über die "Privilegierten" ist, bei aller erzählerischen Komplexität, geprägt von dem einfachen, nicht zu überhörenden Appell: Sei die beste Version deiner selbst. JAN WIELE
Thomas von Steinaecker: "Die Privilegierten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 624 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was hat uns bloß so ruiniert? Thomas von Steinaecker fragt in seinem satirischen Roman "Die Privilegierten", welche Zukunft der eskapistischen Generation droht
Was machen die Menschen, wenn die Apokalypse vor der Tür steht? Die Romane Cormac McCarthys vermitteln eine Vorstellung davon, wie sie einander noch mehr zu Wölfen werden. In Bov Bjergs jüngst erschienenem Roman "Der Vorweiner" nehmen sie sich, sofern sie noch können, einen "Trauer-Gastarbeiter", der sie bedauert. Und in Thomas von Steinaeckers neuem Roman "Die Privilegierten" setzen sie sich eine Virtual-Reality-Brille auf und werden Teilnehmer einer Retro-Spielshow mit Frank Elstner.
Wer gerade noch überlegt, welche Option wohl die schlimmste ist, droht den Anschluss zu verpassen: Denn Steinaeckers Roman ist von einer komplexen Struktur, die etwas erläutert werden will. Die Rahmenerzählung in knappem Tagebuchstil wirkt einfach und eindringlich. Die restlichen knapp sechshundert Seiten sind verwickelte Reflexionsprosa.
Das eine bedingt das andere: Zunächst begegnen wir einem Erzähler in einer Extremsituation. Allein in norwegischer Einöde, protokolliert er im Sekundenstil, wie die Chancen seines Überlebens stehen: Er zählt seine Hühner und Eier sowie die benötigten Schmerztabletten, überlegt, wie viel Energie in verschiedener Hinsicht ihm noch bleibt. Wir erfahren, dass er schon seit vier Jahren auf seinem Außenposten ist. Warum, das wird nur angedeutet, er erzählt es einer Katze: "Selbstbeschäftigung? Mission? Ablenkung?"
Ferner notiert der Einsiedler: "Nachts wach. Intensive Erinnerungen. Nach weiß nicht wie langer Zeit wieder. Plötzlich Brigitte vor Augen. In Jung. Das Gefühl ihres warmen Körpers. Masturbation. Zweimal hintereinander. Später von Samy geträumt. Schrien uns an." Dann spitzt sich die Lage zu. Ein Wolfsrudel nähert sich, die Katze stirbt, und ein Eintrag endet so: "Die einzige Möglichkeit, jetzt nicht verrückt zu werden, ist, meine Vergangenheit zu sortieren. Warum ich hier bin. Wie ich lernte, die Menschen zu hassen."
Das ist der Einstieg zu den sechshundert Seiten Reflexion: Auf diesen will jemand Rechenschaft ablegen. Über das eigene Leben, scheint es zunächst, über Beziehungen und Brüche - aber dann wird aus dem "Ich" immer öfter auch ein "Wir", in dessen Namen der Erzähler spricht, und somit klar, dass er seine ganze Generation meint.
Thomas von Steinaecker, geboren 1977, hat mit diesem Erzähler vielleicht einiges gemeinsam, aber das scheint für die Interpretation seines neuen Roman nicht entscheidend zu sein. Vielmehr werden alle Leser, die die Neunzigerjahre erlebt haben, und erst recht diejenigen, die in ihnen jung waren, sehr vieles wiedererkennen, was damals die Nachrichten und die Popkultur bestimmt hat.
Steinaecker liefert zunächst eine Art Pop-Bildungsroman der Achtziger und Neunziger, zwischen Alf, Bill Cosby und Nivea-Creme. Es geht um die Generation der Fernsehkinder - man könnte auch sagen: um die Generation Golf, denn mit Florian Illies' gleichnamigem, einst sehr populärem Sachbuch hat dieser Teil des Romans auch viel gemeinsam.
Aber das Gefühl von Wohlstandsgeborgenheit wird bald flankiert von der kritischen Einsicht, man lebe nur auf Kosten anderer im Schlaraffenland (unter einem deutlichen Hinweis auf das gleichnamige Bruegel-Gemälde). Und dann folgt die diffuse Einsicht, es sei damals etwas "nicht wieder Gutzumachendes passiert".
Was das war, darum dreht sich der Rest des Romans und kann es doch nie recht einkreisen. Aus den Medienkindern werden Eltern, die von Beruf Mediengestalter sind. Der Erzähler selbst, in der Jugend noch getrieben von Weltrettungsideen, wird nun zum Designer von Weltfluchten: So ist er etwa mit der Entwicklung jener "VR-Retro-Version" der Spielshow "Jeopardy" befasst, in der Erwachsene des Jahres 2019 sich mit Hologrammen der "Gesichter ihrer Kindheit" ablenken vom eigentlichen Leben. Das Hologramm von Frank Elstner, so liest man, verfügt sogar "über ein Smalltalk-Programm". Als kreativer Zeitzeuge ist der Erzähler bald Teil einer regelrechten Retro-Industrie, in der die Spieler auch Helden historischer Ereignisse werden können - oder eben im Kopfkino einer ewigen Jugend verharren, zwischen Michael Jackson, R.E.M. und Nirvana (auf teils amüsante Weise verhandelt der Roman auch die Frage, ob die Musik der Neunziger so schlecht ist wie ihr Ruf).
Dem Romanleser wird indessen klar, dass die Erzählzeit schon viel weiter vorangeschritten und auch unsere Gegenwart darin längst Vergangenheit ist. Der Erzähler im norwegischen Exil blickt zurück auf die "großen Verwerfungen der 2030er Jahre" und erwähnt, dass viele Länder sich "noch immer im Bürgerkrieg" befinden, während Deutschland in geheimnisvolle "Zonen" eingeteilt ist. Die Folgen des Klimawandels sind da stark zu spüren. Aus dieser Realität heraus stellt er sich die Frage: Wann ging eigentlich alles schief?
Eine der Antworten lautet: "Ich kann mich an den Moment erinnern, 2016 oder 2017, als ich plötzlich das Gefühl hatte, die Realität sei irreal geworden. Als hätte die Zeit irgendwann nach 2001 auf dem Pfad mit seinen vielen Möglichkeiten eine falsche Abzweigung genommen und als befänden wir uns nun aufgrund dieses Versehens oder Unfalls oder was auch immer in einer falschen Version der Welt. Wir redeten uns wieder und wieder ein, wie gut es uns ging. Wir spendeten per automatischem Dauerauftrag 50 Euro Jahresbeitrag an Amnesty International."
In diesen Spalt zwischen "Doing good and doing well" (so die Überschrift eines Roman-Abschnitts) schreibt Steinaecker sein immer satirischer wirkendes Porträt einer Generation Weltflucht, die irgendwann doch von dieser Welt eingeholt wird - auch durch die Konfrontation mit den Ansichten ihrer Kinder.
Vorher aber treibt sie es noch ordentlich weit: Der Erzähler wohnt da in einer surrealen Siedlung, die "Strawberry Fields" genannt wird, und beim Betreten einer viel zu schönen VR- Retro-Animation seines Kindheitsdorfes gerät er an einen Kipp-Punkt, der Ton wird ganz märchenhaft: "Da überkam mich eine heiße Lust, hierzubleiben. Nur noch um die Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen, würde ich in die Wirklichkeit zurückkehren."
Vor solchem Realitätsverlust bewahrt ihn ein Freund und vielleicht auch eine leitmotivisch wiederkehrende "Zecke", die seit Kindheitstagen an ihm saugt und mit der Stimme eines Nachrichtensprechers ihm Dinge einflüstert, wenn sie auch nicht zu finden ist. Es ist die Zecke des schlechten Gewissens. Ein weiterer Schlüssel zu diesem Roman ist, wie häufig in ihm der Begriff "Version" vorkommt: Als andere, als jüngere, als weisere Version begegnen uns darin Menschen oder ihre Avatare. Das Buch über die "Privilegierten" ist, bei aller erzählerischen Komplexität, geprägt von dem einfachen, nicht zu überhörenden Appell: Sei die beste Version deiner selbst. JAN WIELE
Thomas von Steinaecker: "Die Privilegierten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 624 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.09.2023Ein kalter Hauch von Zukunft
Der Autor und Filmemacher Thomas von Steinaecker lässt seinen großen neuen Roman „Die Privilegierten“
in den Achtzigerjahren beginnen und über die Gegenwart hinausgleiten. Inspirieren lassen hat er sich von Stephen King
VON CHRISTIAN JOOSS-BERNAU
Es fühlt sich an, als wäre man in einer modifizierten Version einer Nordland-Story von Jack London gelandet. Tagebuchnotizen eines Erzählers, auf sich zurückgeworfen in der Wildnis, irgendwo in Norwegen. Fingerkuppen, die sich schon verfärben, rationierte Schmerzmittel. Und dann ein Gegenüber, eine kranke Katze, die kurz wirkt wie Rettung vor der Einsamkeit und wenige Seiten später von Vögeln zerfetzt im Schnee liegt. Schnitt.
Sprung zurück in den Sommer 1986. Sprung nach Oberviechtach. Nördlich von Regensburg. Damals noch Zonenrandgebiet. Der Ich-Erzähler als Kind. Er darf Fernsehen gucken. Die Großeltern sind da. Das Telefon klingelt. Er sieht die Tagesschau. Kratzt sich am Ohr. Eine Zecke, die die Großmutter entfernt. Ihr Kopf bleibt stecken. Am nächsten Tag erfährt er: Seine Eltern sind von einem Zug auf einem Bahnübergang auf dem Weg nach Weiden getötet worden. Von da an sitzt die Zecke in seinem Kopf. Sie spricht mit ihm mit der Stimme des Tagesschau-Sprechers Werner Veigel.
„Die Privilegierten“ heißt das gerade erschienene mehr als 600 Seiten starke Großwerk von Thomas von Steinaecker, den man telefonisch in Augsburg, wo er lebt, erreicht. Es ist sein fünfter Roman. Im Portfolio seines Schaffens finden sich ferner ein Sachbuch, zwei Graphic Novels, eine lange Liste Hörspiele, gut zwei Handvoll großer Fernsehdokumentationen über Künstler von John Cage bis Werner Herzog, Erzählungen und dies und das. Unmöglich, das in ein Gespräch zu fassen.
„Ist ein bisschen viel geworden in den letzten Jahren“, sagt Steinaecker mit Bescheidenheit ohne Koketterie. Im Oktober wird bei Arte ein Film über Otfried Preußler gesendet. Im Entstehen ist ein Film über einen italienischen Komponisten in Venedig. Einen neuen Roman hat er auch gerade angefangen, und eine Art Nachfolger zu seinem Sachbuch über gescheiterte Kunstwerke ist auch geplant: über Versionen und Fassungen von Kunstwerken.
2016 ist sein letzter Roman erschienen, da hatte er „Die Privilegierten“ schon begonnen. „Die ersten Hundert Seiten habe ich bestimmt sieben-, achtmal komplett neu geschrieben. Ich musste mir klar werden: Was sind das für Menschen?“ Das hat ihn die ersten drei Jahre gekostet. Der erste Teil erzählt die Kindheit von Bastian, von den Eltern benannt nach der Hauptfigur in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“, Ilie und Madita. Dem Waisenjungen, der bei seinem bildungsbürgerlichen Professorenopa aufwächst, dem Sohn rumänischer Eltern und einem ökologisch bewegten Mädchen, dass sich mit dem festen Willen, die Welt besser zu machen, zum Außenseiter macht.
Thomas von Steinaecker wurde 1977 in Traunstein geboren und wuchs bis er zwölf war in Oberviechtach auf, einem „Kuhdorf im besten Sinne“. Interessanterweise hier aber nicht als Kuhdorf ins Bild gesetzt, sondern als Neubausiedlung am Rande des Ortes präsentiert. Ein Neubaugebiet im Entstehen, architektonisch geplant noch von Bastians Eltern, aber noch nicht ganz fertiggestellt. „Das Neubaugebiet ist Aufbruch ins Offene“, sagt Thomas von Steinaecker, fasziniert ist er von Wegen, die noch nicht fertig sind. Straßen die schon sind, Häuser, die noch nicht sind, „und die Kabel schauen überall raus.“ Die große Frage: „Was wird da wohl entstehen?“
Fernsehsendungen, die Lichtstimmung eines Tages, das Geräusch der Ketten rollender Panzer auf dem Asphalt – immer wieder fliegen einen im ersten Teil des Romans Bilder an, die starke Stimmungen evozieren. Es funktioniert ähnlich wie das Pop-Konzept der Hauntology, wo Soundsplitter beim Hörer im Unterbewusstsein Vergrabenes aufwühlen. Gleichzeitig liegt wie ein Farbfilter etwas über der Erzählung aus dieser letzten Prä-Internet-Generation. Eine kleines Moment der Unwirklichkeit, des Nicht-Authentischen. Denn die drei Freunde wissen, dass ihre klassische Coming-of-Age-Geschichte sich an medialen Vorbildern orientiert.
So gründen sie einen Klub der Katze und kämpfen gegen Bastians Zecke, schwören sich zusammenzustehen im Kampf gegen das Böse und bringen selber Stephen King ins Spiel. Sieben Kinder gründen in dessen Roman „Es“ einen Klub der Verlierer und kämpfen gegen das gestaltwandelnde böse Prinzip. Thomas von Steinaecker hat King selber erst zu der Zeit entdeckt, als er mit der Arbeit an „Die Privilegierten“ begann: „Ich kannte Stephen King nur als Namen, hab mich aber immer als Schüler geweigert, das zu lesen, weil wahrscheinlich alle den toll fanden, und dann durfte ich das auf gar keinen Fall toll finden.“ 2016 hat er dann vieles in einem Sommer nachgeholt.
Es hat ihn überwältigt: „Ich bin großer Tolstoi-Fan, aber für mich steht ,Es‘ direkt daneben.“ Begeistert haben ihn die kunstvolle Konstruktion des Romans und seine Übergänge zwischen den Zeitebenen: „Das hat auch so eine unglaubliche menschliche Tiefe.“ Stephen King ist Lehrmeister für das eigene Erzählen. Mit King läuft man solange durch die Straßen von Derry, bis man glaubt, jedes Eck zu kennen. Auch Thomas von Steinaeckers Roman entwickelt sich wie eine Landkarte, was ihm selber allerdings gar nicht so bewusst war: „Es ist ja auch sehr autobiografisch. Insofern musste ich die Orte gar nicht erfinden, sondern hatte sie immer vor Augen.“
Er selber durfte wie Bastian kaum fernsehgucken außer mal einen Film mit Heinz Rühmann oder „Wetten, dass ..?!“ als Familienereignis. „Alles was so Populärkultur ist, stand unter einem Verdacht des Schunds und der geistigen Schädigung, und deswegen durfte man es nur in Maßen konsumieren.“ Den Rest des Fernsehwissens hat er sich heimlich angeeignet: „Daher kommt wahrscheinlich auch diese Obsession.“
Wie Kings „Es“ teilt sich auch Steinaeckers Roman in zwei Teile. Wie bei King begegnet man nach einem Kapitel, das die Handlung um Jahre vorspult, den Kindheitsfreunden als Erwachsenen wieder. Bastian ist verheiratet mit Brigitte, sie haben einen Sohn, Samy. Bastian arbeitet für einen großen Fernsehsender in Unterföhring und ist gerade damit beschäftigt „Jeopardy“ mit Frank Elstner als Virtual-Reality-Game zu konzipieren. Ilie spielt das große Finanz-Game in Zürich und trinkt zu viel. Madita rettet die Welt beruflich. Der Klub der Katze ist mehr Nostalgie als gelebte Gegenwart.
Der Farbfilter der Vergangenheit ist einem hochauflösenden digitalen Bild gewichen. Allerdings: Zwischen Realität und dem, was neu berechnet wurde, ist auch nur eine VR-Brille. Die Einzigartigkeit des Erlebens diffundiert. Und plötzlich merkt man, dass der Roman sich aus der Gegenwart in die Zukunft hinübererzählt hat. Hier passieren keine klassischen Science-Fiction-Dinge. Nur hat sich die Gegenwart auf unangenehme Weise aufgebläht. Die spracherkennende Steuerungsstation Alexa ist zum Ansprechpartner der Familie geworden, und es wird soweit kommen, dass Bastians Frau Unterhaltungen mit Alexa führt, die mit der Stimme ihrer toten Mutter antwortet.
Hinter dem Neubaugebiet in dem Bastian wohnt, werden die Erdbeerfelder aufgelöst und Sonnenkollektoren aufgestellt. Ein Brachland entsteht, das die Wohlhabenden von der Siedlung der sozial Schwachen trennt und in dem man einen Widerschein der Einöde der Barrens erkennen kann, wie sie sich bei Stephen King ausbreitet. Gesellschaftliche Verwerfungen prägen die Topografie der „Privilegierten“.
Um 2017, 2018 begann Steinaecker mit dem Romanteil, in dem Virtual Reality wichtig wird. Durch KI machte das Ganze nach den Corona-Jahren einen großen Sprung. „Was am Anfang des Entstehens des Romans noch als Science Fiction schien, ist jetzt komplette Gegenwart geworden. Das Vergehen der Zeit ist mir auch beim Schreiben sehr bewusst geworden.“
Bastians Sohn Samy erlebt Zukunft nicht mehr als Versprechen, sondern als Drohung. Bastian wird kurz bevor vieles zerfällt seiner mit kleinen digitalen Fehlern virtualisierten Frau wieder begegnen. Ein langer Weg ist es vom Thomas Mann liebenden Großvater in Oberviechtach zur umzäunten und vor dem anderen Teil der Gesellschaft geschützten Wohnanlage. „Ich träumte von meinem Großvater. Wir saßen an einem Tisch mit schimmernder Metalloberfläche und schwiegen.“
Die Welt des Bildungsbürgertum scheint in der neu vernetzten Welt keinen Platz mehr zu haben. Betrachtet man Thomas Steinaeckers Filmschaffen, das Kunstgrößen hinterherspürt, ahnt man die nagende Wehmut über die zersetzende Kraft der Zeit. „Das ist die Frage, die der Roman insgesamt stellt. Die Frage, was die Rolle der Hochkultur heute und in Zukunft sein könnte und wozu man sie braucht.“ Die frühen Neunziger, sie sind die Sehnsuchtszeit im ersten Teil des Romans, eine „goldene Zeit“, nennt sie Steinaecker. Ein viel diskutiertes Buch postulierte damals das Ende der Geschichte. Es ist anders gekommen.
Thomas von Steinaecker, „Die Privilegierten“, S. Fischer Verlag, 624 Seiten, 24 Euro, Lesung: Donnerstag, 28. September, 19.30 Uhr, Seidlvilla Nikolaiplatz 1b, ☏ 089/129 06 77
Aufgewachsen ist er in
Oberviechtach, wie der
Ich-Erzähler seines Romans
Die Welt der Bildungsbürger
scheint in der neu vernetzten
Welt keinen Platz mehr zu haben
„Alles was so Populärkultur ist, stand unter einem Verdacht des Schunds und der geistigen Schädigung, und deswegen durfte man es nur in Maßen konsumieren.“ Die Bildungslücke hat Thomas von Steinaecker später selbständig geschlossen.
Foto: Isolde Ohlbaum
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Der Autor und Filmemacher Thomas von Steinaecker lässt seinen großen neuen Roman „Die Privilegierten“
in den Achtzigerjahren beginnen und über die Gegenwart hinausgleiten. Inspirieren lassen hat er sich von Stephen King
VON CHRISTIAN JOOSS-BERNAU
Es fühlt sich an, als wäre man in einer modifizierten Version einer Nordland-Story von Jack London gelandet. Tagebuchnotizen eines Erzählers, auf sich zurückgeworfen in der Wildnis, irgendwo in Norwegen. Fingerkuppen, die sich schon verfärben, rationierte Schmerzmittel. Und dann ein Gegenüber, eine kranke Katze, die kurz wirkt wie Rettung vor der Einsamkeit und wenige Seiten später von Vögeln zerfetzt im Schnee liegt. Schnitt.
Sprung zurück in den Sommer 1986. Sprung nach Oberviechtach. Nördlich von Regensburg. Damals noch Zonenrandgebiet. Der Ich-Erzähler als Kind. Er darf Fernsehen gucken. Die Großeltern sind da. Das Telefon klingelt. Er sieht die Tagesschau. Kratzt sich am Ohr. Eine Zecke, die die Großmutter entfernt. Ihr Kopf bleibt stecken. Am nächsten Tag erfährt er: Seine Eltern sind von einem Zug auf einem Bahnübergang auf dem Weg nach Weiden getötet worden. Von da an sitzt die Zecke in seinem Kopf. Sie spricht mit ihm mit der Stimme des Tagesschau-Sprechers Werner Veigel.
„Die Privilegierten“ heißt das gerade erschienene mehr als 600 Seiten starke Großwerk von Thomas von Steinaecker, den man telefonisch in Augsburg, wo er lebt, erreicht. Es ist sein fünfter Roman. Im Portfolio seines Schaffens finden sich ferner ein Sachbuch, zwei Graphic Novels, eine lange Liste Hörspiele, gut zwei Handvoll großer Fernsehdokumentationen über Künstler von John Cage bis Werner Herzog, Erzählungen und dies und das. Unmöglich, das in ein Gespräch zu fassen.
„Ist ein bisschen viel geworden in den letzten Jahren“, sagt Steinaecker mit Bescheidenheit ohne Koketterie. Im Oktober wird bei Arte ein Film über Otfried Preußler gesendet. Im Entstehen ist ein Film über einen italienischen Komponisten in Venedig. Einen neuen Roman hat er auch gerade angefangen, und eine Art Nachfolger zu seinem Sachbuch über gescheiterte Kunstwerke ist auch geplant: über Versionen und Fassungen von Kunstwerken.
2016 ist sein letzter Roman erschienen, da hatte er „Die Privilegierten“ schon begonnen. „Die ersten Hundert Seiten habe ich bestimmt sieben-, achtmal komplett neu geschrieben. Ich musste mir klar werden: Was sind das für Menschen?“ Das hat ihn die ersten drei Jahre gekostet. Der erste Teil erzählt die Kindheit von Bastian, von den Eltern benannt nach der Hauptfigur in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“, Ilie und Madita. Dem Waisenjungen, der bei seinem bildungsbürgerlichen Professorenopa aufwächst, dem Sohn rumänischer Eltern und einem ökologisch bewegten Mädchen, dass sich mit dem festen Willen, die Welt besser zu machen, zum Außenseiter macht.
Thomas von Steinaecker wurde 1977 in Traunstein geboren und wuchs bis er zwölf war in Oberviechtach auf, einem „Kuhdorf im besten Sinne“. Interessanterweise hier aber nicht als Kuhdorf ins Bild gesetzt, sondern als Neubausiedlung am Rande des Ortes präsentiert. Ein Neubaugebiet im Entstehen, architektonisch geplant noch von Bastians Eltern, aber noch nicht ganz fertiggestellt. „Das Neubaugebiet ist Aufbruch ins Offene“, sagt Thomas von Steinaecker, fasziniert ist er von Wegen, die noch nicht fertig sind. Straßen die schon sind, Häuser, die noch nicht sind, „und die Kabel schauen überall raus.“ Die große Frage: „Was wird da wohl entstehen?“
Fernsehsendungen, die Lichtstimmung eines Tages, das Geräusch der Ketten rollender Panzer auf dem Asphalt – immer wieder fliegen einen im ersten Teil des Romans Bilder an, die starke Stimmungen evozieren. Es funktioniert ähnlich wie das Pop-Konzept der Hauntology, wo Soundsplitter beim Hörer im Unterbewusstsein Vergrabenes aufwühlen. Gleichzeitig liegt wie ein Farbfilter etwas über der Erzählung aus dieser letzten Prä-Internet-Generation. Eine kleines Moment der Unwirklichkeit, des Nicht-Authentischen. Denn die drei Freunde wissen, dass ihre klassische Coming-of-Age-Geschichte sich an medialen Vorbildern orientiert.
So gründen sie einen Klub der Katze und kämpfen gegen Bastians Zecke, schwören sich zusammenzustehen im Kampf gegen das Böse und bringen selber Stephen King ins Spiel. Sieben Kinder gründen in dessen Roman „Es“ einen Klub der Verlierer und kämpfen gegen das gestaltwandelnde böse Prinzip. Thomas von Steinaecker hat King selber erst zu der Zeit entdeckt, als er mit der Arbeit an „Die Privilegierten“ begann: „Ich kannte Stephen King nur als Namen, hab mich aber immer als Schüler geweigert, das zu lesen, weil wahrscheinlich alle den toll fanden, und dann durfte ich das auf gar keinen Fall toll finden.“ 2016 hat er dann vieles in einem Sommer nachgeholt.
Es hat ihn überwältigt: „Ich bin großer Tolstoi-Fan, aber für mich steht ,Es‘ direkt daneben.“ Begeistert haben ihn die kunstvolle Konstruktion des Romans und seine Übergänge zwischen den Zeitebenen: „Das hat auch so eine unglaubliche menschliche Tiefe.“ Stephen King ist Lehrmeister für das eigene Erzählen. Mit King läuft man solange durch die Straßen von Derry, bis man glaubt, jedes Eck zu kennen. Auch Thomas von Steinaeckers Roman entwickelt sich wie eine Landkarte, was ihm selber allerdings gar nicht so bewusst war: „Es ist ja auch sehr autobiografisch. Insofern musste ich die Orte gar nicht erfinden, sondern hatte sie immer vor Augen.“
Er selber durfte wie Bastian kaum fernsehgucken außer mal einen Film mit Heinz Rühmann oder „Wetten, dass ..?!“ als Familienereignis. „Alles was so Populärkultur ist, stand unter einem Verdacht des Schunds und der geistigen Schädigung, und deswegen durfte man es nur in Maßen konsumieren.“ Den Rest des Fernsehwissens hat er sich heimlich angeeignet: „Daher kommt wahrscheinlich auch diese Obsession.“
Wie Kings „Es“ teilt sich auch Steinaeckers Roman in zwei Teile. Wie bei King begegnet man nach einem Kapitel, das die Handlung um Jahre vorspult, den Kindheitsfreunden als Erwachsenen wieder. Bastian ist verheiratet mit Brigitte, sie haben einen Sohn, Samy. Bastian arbeitet für einen großen Fernsehsender in Unterföhring und ist gerade damit beschäftigt „Jeopardy“ mit Frank Elstner als Virtual-Reality-Game zu konzipieren. Ilie spielt das große Finanz-Game in Zürich und trinkt zu viel. Madita rettet die Welt beruflich. Der Klub der Katze ist mehr Nostalgie als gelebte Gegenwart.
Der Farbfilter der Vergangenheit ist einem hochauflösenden digitalen Bild gewichen. Allerdings: Zwischen Realität und dem, was neu berechnet wurde, ist auch nur eine VR-Brille. Die Einzigartigkeit des Erlebens diffundiert. Und plötzlich merkt man, dass der Roman sich aus der Gegenwart in die Zukunft hinübererzählt hat. Hier passieren keine klassischen Science-Fiction-Dinge. Nur hat sich die Gegenwart auf unangenehme Weise aufgebläht. Die spracherkennende Steuerungsstation Alexa ist zum Ansprechpartner der Familie geworden, und es wird soweit kommen, dass Bastians Frau Unterhaltungen mit Alexa führt, die mit der Stimme ihrer toten Mutter antwortet.
Hinter dem Neubaugebiet in dem Bastian wohnt, werden die Erdbeerfelder aufgelöst und Sonnenkollektoren aufgestellt. Ein Brachland entsteht, das die Wohlhabenden von der Siedlung der sozial Schwachen trennt und in dem man einen Widerschein der Einöde der Barrens erkennen kann, wie sie sich bei Stephen King ausbreitet. Gesellschaftliche Verwerfungen prägen die Topografie der „Privilegierten“.
Um 2017, 2018 begann Steinaecker mit dem Romanteil, in dem Virtual Reality wichtig wird. Durch KI machte das Ganze nach den Corona-Jahren einen großen Sprung. „Was am Anfang des Entstehens des Romans noch als Science Fiction schien, ist jetzt komplette Gegenwart geworden. Das Vergehen der Zeit ist mir auch beim Schreiben sehr bewusst geworden.“
Bastians Sohn Samy erlebt Zukunft nicht mehr als Versprechen, sondern als Drohung. Bastian wird kurz bevor vieles zerfällt seiner mit kleinen digitalen Fehlern virtualisierten Frau wieder begegnen. Ein langer Weg ist es vom Thomas Mann liebenden Großvater in Oberviechtach zur umzäunten und vor dem anderen Teil der Gesellschaft geschützten Wohnanlage. „Ich träumte von meinem Großvater. Wir saßen an einem Tisch mit schimmernder Metalloberfläche und schwiegen.“
Die Welt des Bildungsbürgertum scheint in der neu vernetzten Welt keinen Platz mehr zu haben. Betrachtet man Thomas Steinaeckers Filmschaffen, das Kunstgrößen hinterherspürt, ahnt man die nagende Wehmut über die zersetzende Kraft der Zeit. „Das ist die Frage, die der Roman insgesamt stellt. Die Frage, was die Rolle der Hochkultur heute und in Zukunft sein könnte und wozu man sie braucht.“ Die frühen Neunziger, sie sind die Sehnsuchtszeit im ersten Teil des Romans, eine „goldene Zeit“, nennt sie Steinaecker. Ein viel diskutiertes Buch postulierte damals das Ende der Geschichte. Es ist anders gekommen.
Thomas von Steinaecker, „Die Privilegierten“, S. Fischer Verlag, 624 Seiten, 24 Euro, Lesung: Donnerstag, 28. September, 19.30 Uhr, Seidlvilla Nikolaiplatz 1b, ☏ 089/129 06 77
Aufgewachsen ist er in
Oberviechtach, wie der
Ich-Erzähler seines Romans
Die Welt der Bildungsbürger
scheint in der neu vernetzten
Welt keinen Platz mehr zu haben
„Alles was so Populärkultur ist, stand unter einem Verdacht des Schunds und der geistigen Schädigung, und deswegen durfte man es nur in Maßen konsumieren.“ Die Bildungslücke hat Thomas von Steinaecker später selbständig geschlossen.
Foto: Isolde Ohlbaum
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Steinaecker gelingt [...] das Kunststück, so ehrlich und reflektiert von den großen und kleinen Dramen des Lebens zu erzählen, dass die Lektüre immer spannend bleibt. Laura Freisberg Bayern 2 (Diwan) 20230923
Die falsche Version der Welt
Was hat uns bloß so ruiniert? Thomas von Steinaecker fragt in seinem satirischen Roman "Die Privilegierten", welche Zukunft der eskapistischen Generation droht
Was machen die Menschen, wenn die Apokalypse vor der Tür steht? Die Romane Cormac McCarthys vermitteln eine Vorstellung davon, wie sie einander noch mehr zu Wölfen werden. In Bov Bjergs jüngst erschienenem Roman "Der Vorweiner" nehmen sie sich, sofern sie noch können, einen "Trauer-Gastarbeiter", der sie bedauert. Und in Thomas von Steinaeckers neuem Roman "Die Privilegierten" setzen sie sich eine Virtual-Reality-Brille auf und werden Teilnehmer einer Retro-Spielshow mit Frank Elstner.
Wer gerade noch überlegt, welche Option wohl die schlimmste ist, droht den Anschluss zu verpassen: Denn Steinaeckers Roman ist von einer komplexen Struktur, die etwas erläutert werden will. Die Rahmenerzählung in knappem Tagebuchstil wirkt einfach und eindringlich. Die restlichen knapp sechshundert Seiten sind verwickelte Reflexionsprosa.
Das eine bedingt das andere: Zunächst begegnen wir einem Erzähler in einer Extremsituation. Allein in norwegischer Einöde, protokolliert er im Sekundenstil, wie die Chancen seines Überlebens stehen: Er zählt seine Hühner und Eier sowie die benötigten Schmerztabletten, überlegt, wie viel Energie in verschiedener Hinsicht ihm noch bleibt. Wir erfahren, dass er schon seit vier Jahren auf seinem Außenposten ist. Warum, das wird nur angedeutet, er erzählt es einer Katze: "Selbstbeschäftigung? Mission? Ablenkung?"
Ferner notiert der Einsiedler: "Nachts wach. Intensive Erinnerungen. Nach weiß nicht wie langer Zeit wieder. Plötzlich Brigitte vor Augen. In Jung. Das Gefühl ihres warmen Körpers. Masturbation. Zweimal hintereinander. Später von Samy geträumt. Schrien uns an." Dann spitzt sich die Lage zu. Ein Wolfsrudel nähert sich, die Katze stirbt, und ein Eintrag endet so: "Die einzige Möglichkeit, jetzt nicht verrückt zu werden, ist, meine Vergangenheit zu sortieren. Warum ich hier bin. Wie ich lernte, die Menschen zu hassen."
Das ist der Einstieg zu den sechshundert Seiten Reflexion: Auf diesen will jemand Rechenschaft ablegen. Über das eigene Leben, scheint es zunächst, über Beziehungen und Brüche - aber dann wird aus dem "Ich" immer öfter auch ein "Wir", in dessen Namen der Erzähler spricht, und somit klar, dass er seine ganze Generation meint.
Thomas von Steinaecker, geboren 1977, hat mit diesem Erzähler vielleicht einiges gemeinsam, aber das scheint für die Interpretation seines neuen Roman nicht entscheidend zu sein. Vielmehr werden alle Leser, die die Neunzigerjahre erlebt haben, und erst recht diejenigen, die in ihnen jung waren, sehr vieles wiedererkennen, was damals die Nachrichten und die Popkultur bestimmt hat.
Steinaecker liefert zunächst eine Art Pop-Bildungsroman der Achtziger und Neunziger, zwischen Alf, Bill Cosby und Nivea-Creme. Es geht um die Generation der Fernsehkinder - man könnte auch sagen: um die Generation Golf, denn mit Florian Illies' gleichnamigem, einst sehr populärem Sachbuch hat dieser Teil des Romans auch viel gemeinsam.
Aber das Gefühl von Wohlstandsgeborgenheit wird bald flankiert von der kritischen Einsicht, man lebe nur auf Kosten anderer im Schlaraffenland (unter einem deutlichen Hinweis auf das gleichnamige Bruegel-Gemälde). Und dann folgt die diffuse Einsicht, es sei damals etwas "nicht wieder Gutzumachendes passiert".
Was das war, darum dreht sich der Rest des Romans und kann es doch nie recht einkreisen. Aus den Medienkindern werden Eltern, die von Beruf Mediengestalter sind. Der Erzähler selbst, in der Jugend noch getrieben von Weltrettungsideen, wird nun zum Designer von Weltfluchten: So ist er etwa mit der Entwicklung jener "VR-Retro-Version" der Spielshow "Jeopardy" befasst, in der Erwachsene des Jahres 2019 sich mit Hologrammen der "Gesichter ihrer Kindheit" ablenken vom eigentlichen Leben. Das Hologramm von Frank Elstner, so liest man, verfügt sogar "über ein Smalltalk-Programm". Als kreativer Zeitzeuge ist der Erzähler bald Teil einer regelrechten Retro-Industrie, in der die Spieler auch Helden historischer Ereignisse werden können - oder eben im Kopfkino einer ewigen Jugend verharren, zwischen Michael Jackson, R.E.M. und Nirvana (auf teils amüsante Weise verhandelt der Roman auch die Frage, ob die Musik der Neunziger so schlecht ist wie ihr Ruf).
Dem Romanleser wird indessen klar, dass die Erzählzeit schon viel weiter vorangeschritten und auch unsere Gegenwart darin längst Vergangenheit ist. Der Erzähler im norwegischen Exil blickt zurück auf die "großen Verwerfungen der 2030er Jahre" und erwähnt, dass viele Länder sich "noch immer im Bürgerkrieg" befinden, während Deutschland in geheimnisvolle "Zonen" eingeteilt ist. Die Folgen des Klimawandels sind da stark zu spüren. Aus dieser Realität heraus stellt er sich die Frage: Wann ging eigentlich alles schief?
Eine der Antworten lautet: "Ich kann mich an den Moment erinnern, 2016 oder 2017, als ich plötzlich das Gefühl hatte, die Realität sei irreal geworden. Als hätte die Zeit irgendwann nach 2001 auf dem Pfad mit seinen vielen Möglichkeiten eine falsche Abzweigung genommen und als befänden wir uns nun aufgrund dieses Versehens oder Unfalls oder was auch immer in einer falschen Version der Welt. Wir redeten uns wieder und wieder ein, wie gut es uns ging. Wir spendeten per automatischem Dauerauftrag 50 Euro Jahresbeitrag an Amnesty International."
In diesen Spalt zwischen "Doing good and doing well" (so die Überschrift eines Roman-Abschnitts) schreibt Steinaecker sein immer satirischer wirkendes Porträt einer Generation Weltflucht, die irgendwann doch von dieser Welt eingeholt wird - auch durch die Konfrontation mit den Ansichten ihrer Kinder.
Vorher aber treibt sie es noch ordentlich weit: Der Erzähler wohnt da in einer surrealen Siedlung, die "Strawberry Fields" genannt wird, und beim Betreten einer viel zu schönen VR- Retro-Animation seines Kindheitsdorfes gerät er an einen Kipp-Punkt, der Ton wird ganz märchenhaft: "Da überkam mich eine heiße Lust, hierzubleiben. Nur noch um die Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen, würde ich in die Wirklichkeit zurückkehren."
Vor solchem Realitätsverlust bewahrt ihn ein Freund und vielleicht auch eine leitmotivisch wiederkehrende "Zecke", die seit Kindheitstagen an ihm saugt und mit der Stimme eines Nachrichtensprechers ihm Dinge einflüstert, wenn sie auch nicht zu finden ist. Es ist die Zecke des schlechten Gewissens. Ein weiterer Schlüssel zu diesem Roman ist, wie häufig in ihm der Begriff "Version" vorkommt: Als andere, als jüngere, als weisere Version begegnen uns darin Menschen oder ihre Avatare. Das Buch über die "Privilegierten" ist, bei aller erzählerischen Komplexität, geprägt von dem einfachen, nicht zu überhörenden Appell: Sei die beste Version deiner selbst. JAN WIELE
Thomas von Steinaecker: "Die Privilegierten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 624 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was hat uns bloß so ruiniert? Thomas von Steinaecker fragt in seinem satirischen Roman "Die Privilegierten", welche Zukunft der eskapistischen Generation droht
Was machen die Menschen, wenn die Apokalypse vor der Tür steht? Die Romane Cormac McCarthys vermitteln eine Vorstellung davon, wie sie einander noch mehr zu Wölfen werden. In Bov Bjergs jüngst erschienenem Roman "Der Vorweiner" nehmen sie sich, sofern sie noch können, einen "Trauer-Gastarbeiter", der sie bedauert. Und in Thomas von Steinaeckers neuem Roman "Die Privilegierten" setzen sie sich eine Virtual-Reality-Brille auf und werden Teilnehmer einer Retro-Spielshow mit Frank Elstner.
Wer gerade noch überlegt, welche Option wohl die schlimmste ist, droht den Anschluss zu verpassen: Denn Steinaeckers Roman ist von einer komplexen Struktur, die etwas erläutert werden will. Die Rahmenerzählung in knappem Tagebuchstil wirkt einfach und eindringlich. Die restlichen knapp sechshundert Seiten sind verwickelte Reflexionsprosa.
Das eine bedingt das andere: Zunächst begegnen wir einem Erzähler in einer Extremsituation. Allein in norwegischer Einöde, protokolliert er im Sekundenstil, wie die Chancen seines Überlebens stehen: Er zählt seine Hühner und Eier sowie die benötigten Schmerztabletten, überlegt, wie viel Energie in verschiedener Hinsicht ihm noch bleibt. Wir erfahren, dass er schon seit vier Jahren auf seinem Außenposten ist. Warum, das wird nur angedeutet, er erzählt es einer Katze: "Selbstbeschäftigung? Mission? Ablenkung?"
Ferner notiert der Einsiedler: "Nachts wach. Intensive Erinnerungen. Nach weiß nicht wie langer Zeit wieder. Plötzlich Brigitte vor Augen. In Jung. Das Gefühl ihres warmen Körpers. Masturbation. Zweimal hintereinander. Später von Samy geträumt. Schrien uns an." Dann spitzt sich die Lage zu. Ein Wolfsrudel nähert sich, die Katze stirbt, und ein Eintrag endet so: "Die einzige Möglichkeit, jetzt nicht verrückt zu werden, ist, meine Vergangenheit zu sortieren. Warum ich hier bin. Wie ich lernte, die Menschen zu hassen."
Das ist der Einstieg zu den sechshundert Seiten Reflexion: Auf diesen will jemand Rechenschaft ablegen. Über das eigene Leben, scheint es zunächst, über Beziehungen und Brüche - aber dann wird aus dem "Ich" immer öfter auch ein "Wir", in dessen Namen der Erzähler spricht, und somit klar, dass er seine ganze Generation meint.
Thomas von Steinaecker, geboren 1977, hat mit diesem Erzähler vielleicht einiges gemeinsam, aber das scheint für die Interpretation seines neuen Roman nicht entscheidend zu sein. Vielmehr werden alle Leser, die die Neunzigerjahre erlebt haben, und erst recht diejenigen, die in ihnen jung waren, sehr vieles wiedererkennen, was damals die Nachrichten und die Popkultur bestimmt hat.
Steinaecker liefert zunächst eine Art Pop-Bildungsroman der Achtziger und Neunziger, zwischen Alf, Bill Cosby und Nivea-Creme. Es geht um die Generation der Fernsehkinder - man könnte auch sagen: um die Generation Golf, denn mit Florian Illies' gleichnamigem, einst sehr populärem Sachbuch hat dieser Teil des Romans auch viel gemeinsam.
Aber das Gefühl von Wohlstandsgeborgenheit wird bald flankiert von der kritischen Einsicht, man lebe nur auf Kosten anderer im Schlaraffenland (unter einem deutlichen Hinweis auf das gleichnamige Bruegel-Gemälde). Und dann folgt die diffuse Einsicht, es sei damals etwas "nicht wieder Gutzumachendes passiert".
Was das war, darum dreht sich der Rest des Romans und kann es doch nie recht einkreisen. Aus den Medienkindern werden Eltern, die von Beruf Mediengestalter sind. Der Erzähler selbst, in der Jugend noch getrieben von Weltrettungsideen, wird nun zum Designer von Weltfluchten: So ist er etwa mit der Entwicklung jener "VR-Retro-Version" der Spielshow "Jeopardy" befasst, in der Erwachsene des Jahres 2019 sich mit Hologrammen der "Gesichter ihrer Kindheit" ablenken vom eigentlichen Leben. Das Hologramm von Frank Elstner, so liest man, verfügt sogar "über ein Smalltalk-Programm". Als kreativer Zeitzeuge ist der Erzähler bald Teil einer regelrechten Retro-Industrie, in der die Spieler auch Helden historischer Ereignisse werden können - oder eben im Kopfkino einer ewigen Jugend verharren, zwischen Michael Jackson, R.E.M. und Nirvana (auf teils amüsante Weise verhandelt der Roman auch die Frage, ob die Musik der Neunziger so schlecht ist wie ihr Ruf).
Dem Romanleser wird indessen klar, dass die Erzählzeit schon viel weiter vorangeschritten und auch unsere Gegenwart darin längst Vergangenheit ist. Der Erzähler im norwegischen Exil blickt zurück auf die "großen Verwerfungen der 2030er Jahre" und erwähnt, dass viele Länder sich "noch immer im Bürgerkrieg" befinden, während Deutschland in geheimnisvolle "Zonen" eingeteilt ist. Die Folgen des Klimawandels sind da stark zu spüren. Aus dieser Realität heraus stellt er sich die Frage: Wann ging eigentlich alles schief?
Eine der Antworten lautet: "Ich kann mich an den Moment erinnern, 2016 oder 2017, als ich plötzlich das Gefühl hatte, die Realität sei irreal geworden. Als hätte die Zeit irgendwann nach 2001 auf dem Pfad mit seinen vielen Möglichkeiten eine falsche Abzweigung genommen und als befänden wir uns nun aufgrund dieses Versehens oder Unfalls oder was auch immer in einer falschen Version der Welt. Wir redeten uns wieder und wieder ein, wie gut es uns ging. Wir spendeten per automatischem Dauerauftrag 50 Euro Jahresbeitrag an Amnesty International."
In diesen Spalt zwischen "Doing good and doing well" (so die Überschrift eines Roman-Abschnitts) schreibt Steinaecker sein immer satirischer wirkendes Porträt einer Generation Weltflucht, die irgendwann doch von dieser Welt eingeholt wird - auch durch die Konfrontation mit den Ansichten ihrer Kinder.
Vorher aber treibt sie es noch ordentlich weit: Der Erzähler wohnt da in einer surrealen Siedlung, die "Strawberry Fields" genannt wird, und beim Betreten einer viel zu schönen VR- Retro-Animation seines Kindheitsdorfes gerät er an einen Kipp-Punkt, der Ton wird ganz märchenhaft: "Da überkam mich eine heiße Lust, hierzubleiben. Nur noch um die Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen, würde ich in die Wirklichkeit zurückkehren."
Vor solchem Realitätsverlust bewahrt ihn ein Freund und vielleicht auch eine leitmotivisch wiederkehrende "Zecke", die seit Kindheitstagen an ihm saugt und mit der Stimme eines Nachrichtensprechers ihm Dinge einflüstert, wenn sie auch nicht zu finden ist. Es ist die Zecke des schlechten Gewissens. Ein weiterer Schlüssel zu diesem Roman ist, wie häufig in ihm der Begriff "Version" vorkommt: Als andere, als jüngere, als weisere Version begegnen uns darin Menschen oder ihre Avatare. Das Buch über die "Privilegierten" ist, bei aller erzählerischen Komplexität, geprägt von dem einfachen, nicht zu überhörenden Appell: Sei die beste Version deiner selbst. JAN WIELE
Thomas von Steinaecker: "Die Privilegierten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 624 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main