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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Was hat uns bloß so ruiniert? Thomas von Steinaecker fragt in seinem satirischen Roman "Die Privilegierten", welche Zukunft der eskapistischen Generation droht
Was machen die Menschen, wenn die Apokalypse vor der Tür steht? Die Romane Cormac McCarthys vermitteln eine Vorstellung davon, wie sie einander noch mehr zu Wölfen werden. In Bov Bjergs jüngst erschienenem Roman "Der Vorweiner" nehmen sie sich, sofern sie noch können, einen "Trauer-Gastarbeiter", der sie bedauert. Und in Thomas von Steinaeckers neuem Roman "Die Privilegierten" setzen sie sich eine Virtual-Reality-Brille auf und werden Teilnehmer einer Retro-Spielshow mit Frank Elstner.
Wer gerade noch überlegt, welche Option wohl die schlimmste ist, droht den Anschluss zu verpassen: Denn Steinaeckers Roman ist von einer komplexen Struktur, die etwas erläutert werden will. Die Rahmenerzählung in knappem Tagebuchstil wirkt einfach und eindringlich. Die restlichen knapp sechshundert Seiten sind verwickelte Reflexionsprosa.
Das eine bedingt das andere: Zunächst begegnen wir einem Erzähler in einer Extremsituation. Allein in norwegischer Einöde, protokolliert er im Sekundenstil, wie die Chancen seines Überlebens stehen: Er zählt seine Hühner und Eier sowie die benötigten Schmerztabletten, überlegt, wie viel Energie in verschiedener Hinsicht ihm noch bleibt. Wir erfahren, dass er schon seit vier Jahren auf seinem Außenposten ist. Warum, das wird nur angedeutet, er erzählt es einer Katze: "Selbstbeschäftigung? Mission? Ablenkung?"
Ferner notiert der Einsiedler: "Nachts wach. Intensive Erinnerungen. Nach weiß nicht wie langer Zeit wieder. Plötzlich Brigitte vor Augen. In Jung. Das Gefühl ihres warmen Körpers. Masturbation. Zweimal hintereinander. Später von Samy geträumt. Schrien uns an." Dann spitzt sich die Lage zu. Ein Wolfsrudel nähert sich, die Katze stirbt, und ein Eintrag endet so: "Die einzige Möglichkeit, jetzt nicht verrückt zu werden, ist, meine Vergangenheit zu sortieren. Warum ich hier bin. Wie ich lernte, die Menschen zu hassen."
Das ist der Einstieg zu den sechshundert Seiten Reflexion: Auf diesen will jemand Rechenschaft ablegen. Über das eigene Leben, scheint es zunächst, über Beziehungen und Brüche - aber dann wird aus dem "Ich" immer öfter auch ein "Wir", in dessen Namen der Erzähler spricht, und somit klar, dass er seine ganze Generation meint.
Thomas von Steinaecker, geboren 1977, hat mit diesem Erzähler vielleicht einiges gemeinsam, aber das scheint für die Interpretation seines neuen Roman nicht entscheidend zu sein. Vielmehr werden alle Leser, die die Neunzigerjahre erlebt haben, und erst recht diejenigen, die in ihnen jung waren, sehr vieles wiedererkennen, was damals die Nachrichten und die Popkultur bestimmt hat.
Steinaecker liefert zunächst eine Art Pop-Bildungsroman der Achtziger und Neunziger, zwischen Alf, Bill Cosby und Nivea-Creme. Es geht um die Generation der Fernsehkinder - man könnte auch sagen: um die Generation Golf, denn mit Florian Illies' gleichnamigem, einst sehr populärem Sachbuch hat dieser Teil des Romans auch viel gemeinsam.
Aber das Gefühl von Wohlstandsgeborgenheit wird bald flankiert von der kritischen Einsicht, man lebe nur auf Kosten anderer im Schlaraffenland (unter einem deutlichen Hinweis auf das gleichnamige Bruegel-Gemälde). Und dann folgt die diffuse Einsicht, es sei damals etwas "nicht wieder Gutzumachendes passiert".
Was das war, darum dreht sich der Rest des Romans und kann es doch nie recht einkreisen. Aus den Medienkindern werden Eltern, die von Beruf Mediengestalter sind. Der Erzähler selbst, in der Jugend noch getrieben von Weltrettungsideen, wird nun zum Designer von Weltfluchten: So ist er etwa mit der Entwicklung jener "VR-Retro-Version" der Spielshow "Jeopardy" befasst, in der Erwachsene des Jahres 2019 sich mit Hologrammen der "Gesichter ihrer Kindheit" ablenken vom eigentlichen Leben. Das Hologramm von Frank Elstner, so liest man, verfügt sogar "über ein Smalltalk-Programm". Als kreativer Zeitzeuge ist der Erzähler bald Teil einer regelrechten Retro-Industrie, in der die Spieler auch Helden historischer Ereignisse werden können - oder eben im Kopfkino einer ewigen Jugend verharren, zwischen Michael Jackson, R.E.M. und Nirvana (auf teils amüsante Weise verhandelt der Roman auch die Frage, ob die Musik der Neunziger so schlecht ist wie ihr Ruf).
Dem Romanleser wird indessen klar, dass die Erzählzeit schon viel weiter vorangeschritten und auch unsere Gegenwart darin längst Vergangenheit ist. Der Erzähler im norwegischen Exil blickt zurück auf die "großen Verwerfungen der 2030er Jahre" und erwähnt, dass viele Länder sich "noch immer im Bürgerkrieg" befinden, während Deutschland in geheimnisvolle "Zonen" eingeteilt ist. Die Folgen des Klimawandels sind da stark zu spüren. Aus dieser Realität heraus stellt er sich die Frage: Wann ging eigentlich alles schief?
Eine der Antworten lautet: "Ich kann mich an den Moment erinnern, 2016 oder 2017, als ich plötzlich das Gefühl hatte, die Realität sei irreal geworden. Als hätte die Zeit irgendwann nach 2001 auf dem Pfad mit seinen vielen Möglichkeiten eine falsche Abzweigung genommen und als befänden wir uns nun aufgrund dieses Versehens oder Unfalls oder was auch immer in einer falschen Version der Welt. Wir redeten uns wieder und wieder ein, wie gut es uns ging. Wir spendeten per automatischem Dauerauftrag 50 Euro Jahresbeitrag an Amnesty International."
In diesen Spalt zwischen "Doing good and doing well" (so die Überschrift eines Roman-Abschnitts) schreibt Steinaecker sein immer satirischer wirkendes Porträt einer Generation Weltflucht, die irgendwann doch von dieser Welt eingeholt wird - auch durch die Konfrontation mit den Ansichten ihrer Kinder.
Vorher aber treibt sie es noch ordentlich weit: Der Erzähler wohnt da in einer surrealen Siedlung, die "Strawberry Fields" genannt wird, und beim Betreten einer viel zu schönen VR- Retro-Animation seines Kindheitsdorfes gerät er an einen Kipp-Punkt, der Ton wird ganz märchenhaft: "Da überkam mich eine heiße Lust, hierzubleiben. Nur noch um die Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen, würde ich in die Wirklichkeit zurückkehren."
Vor solchem Realitätsverlust bewahrt ihn ein Freund und vielleicht auch eine leitmotivisch wiederkehrende "Zecke", die seit Kindheitstagen an ihm saugt und mit der Stimme eines Nachrichtensprechers ihm Dinge einflüstert, wenn sie auch nicht zu finden ist. Es ist die Zecke des schlechten Gewissens. Ein weiterer Schlüssel zu diesem Roman ist, wie häufig in ihm der Begriff "Version" vorkommt: Als andere, als jüngere, als weisere Version begegnen uns darin Menschen oder ihre Avatare. Das Buch über die "Privilegierten" ist, bei aller erzählerischen Komplexität, geprägt von dem einfachen, nicht zu überhörenden Appell: Sei die beste Version deiner selbst. JAN WIELE
Thomas von Steinaecker: "Die Privilegierten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 624 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was hat uns bloß so ruiniert? Thomas von Steinaecker fragt in seinem satirischen Roman "Die Privilegierten", welche Zukunft der eskapistischen Generation droht
Was machen die Menschen, wenn die Apokalypse vor der Tür steht? Die Romane Cormac McCarthys vermitteln eine Vorstellung davon, wie sie einander noch mehr zu Wölfen werden. In Bov Bjergs jüngst erschienenem Roman "Der Vorweiner" nehmen sie sich, sofern sie noch können, einen "Trauer-Gastarbeiter", der sie bedauert. Und in Thomas von Steinaeckers neuem Roman "Die Privilegierten" setzen sie sich eine Virtual-Reality-Brille auf und werden Teilnehmer einer Retro-Spielshow mit Frank Elstner.
Wer gerade noch überlegt, welche Option wohl die schlimmste ist, droht den Anschluss zu verpassen: Denn Steinaeckers Roman ist von einer komplexen Struktur, die etwas erläutert werden will. Die Rahmenerzählung in knappem Tagebuchstil wirkt einfach und eindringlich. Die restlichen knapp sechshundert Seiten sind verwickelte Reflexionsprosa.
Das eine bedingt das andere: Zunächst begegnen wir einem Erzähler in einer Extremsituation. Allein in norwegischer Einöde, protokolliert er im Sekundenstil, wie die Chancen seines Überlebens stehen: Er zählt seine Hühner und Eier sowie die benötigten Schmerztabletten, überlegt, wie viel Energie in verschiedener Hinsicht ihm noch bleibt. Wir erfahren, dass er schon seit vier Jahren auf seinem Außenposten ist. Warum, das wird nur angedeutet, er erzählt es einer Katze: "Selbstbeschäftigung? Mission? Ablenkung?"
Ferner notiert der Einsiedler: "Nachts wach. Intensive Erinnerungen. Nach weiß nicht wie langer Zeit wieder. Plötzlich Brigitte vor Augen. In Jung. Das Gefühl ihres warmen Körpers. Masturbation. Zweimal hintereinander. Später von Samy geträumt. Schrien uns an." Dann spitzt sich die Lage zu. Ein Wolfsrudel nähert sich, die Katze stirbt, und ein Eintrag endet so: "Die einzige Möglichkeit, jetzt nicht verrückt zu werden, ist, meine Vergangenheit zu sortieren. Warum ich hier bin. Wie ich lernte, die Menschen zu hassen."
Das ist der Einstieg zu den sechshundert Seiten Reflexion: Auf diesen will jemand Rechenschaft ablegen. Über das eigene Leben, scheint es zunächst, über Beziehungen und Brüche - aber dann wird aus dem "Ich" immer öfter auch ein "Wir", in dessen Namen der Erzähler spricht, und somit klar, dass er seine ganze Generation meint.
Thomas von Steinaecker, geboren 1977, hat mit diesem Erzähler vielleicht einiges gemeinsam, aber das scheint für die Interpretation seines neuen Roman nicht entscheidend zu sein. Vielmehr werden alle Leser, die die Neunzigerjahre erlebt haben, und erst recht diejenigen, die in ihnen jung waren, sehr vieles wiedererkennen, was damals die Nachrichten und die Popkultur bestimmt hat.
Steinaecker liefert zunächst eine Art Pop-Bildungsroman der Achtziger und Neunziger, zwischen Alf, Bill Cosby und Nivea-Creme. Es geht um die Generation der Fernsehkinder - man könnte auch sagen: um die Generation Golf, denn mit Florian Illies' gleichnamigem, einst sehr populärem Sachbuch hat dieser Teil des Romans auch viel gemeinsam.
Aber das Gefühl von Wohlstandsgeborgenheit wird bald flankiert von der kritischen Einsicht, man lebe nur auf Kosten anderer im Schlaraffenland (unter einem deutlichen Hinweis auf das gleichnamige Bruegel-Gemälde). Und dann folgt die diffuse Einsicht, es sei damals etwas "nicht wieder Gutzumachendes passiert".
Was das war, darum dreht sich der Rest des Romans und kann es doch nie recht einkreisen. Aus den Medienkindern werden Eltern, die von Beruf Mediengestalter sind. Der Erzähler selbst, in der Jugend noch getrieben von Weltrettungsideen, wird nun zum Designer von Weltfluchten: So ist er etwa mit der Entwicklung jener "VR-Retro-Version" der Spielshow "Jeopardy" befasst, in der Erwachsene des Jahres 2019 sich mit Hologrammen der "Gesichter ihrer Kindheit" ablenken vom eigentlichen Leben. Das Hologramm von Frank Elstner, so liest man, verfügt sogar "über ein Smalltalk-Programm". Als kreativer Zeitzeuge ist der Erzähler bald Teil einer regelrechten Retro-Industrie, in der die Spieler auch Helden historischer Ereignisse werden können - oder eben im Kopfkino einer ewigen Jugend verharren, zwischen Michael Jackson, R.E.M. und Nirvana (auf teils amüsante Weise verhandelt der Roman auch die Frage, ob die Musik der Neunziger so schlecht ist wie ihr Ruf).
Dem Romanleser wird indessen klar, dass die Erzählzeit schon viel weiter vorangeschritten und auch unsere Gegenwart darin längst Vergangenheit ist. Der Erzähler im norwegischen Exil blickt zurück auf die "großen Verwerfungen der 2030er Jahre" und erwähnt, dass viele Länder sich "noch immer im Bürgerkrieg" befinden, während Deutschland in geheimnisvolle "Zonen" eingeteilt ist. Die Folgen des Klimawandels sind da stark zu spüren. Aus dieser Realität heraus stellt er sich die Frage: Wann ging eigentlich alles schief?
Eine der Antworten lautet: "Ich kann mich an den Moment erinnern, 2016 oder 2017, als ich plötzlich das Gefühl hatte, die Realität sei irreal geworden. Als hätte die Zeit irgendwann nach 2001 auf dem Pfad mit seinen vielen Möglichkeiten eine falsche Abzweigung genommen und als befänden wir uns nun aufgrund dieses Versehens oder Unfalls oder was auch immer in einer falschen Version der Welt. Wir redeten uns wieder und wieder ein, wie gut es uns ging. Wir spendeten per automatischem Dauerauftrag 50 Euro Jahresbeitrag an Amnesty International."
In diesen Spalt zwischen "Doing good and doing well" (so die Überschrift eines Roman-Abschnitts) schreibt Steinaecker sein immer satirischer wirkendes Porträt einer Generation Weltflucht, die irgendwann doch von dieser Welt eingeholt wird - auch durch die Konfrontation mit den Ansichten ihrer Kinder.
Vorher aber treibt sie es noch ordentlich weit: Der Erzähler wohnt da in einer surrealen Siedlung, die "Strawberry Fields" genannt wird, und beim Betreten einer viel zu schönen VR- Retro-Animation seines Kindheitsdorfes gerät er an einen Kipp-Punkt, der Ton wird ganz märchenhaft: "Da überkam mich eine heiße Lust, hierzubleiben. Nur noch um die Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen, würde ich in die Wirklichkeit zurückkehren."
Vor solchem Realitätsverlust bewahrt ihn ein Freund und vielleicht auch eine leitmotivisch wiederkehrende "Zecke", die seit Kindheitstagen an ihm saugt und mit der Stimme eines Nachrichtensprechers ihm Dinge einflüstert, wenn sie auch nicht zu finden ist. Es ist die Zecke des schlechten Gewissens. Ein weiterer Schlüssel zu diesem Roman ist, wie häufig in ihm der Begriff "Version" vorkommt: Als andere, als jüngere, als weisere Version begegnen uns darin Menschen oder ihre Avatare. Das Buch über die "Privilegierten" ist, bei aller erzählerischen Komplexität, geprägt von dem einfachen, nicht zu überhörenden Appell: Sei die beste Version deiner selbst. JAN WIELE
Thomas von Steinaecker: "Die Privilegierten". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 624 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main