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Mit resoluter formaler Entschlossenheit: Ernst-Wilhelm Händler legt eine ambitionierte Theorie der Gesellschaft vor.
Von Gerald Wagner
Das OEuvre Ernst-Wilhelm Händlers zeichnet sich durch eine große Bandbreite aus. Romane finden sich darunter ebenso wie eine Kulturtheorie und Essays zu ökonomischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Themen. Jetzt hat er auch noch eine Gesellschaftstheorie vorgelegt. Händler will darin nicht weniger als die "Kommunikationsstörungen" zwischen Sozialtheorie und Philosophie angehen, die "Dichotomie" zwischen Naturwissenschaften und Sozialtheorie für beide Gebiete fruchtbar machen und dann mit seiner Gesellschaftstheorie auch noch einen Beitrag leisten zur Rettung des Planeten.
Händler will seine Theorie zudem formal modellieren, obwohl er seinem Werk vorausschickt, dass es dafür schon in der Soziologie nur geringen Rückhalt gebe. Seine Warnung vor dem "Formel-Mordor" des Buches erweist sich als angebracht. Gegenüber einschlägigen Autoren auf dem Feld der Gesellschaftstheorie legt Händler dafür Gleichgültigkeit an den Tag. Namen wie Reckwitz, Rosa, Bude, Nassehi oder Lessenich sucht man bei ihm vergebens, eine Auseinandersetzung mit ihren Theorien findet nicht statt, von profunden empirischen Studien etwa aus der Bildungssoziologie, der Sozialstrukturanalyse oder der Soziologie der Ungleichheit ganz zu schweigen.
Er gehe eben, so Händler, nur auf gesellschaftstheoretische Ansätze ein, die ein "Minimum an formaler Entschlossenheit aufweisen". Das sind für ihn Niklas Luhmann, die Netzwerktheoretiker Harrison White und Bruno Latour, außerdem Pierre Bourdieu, Gabriel Tarde und schließlich noch Dirk Baecker. Chomsky, Wittgenstein und Foucault liefern ihm wichtige philosophische Theoreme, aber Autoren wie Cioran, Musil oder Philip K. Dick sind ihm nicht weniger nützliche Inspirationsquellen.
Händler flaniert durch Philosophie und Soziologie wie ein Kunstsammler, der er ja auch ist: Er greift heraus, was ihm gefällt und was zu seiner Sammlung passt. Akademische Gepflogenheiten interessieren ihn dabei nur am Rande, Fußnoten oder zitierbare Nachweise für seine Befunde sind spärlich. Mal diskutiert Händler die Stringtheorie, dann streift er die Schrödinger'sche Wellenfunktion. Er kann über das Higgs-Boson schreiben, referiert aber auch die Kapitalismus-Kritiken eines Thomas Piketty oder David Graeber. Die eklektizistische Freiheit, die sich Händler hier gönnt, könnte er aber nur mit dem Anspruch rechtfertigen, einen großen Wurf vorzulegen, dessen mitunter recht apodiktisch formulierte Einsichten sich anderen Quellen verdanken. Kann Händler also Gesellschaftstheorie?
Zumindest kann Händler der gegenwärtigen Soziologie vorwerfen, sie habe ein "Dynamik-Problem". Händlers zentraler Begriff der Produktion klingt natürlich viel dynamischer als Netz, System oder funktionale Differenzierung. Indem er Gesellschaft als eine "Abfolge von Produktionsumgebungen" fasst, kann er tatsächlich eine theoretische Verbindung herstellen zwischen dem aktiven und dem passiven Teil der Gesellschaft. Als Verhältnis von Arbeit und Struktur gehört das freilich seit rund hundertfünfzig Jahren zum Inventar der Gesellschaftstheorie. Händler müsste schon bestimmen, wie dieses Verhältnis heute zu denken wäre. Er bringt es auf die Formel der "Produktion von nicht identischer Ersetzbarkeit".
Ersetzbarkeit also. Hat uns Andreas Reckwitz nicht gerade eingeflüstert, wir wären eine Gesellschaft von unersetzbaren Singularitäten? Wo Reckwitz damit Gestaltungsmöglichkeiten suggeriert, die doch wohl auch individuelle Handlungsmacht bedeuten müssten, gibt sich Händler mit solchen Trostangeboten nicht ab. Der Gegenwartsmensch sei doch längst davon überzeugt, dass er "Agency an die Gesellschaft" abgebe. Agency, bemerkt Händler, "flackert". Eine Gesellschaftstheorie müsse also eine Antwort auf die Frage nach dem baldigen Erlöschen humaner Agency geben. Wer oder was handelt, wenn nicht mehr nur der Mensch?
Bruno Latour hat den Akteursbegriff so weit ausgedehnt, dass man seinem Entwurf den Titel Soziologe entziehen wollte. Bei ihm kann alles handeln - Menschen, Dinge, Tiere, technische Artefakte, Mikroben, Theorien. Händlers Anspruch ist es, die daraus hervorgegangene Netzwerktheorie Latours wieder eher zu einer genuinen Gesellschaftstheorie zu machen. Also recht klassisch, sie an die Ökonomie zurückzubinden, an die Produktionsbedingungen, denn diese bestimmten "immer weitgehender die gesellschaftlichen Absichten".
Ob das konventionelle Kapitalismuskritik ist, erschließt sich bei Händler nicht so recht. Was er genau damit meint, wenn er die kommende Gesellschaft eine "Agency-Metaproduktionsgesellschaft" nennt, bleibt wolkig. Auch seine diesbezüglichen Anmerkungen zu sozialen Medien und den wenigen "Megagalerien" der Kunstwelt bleiben eher anekdotisch. Dass hier noch "viel Analysearbeit veranlasst" sei, belegt er hinreichend selbst. Dass er sich Sorgen macht, wie der ökologischen Bedrohung des Planeten zu begegnen sei, ehrt ihn. Aber woher nimmt er bloß den Imperativ, dass eine heutige Theorie des sozialen Lebens einen theoretischen Beitrag leisten müsse zur Verringerung dieser Bedrohung?
Man kann diesen Imperativ politisch begründen, auch ethisch, aber aus der Theorie selbst nicht. Die "einheitliche Bedrohung" des irdischen Lebens "verursache eine Drift zur Gesellschaftstheorie" und damit auch zu ihrer größeren Einheitlichkeit, verspricht Händler und schließt daran umstandslos den Befund an, dass "zahlreiche Partikularethiken" innerhalb der Gesellschaft "definitiv obsolet" seien. Aber wer soll für ihre Eliminierung sorgen? Weil der Kapitalismus das nicht könne und auch die Götter samt Erdmutter Gaia es nicht mehr schafften, soll es jetzt ausgerechnet die Gesellschaftstheorie richten? An den deutschen Soziologie-Lehrstühlen wird man das mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis nehmen.
Ernst-Wilhelm Händler: "Die Produktion von Gesellschaft".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 288 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Mit resoluter formaler Entschlossenheit: Ernst-Wilhelm Händler legt eine ambitionierte Theorie der Gesellschaft vor.
Von Gerald Wagner
Das OEuvre Ernst-Wilhelm Händlers zeichnet sich durch eine große Bandbreite aus. Romane finden sich darunter ebenso wie eine Kulturtheorie und Essays zu ökonomischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Themen. Jetzt hat er auch noch eine Gesellschaftstheorie vorgelegt. Händler will darin nicht weniger als die "Kommunikationsstörungen" zwischen Sozialtheorie und Philosophie angehen, die "Dichotomie" zwischen Naturwissenschaften und Sozialtheorie für beide Gebiete fruchtbar machen und dann mit seiner Gesellschaftstheorie auch noch einen Beitrag leisten zur Rettung des Planeten.
Händler will seine Theorie zudem formal modellieren, obwohl er seinem Werk vorausschickt, dass es dafür schon in der Soziologie nur geringen Rückhalt gebe. Seine Warnung vor dem "Formel-Mordor" des Buches erweist sich als angebracht. Gegenüber einschlägigen Autoren auf dem Feld der Gesellschaftstheorie legt Händler dafür Gleichgültigkeit an den Tag. Namen wie Reckwitz, Rosa, Bude, Nassehi oder Lessenich sucht man bei ihm vergebens, eine Auseinandersetzung mit ihren Theorien findet nicht statt, von profunden empirischen Studien etwa aus der Bildungssoziologie, der Sozialstrukturanalyse oder der Soziologie der Ungleichheit ganz zu schweigen.
Er gehe eben, so Händler, nur auf gesellschaftstheoretische Ansätze ein, die ein "Minimum an formaler Entschlossenheit aufweisen". Das sind für ihn Niklas Luhmann, die Netzwerktheoretiker Harrison White und Bruno Latour, außerdem Pierre Bourdieu, Gabriel Tarde und schließlich noch Dirk Baecker. Chomsky, Wittgenstein und Foucault liefern ihm wichtige philosophische Theoreme, aber Autoren wie Cioran, Musil oder Philip K. Dick sind ihm nicht weniger nützliche Inspirationsquellen.
Händler flaniert durch Philosophie und Soziologie wie ein Kunstsammler, der er ja auch ist: Er greift heraus, was ihm gefällt und was zu seiner Sammlung passt. Akademische Gepflogenheiten interessieren ihn dabei nur am Rande, Fußnoten oder zitierbare Nachweise für seine Befunde sind spärlich. Mal diskutiert Händler die Stringtheorie, dann streift er die Schrödinger'sche Wellenfunktion. Er kann über das Higgs-Boson schreiben, referiert aber auch die Kapitalismus-Kritiken eines Thomas Piketty oder David Graeber. Die eklektizistische Freiheit, die sich Händler hier gönnt, könnte er aber nur mit dem Anspruch rechtfertigen, einen großen Wurf vorzulegen, dessen mitunter recht apodiktisch formulierte Einsichten sich anderen Quellen verdanken. Kann Händler also Gesellschaftstheorie?
Zumindest kann Händler der gegenwärtigen Soziologie vorwerfen, sie habe ein "Dynamik-Problem". Händlers zentraler Begriff der Produktion klingt natürlich viel dynamischer als Netz, System oder funktionale Differenzierung. Indem er Gesellschaft als eine "Abfolge von Produktionsumgebungen" fasst, kann er tatsächlich eine theoretische Verbindung herstellen zwischen dem aktiven und dem passiven Teil der Gesellschaft. Als Verhältnis von Arbeit und Struktur gehört das freilich seit rund hundertfünfzig Jahren zum Inventar der Gesellschaftstheorie. Händler müsste schon bestimmen, wie dieses Verhältnis heute zu denken wäre. Er bringt es auf die Formel der "Produktion von nicht identischer Ersetzbarkeit".
Ersetzbarkeit also. Hat uns Andreas Reckwitz nicht gerade eingeflüstert, wir wären eine Gesellschaft von unersetzbaren Singularitäten? Wo Reckwitz damit Gestaltungsmöglichkeiten suggeriert, die doch wohl auch individuelle Handlungsmacht bedeuten müssten, gibt sich Händler mit solchen Trostangeboten nicht ab. Der Gegenwartsmensch sei doch längst davon überzeugt, dass er "Agency an die Gesellschaft" abgebe. Agency, bemerkt Händler, "flackert". Eine Gesellschaftstheorie müsse also eine Antwort auf die Frage nach dem baldigen Erlöschen humaner Agency geben. Wer oder was handelt, wenn nicht mehr nur der Mensch?
Bruno Latour hat den Akteursbegriff so weit ausgedehnt, dass man seinem Entwurf den Titel Soziologe entziehen wollte. Bei ihm kann alles handeln - Menschen, Dinge, Tiere, technische Artefakte, Mikroben, Theorien. Händlers Anspruch ist es, die daraus hervorgegangene Netzwerktheorie Latours wieder eher zu einer genuinen Gesellschaftstheorie zu machen. Also recht klassisch, sie an die Ökonomie zurückzubinden, an die Produktionsbedingungen, denn diese bestimmten "immer weitgehender die gesellschaftlichen Absichten".
Ob das konventionelle Kapitalismuskritik ist, erschließt sich bei Händler nicht so recht. Was er genau damit meint, wenn er die kommende Gesellschaft eine "Agency-Metaproduktionsgesellschaft" nennt, bleibt wolkig. Auch seine diesbezüglichen Anmerkungen zu sozialen Medien und den wenigen "Megagalerien" der Kunstwelt bleiben eher anekdotisch. Dass hier noch "viel Analysearbeit veranlasst" sei, belegt er hinreichend selbst. Dass er sich Sorgen macht, wie der ökologischen Bedrohung des Planeten zu begegnen sei, ehrt ihn. Aber woher nimmt er bloß den Imperativ, dass eine heutige Theorie des sozialen Lebens einen theoretischen Beitrag leisten müsse zur Verringerung dieser Bedrohung?
Man kann diesen Imperativ politisch begründen, auch ethisch, aber aus der Theorie selbst nicht. Die "einheitliche Bedrohung" des irdischen Lebens "verursache eine Drift zur Gesellschaftstheorie" und damit auch zu ihrer größeren Einheitlichkeit, verspricht Händler und schließt daran umstandslos den Befund an, dass "zahlreiche Partikularethiken" innerhalb der Gesellschaft "definitiv obsolet" seien. Aber wer soll für ihre Eliminierung sorgen? Weil der Kapitalismus das nicht könne und auch die Götter samt Erdmutter Gaia es nicht mehr schafften, soll es jetzt ausgerechnet die Gesellschaftstheorie richten? An den deutschen Soziologie-Lehrstühlen wird man das mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis nehmen.
Ernst-Wilhelm Händler: "Die Produktion von Gesellschaft".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 288 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main