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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Naturschutz ist keine Luxusaktivität: Matthias Glaubrecht spürt dem Ursprung von Corona nach und erklärt, warum eine intakte Wildnis vor der nächsten Pandemie schützen könnte.
Kritiker der Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie fordern derzeit eine "Aufarbeitung" der Politik der vergangenen drei Jahre. Dabei wollen sie allerdings oft nicht darauf hinaus, wie man Tote und Millionen Infektionen mit Langzeitfolgen hätte vermeiden können. Es geht vielmehr darum, welche Maßnahmen mit dem Wissen von heute vielleicht zu drastisch ausgefallen sind.
Doch das ist wohlfeil, denn gerade am Beginn einer Pandemie ist der Wissensstand begrenzt - und trotzdem müssen Entscheidungen fallen. Wer im Rahmen einer "Aufarbeitung" frühere Maßnahmen für überflüssig erklären will, sollte immer mit ausbuchstabieren, wie viele Menschenleben das hätte kosten können.
Denn die nächste Pandemie kommt bestimmt. Dies jedenfalls suggeriert das Buch "Die Rache des Pangolin" des Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht. Der Autor legt eine so voluminöse wie kenntnisreiche Aufarbeitung des Geschehens vor, nicht hinsichtlich der Maßnahmen, sondern mit dem Ziel, die Corona-Pandemie in die Geschichte der Menschheit einzuordnen und Lehren zu ziehen, wie zumindest einige der drohenden Pandemien verhindert werden oder weniger drastisch ausfallen könnten.
Es gibt zumindest auf dem deutschen Buchmarkt wohl keine genauere Darstellung zum Thema. Dabei konkurrieren mehrere Hypothesen und auch Verschwörungsmythen wie der einer "Plandemie" durch die chinesische Regierung oder einflussreiche Geheimzirkel. Zu den ernsthaft zu prüfenden Hypothesen zählt, das Virus SARS-CoV-2 könnte mittels eines Laborunfalls an einem der virologischen Institute in der chinesischen Stadt Wuhan auf dessen Wildtiermarkt gelangt sein, wo das erste Superspreader-Event registriert wurde. Eine andere These besagt, dass auf diesem Markt infizierte Tiere geschlachtet und verkauft wurden, von denen das Virus dann auf Menschen übersprang. Auch wenn es sich zwischenzeitlich so liest, als gehe Glaubrecht von einem Laborunfall aus, neigt er offenbar doch zur zweiten These.
Akribisch und mit Quellen unterfüttert zeichnet der Autor auch nach, was vor dem Ausbruch in Wuhan passiert sein könnte, wie also das Virus von seinem eigentlichen Wirtstier, Fledermäusen der Gattung Rhinolophus, zu uns Menschen gelangte. Dass der für das Buch namengebende Pangolin als Zwischenwirt eigentlich nicht infrage kommt, räumt Glaubrecht unumwunden ein, aber offenbar war für den Verlag die Versuchung, einen so wohlklingenden Tiernamen auf das Cover zu setzen, größer als die Faktentreue.
Die mäandernde Erkundung der Ursprünge der aktuellen Pandemie nimmt ein langes erstes Drittel des Buchs ein. Dabei spart Glaubrecht nicht mit Kritik an der Informationspolitik der chinesischen Regierung und legt nahe, dass das Schlimmste vielleicht sogar hätte verhindert werden können, wenn weniger geheimniskrämerisch gehandelt worden wäre. Ähnlich harsch ist seine Kritik an Shi Zhengli, der führenden Forscherin für Coronaviren und Fledermäuse in China. "Erhebliche Auffälligkeiten und Inkonsistenzen" gebe es in ihren Publikationen, schreibt Glaubrecht, und man ahnt, dass die Aufklärung der Geschehnisse von Wuhan noch sehr lange dauern wird.
Im zweiten Teil spannt der Evolutionsbiologe das große Panorama der Seuchengeschichte auf - und schont die Leser nicht vor dem Horror früherer Zeiten, in denen die Menschen Pandemien so unwissend und hilflos ausgesetzt waren, dass häufig niemand mehr übrig war, die Toten zu begraben. Die Darstellung der Attischen Seuche im fünften Jahrhundert vor Christus ist dabei nur brutal. Dass es im Rahmen der europäischen Kolonisierung Amerikas einen regelrechten mikrobiellen Genozid an den indigenen Bewohnern gegeben hat, zeigt die politische Seite von Pandemien.
Zudem lenkt Glaubrecht die Aufmerksamkeit auf Seuchen, die nie aufgehört haben. So habe die Tuberkulose mehr Menschen getötet als jede andere Seuche. In den vergangenen zweitausend Jahren seien ihr schätzungsweise eine Milliarde Menschen erlegen. Besonders spannend ist die Darstellung der Choleraepidemie in Hamburg Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie sei "ein Lehrstück dafür geworden, was passiert, wenn Politik wissenschaftliche Befunde ignoriert". Denn die Kaufleute der Hansestadt verhinderten lange Zeit mit Verweis auf die Kosten Hygienemaßnahmen für die Armen. Damals erlagen trotz der Intervention von Robert Koch 8600 der 600.000 Stadtbewohner der Seuche.
Der dritte Teil des Buchs weist in die Zukunft, und hier hat Glaubrecht eine fanalartige Botschaft: Wenn wir Menschen weiter in Wildnisgebiete vordringen, Straßen in Regenwälder bauen und den Tieren im Wortsinn auf den Pelz rücken, dann werden Zahl und Heftigkeit von Pandemien zunehmen. Die verbliebenen Wildnisgebiete der Erde verwahren Zehn-, wenn nicht Hunderttausende gefährliche Viren sicher vor uns Menschen. Und das gehört im Neudeutsch der Umweltpolitik zu ihren wichtigsten "Ökosystem-Dienstleistungen". "Warum wir es selbst in der Hand haben" heißt das letzte Kapitel deshalb. Glaubrecht diagnostiziert: "Wo die Biodiversität sinkt, nimmt die biologische Verursachung von Infektionskrankheiten zu." Klarer ist die Behauptung, Naturschutz sei eine Luxusaktivität, nicht zu widerlegen.
Für alle, die nicht der allgemeinen Corona-Müdigkeit erlegen sind, sondern tiefer in die Materie einsteigen wollen, ist die mit einem detaillierten Schlagwortverzeichnis versehene "Rache des Pangolin" sehr zu empfehlen. Leider gibt es auch Redundanzen, die der Verlag hätte beseitigen können. Nach Hunderten Seiten Pandämonium schließt das Buch mit dem optimistischen Ausblick, dass Wissen und Werkzeuge, die nächsten Pandemien zu kontrollieren, immer besser werden. Dazu braucht es freilich Gesellschaften, die auch bereit sind, diese Mittel zu nutzen. CHRISTIAN SCHWÄGERL
Matthias Glaubrecht: "Die Rache des Pangolin". Wild gewordene Pandemien und der Schutz der Artenvielfalt.
Ullstein Verlag, Berlin 2022. 640 S., geb., 29,99 Euro.
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