Was ist Wahrheit, was Lüge? Und ist es möglich, ohne Gewissheit zu leben? Marie NDiayes aufwühlender Roman über eine Frau in einer Extremsituation ist ein raffiniertes, abgründiges Spiel mit uns und unseren Erwartungen und Ängsten.
Maître Susane, Anwältin in Bordeaux, erhält in ihrer Kanzlei Besuch von einem gewissen Gilles Principaux. Sie glaubt in ihm den Jungen aus ihrer Kindheit wiederzuerkennen, bei dem sie einmal zu Besuch war. Etwas war damals geschehen, aber sie erinnert sich kaum. Andeutungen ihres Vaters, der Junge könne ihr zu nahegekommen sein, weist sie empört zurück. Principaux bittet sie, die Verteidigung seiner Frau Marlyne zu übernehmen, die ein entsetzliches Verbrechen begangen hat: sie hat ihre drei Kinder getötet. Maître Susane übernimmt den Fall – und stürzt ins Bodenlose. Was ist los mit dieser Mutter? Wer ist dieser Gilles Principaux wirklich? Und ist sie selbst überhaupt diejenige, die sie zu sein glaubt?
Maître Susane, Anwältin in Bordeaux, erhält in ihrer Kanzlei Besuch von einem gewissen Gilles Principaux. Sie glaubt in ihm den Jungen aus ihrer Kindheit wiederzuerkennen, bei dem sie einmal zu Besuch war. Etwas war damals geschehen, aber sie erinnert sich kaum. Andeutungen ihres Vaters, der Junge könne ihr zu nahegekommen sein, weist sie empört zurück. Principaux bittet sie, die Verteidigung seiner Frau Marlyne zu übernehmen, die ein entsetzliches Verbrechen begangen hat: sie hat ihre drei Kinder getötet. Maître Susane übernimmt den Fall – und stürzt ins Bodenlose. Was ist los mit dieser Mutter? Wer ist dieser Gilles Principaux wirklich? Und ist sie selbst überhaupt diejenige, die sie zu sein glaubt?
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Iris Radisch singt eine Hymne auf Marie NDiaye, ihr Werk im Allgemeinen und den neuen Roman im Besonderen. Einmal mehr bewundert die Kritikerin die sehr französische "Raffinesse", mit der die Autorin die Untiefen der Seele auslotet und zu den "archaischen Leidenschaften und Ekstasen" ihrer Figuren vordringt. Wenn NDiaye von Anwältin Susane erzählt, die eine Mutter vertritt, die ihre drei Kinder ertränkte, um von ihrem Mann loszukommen, und dabei feine Fäden zwischen den Figuren spinnt, spürt Radisch nicht zuletzt dank der Noir-Atmosphäre eine "wohlige Lesefolter". Und wie die Autorin die vielen Spuren, Irrungen und Wirrungen in sich "elegant auftürmende französische Satzperioden" packt, ringt ihr ohnehin größte Anerkennung ab. Nicht zuletzt verneigt sich die Kritikerin vor der Übersetzung von Claudia Kalsche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Wechselwirkung von Erwartung und Ereignis
In ihrem neuen Roman erzählt Marie NDiaye von einer Anwältin, die bei einem aktuellen Mandat auf die eigene Vergangenheit stößt.
Von Lena Bopp
Marie NDiaye hat über ihre Arbeit einmal gesagt, dass sie oft im Traum beginne. Lange bevor sie mit dem Schreiben eines neuen Romans anfange, träume sie von einem Bild, das zunächst unscharf bleibe, aber im Laufe einiger Monate an Klarheit und Konturen gewinne. Man war nicht sonderlich überrascht über dieses Geständnis. Der Arbeitsweise entspricht ein Hang zum Übernatürlichen, der häufig durch die Romane von Marie NDiaye weht. Ein Faible für Fantastik in Stil und Sujet. Etwas Schicksalhaftes zieht durch das Geschehen ihrer Bücher, Obsessionen und Zwänge unterwerfen ihre Figuren und bilden das literarische Feld dieser französischen Schriftstellerin und früheren Goncourt-Preisträgerin, die sich in ihrem jüngsten Buch treu bleibt.
Am Anfang, sagte Marie NDiaye, stand diesmal das Bild einer Frau, die in ihrem Büro von einem Mann besucht wird, dessen Anblick sie aus der Fassung bringt. Im Laufe der Monate und Jahre erwuchs aus dieser Szene der Roman "Die Rache ist mein", der diese Begegnung zum Anlass nimmt, dem unbeständigen Wesen von Erinnerungen nachzuspüren und der trügerischen Kraft des Gespürs. Maître Susane, Anfang vierzig, ist Rechtsanwältin in Bordeaux. Ihre Kanzlei ist noch nicht alt, die Zahl ihrer Mandanten ist überschaubar. Eines Tages wird sie von einem Mann namens Gilles Principaux aufgesucht und gebeten, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen, die die drei gemeinsamen Kinder in der Badewanne ertränkt haben soll. Maître Susane ist überrascht. Darüber, dass man ihr das Mandat eines Falles anträgt, über den alle Zeitungen berichten. Aber noch mehr über diesen Gilles Principaux, der sie schlagartig an eine Begegnung erinnert, die dreißig Jahre zurückliegt und über die man im Laufe der Lektüre nur wenig Konkretes erfährt. Man ahnt aber bald, dass die damals Zehnjährige dem damals Fünfzehnjährigen verfallen sein muss - ob zu ihrem Guten oder Schlechten, das steht dahin.
Und um das, was dahinsteht, geht es in diesem Buch. Denn Maître Susane, aus deren Perspektive das Drama geschildert wird, erweist sich als obsessive Erzählerin. Sie kann die Unzuverlässigkeit ihrer Erinnerung nicht aushalten. Vielmehr lässt sie sich von ihr anstacheln, Fragen zu stellen und Dinge zu tun, die sie selbst an sich und auch die Menschen in ihrer Umgebung immer mehr an ihr zweifeln lassen. Am wenigsten gilt das noch für Gilles Principaux, der auf ihre unvermittelte Frage, ob er sie von früher kenne, nicht mehr sehen kann als eine kurze Ablenkung von seinem eigenen Schicksal. Aber die Eltern von Maître Susane reagieren nervös auf das plötzliche Beharren der Tochter darauf, dass die damalige Begegnung mit dem Jungen ihr Leben entscheidend beeinflusst habe. Und auch das Machtverhältnis zu Sharon, der Haushälterin aus Mauritius, verschiebt sich zu ihren Ungunsten, je intensiver die Erzählerin versucht, ihrer Reaktion beim Anblick des Mannes auf die Schliche zu kommen.
In gewisser Weise versucht der Roman, mehrere Rätsel zu lösen. Das eine dreht sich um die wiederkehrende Leitfrage: "Wer war Gilles Principaux für sie?" Und was ist zwischen den beiden geschehen? Das bringt Spannung in den Roman, der sich stellenweise liest wie ein Krimi. Das andere Rätsel betrifft, ganz elementar, die Beziehungen auch zwischen den anderen Figuren, in deren komplexe Dynamiken sich Marie NDiaye schon immer vertieft wie nur wenige andere Autoren. Sie will wissen, welche Ereignisse bestimmte Gefühle hervorrufen. Aber eben auch umgekehrt nachspüren, wie Gefühle und Intuitionen bestimmte Ereignisse provozieren. Das ist es, was auch ihrem neuen Roman den Hauch des Schicksalhaften einflößt, das in der Luft liegt wie das Wetter, das nicht zufällig in schönen Bildern immer wieder ins Spiel kommt: "An diesem Morgen schneite es kaum merklich, und die Fensterscheiben der Kanzlei waren mit einem undurchdringlichen Schleier verhangen, der Illusionen, gemurmelte Selbstgespräche, ungestüme, streitbare, kämpferische Grübeleien begünstigte."
Marie NDiaye spielt diese Wechselwirkung von Erwartung und Ereignis an mehreren Figurenpaaren durch. Gleich auf den ersten Seiten wird deutlich, wie sehr die Beziehung von Maître Susane etwa zu ihrer Haushälterin von einem Gespür geprägt ist, das richtig sein könnte, aber auch trügerisch. Maître Susane ist überzeugt davon, dass Sharon, obwohl diese als illegal in Frankreich lebende Putzfrau den niedrigeren sozialen Status der beiden genießt, eigentlich auf sie herabschaut - womöglich weil Maître Susane unverheiratet und kinderlos ist. Und dieser Projektion passt sie ihr Verhalten gegenüber der Haushälterin an. Derselbe Mechanismus zeigt sich auch in der Beziehung von Marlyne und Gilles Principaux. Seitenlang gibt Marie NDiaye den beiden Gelegenheit, in verzweifelten Monologen ihre jeweilige Sicht auf die Ehe, die Kinder und den Mord an ihnen darzulegen. Und was dabei zutage tritt, ist ein tiefes Missverständnis. Die beiden täuschen sich ineinander, tun aber genau das, wovon sie überzeugt sind, dass der andere es von ihnen erwartet, und setzen so die Tragödie in Gang.
Wie Marie NDiaye diese Paralogismen zu einem Geflecht spannt, in dem sich ihre Figuren letztlich verheddern, ist virtuos. An einer Schlüsselstelle des Romans lässt sie Maître Susane im Geiste durchspielen, warum und wie sich der Kindsmord zugetragen haben könnte. Dabei wechselt sie zwischen Konjunktiv und Indikativ, mitunter innerhalb eines Absatzes und so lange, bis der Leser, vor allem aber Maître Susane zwischen Wahrheit und Dichtung nicht mehr unterscheiden kann, wodurch sie nicht nur in den Fall hineingezogen wird. Sie selbst wird der Fall. Ihre Intuition steigert sich zur Obsession, ihre Empathie bekommt wahnhafte Züge. So entsteht das Porträt einer Frau, die nur aus Innenleben zu bestehen scheint. Und deren Äußeres entsprechend schwach gezeichnet bleibt. Man weiß nicht mehr von ihr, als dass sie groß, kräftig und nicht sonderlich schön ist. Dass ihr Vorname mit "H" beginnt. Und dass sie aus einfachen Verhältnissen stammt.
Diese Wurzeln sind wichtig. Denn welche Rolle die Herkunft des Menschen spielt, ob sie sich leugnen, ändern oder nur annehmen lässt, sind wiederkehrende Leitmotive ihres Erzählens. Marie NDiaye hat sie in vielen ihrer Romane durchgespielt, zuletzt in "Die Chefin" (2017) und "Ladivine" (2014). Auch in dem neuen Buch entfalten die unterschiedlichen sozialen Milieus, aus denen die Figuren stammen, eine Wucht, die ihre Beziehungen oft scheitern lässt. Das gilt für das Ehepaar Principaux ebenso wie für Maître Susane. Und es gilt für ihren fast einzigen Klienten, den Sohn einer alten Weingüterfamilie aus Bordeaux, der sich, wie seine Anwältin glasklar zu erkennen vermag, in die Idee verbissen hat, dass seine Familie früher in die Sklaverei verwickelt war. Nun möchte er seinen Namen ändern und sucht nach Beweisen, was Marie NDiaye die Gelegenheit gibt, mit dieser Nebenfigur eine kleine, aber feine Spitze gegen den politisch korrekten, nicht minder obsessiven Zeitgeist abzuschießen.
Wohin das alles führt? Marie NDiaye lässt es offen. Eine Lösung des Rätsels um ihre Rechtsanwältin bietet sie nicht, dafür blickt sie umso tiefer in die Abgründe, in die sie Maître Susane schickt und in denen diese fast den Verstand verliert. Ist das Wahnsinn? Könnte sein. Doch was wahnsinnig ist, steht in diesem Buch eben sehr gekonnt dahin.
Marie NDiaye: "Die Rache ist mein". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 237 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem neuen Roman erzählt Marie NDiaye von einer Anwältin, die bei einem aktuellen Mandat auf die eigene Vergangenheit stößt.
Von Lena Bopp
Marie NDiaye hat über ihre Arbeit einmal gesagt, dass sie oft im Traum beginne. Lange bevor sie mit dem Schreiben eines neuen Romans anfange, träume sie von einem Bild, das zunächst unscharf bleibe, aber im Laufe einiger Monate an Klarheit und Konturen gewinne. Man war nicht sonderlich überrascht über dieses Geständnis. Der Arbeitsweise entspricht ein Hang zum Übernatürlichen, der häufig durch die Romane von Marie NDiaye weht. Ein Faible für Fantastik in Stil und Sujet. Etwas Schicksalhaftes zieht durch das Geschehen ihrer Bücher, Obsessionen und Zwänge unterwerfen ihre Figuren und bilden das literarische Feld dieser französischen Schriftstellerin und früheren Goncourt-Preisträgerin, die sich in ihrem jüngsten Buch treu bleibt.
Am Anfang, sagte Marie NDiaye, stand diesmal das Bild einer Frau, die in ihrem Büro von einem Mann besucht wird, dessen Anblick sie aus der Fassung bringt. Im Laufe der Monate und Jahre erwuchs aus dieser Szene der Roman "Die Rache ist mein", der diese Begegnung zum Anlass nimmt, dem unbeständigen Wesen von Erinnerungen nachzuspüren und der trügerischen Kraft des Gespürs. Maître Susane, Anfang vierzig, ist Rechtsanwältin in Bordeaux. Ihre Kanzlei ist noch nicht alt, die Zahl ihrer Mandanten ist überschaubar. Eines Tages wird sie von einem Mann namens Gilles Principaux aufgesucht und gebeten, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen, die die drei gemeinsamen Kinder in der Badewanne ertränkt haben soll. Maître Susane ist überrascht. Darüber, dass man ihr das Mandat eines Falles anträgt, über den alle Zeitungen berichten. Aber noch mehr über diesen Gilles Principaux, der sie schlagartig an eine Begegnung erinnert, die dreißig Jahre zurückliegt und über die man im Laufe der Lektüre nur wenig Konkretes erfährt. Man ahnt aber bald, dass die damals Zehnjährige dem damals Fünfzehnjährigen verfallen sein muss - ob zu ihrem Guten oder Schlechten, das steht dahin.
Und um das, was dahinsteht, geht es in diesem Buch. Denn Maître Susane, aus deren Perspektive das Drama geschildert wird, erweist sich als obsessive Erzählerin. Sie kann die Unzuverlässigkeit ihrer Erinnerung nicht aushalten. Vielmehr lässt sie sich von ihr anstacheln, Fragen zu stellen und Dinge zu tun, die sie selbst an sich und auch die Menschen in ihrer Umgebung immer mehr an ihr zweifeln lassen. Am wenigsten gilt das noch für Gilles Principaux, der auf ihre unvermittelte Frage, ob er sie von früher kenne, nicht mehr sehen kann als eine kurze Ablenkung von seinem eigenen Schicksal. Aber die Eltern von Maître Susane reagieren nervös auf das plötzliche Beharren der Tochter darauf, dass die damalige Begegnung mit dem Jungen ihr Leben entscheidend beeinflusst habe. Und auch das Machtverhältnis zu Sharon, der Haushälterin aus Mauritius, verschiebt sich zu ihren Ungunsten, je intensiver die Erzählerin versucht, ihrer Reaktion beim Anblick des Mannes auf die Schliche zu kommen.
In gewisser Weise versucht der Roman, mehrere Rätsel zu lösen. Das eine dreht sich um die wiederkehrende Leitfrage: "Wer war Gilles Principaux für sie?" Und was ist zwischen den beiden geschehen? Das bringt Spannung in den Roman, der sich stellenweise liest wie ein Krimi. Das andere Rätsel betrifft, ganz elementar, die Beziehungen auch zwischen den anderen Figuren, in deren komplexe Dynamiken sich Marie NDiaye schon immer vertieft wie nur wenige andere Autoren. Sie will wissen, welche Ereignisse bestimmte Gefühle hervorrufen. Aber eben auch umgekehrt nachspüren, wie Gefühle und Intuitionen bestimmte Ereignisse provozieren. Das ist es, was auch ihrem neuen Roman den Hauch des Schicksalhaften einflößt, das in der Luft liegt wie das Wetter, das nicht zufällig in schönen Bildern immer wieder ins Spiel kommt: "An diesem Morgen schneite es kaum merklich, und die Fensterscheiben der Kanzlei waren mit einem undurchdringlichen Schleier verhangen, der Illusionen, gemurmelte Selbstgespräche, ungestüme, streitbare, kämpferische Grübeleien begünstigte."
Marie NDiaye spielt diese Wechselwirkung von Erwartung und Ereignis an mehreren Figurenpaaren durch. Gleich auf den ersten Seiten wird deutlich, wie sehr die Beziehung von Maître Susane etwa zu ihrer Haushälterin von einem Gespür geprägt ist, das richtig sein könnte, aber auch trügerisch. Maître Susane ist überzeugt davon, dass Sharon, obwohl diese als illegal in Frankreich lebende Putzfrau den niedrigeren sozialen Status der beiden genießt, eigentlich auf sie herabschaut - womöglich weil Maître Susane unverheiratet und kinderlos ist. Und dieser Projektion passt sie ihr Verhalten gegenüber der Haushälterin an. Derselbe Mechanismus zeigt sich auch in der Beziehung von Marlyne und Gilles Principaux. Seitenlang gibt Marie NDiaye den beiden Gelegenheit, in verzweifelten Monologen ihre jeweilige Sicht auf die Ehe, die Kinder und den Mord an ihnen darzulegen. Und was dabei zutage tritt, ist ein tiefes Missverständnis. Die beiden täuschen sich ineinander, tun aber genau das, wovon sie überzeugt sind, dass der andere es von ihnen erwartet, und setzen so die Tragödie in Gang.
Wie Marie NDiaye diese Paralogismen zu einem Geflecht spannt, in dem sich ihre Figuren letztlich verheddern, ist virtuos. An einer Schlüsselstelle des Romans lässt sie Maître Susane im Geiste durchspielen, warum und wie sich der Kindsmord zugetragen haben könnte. Dabei wechselt sie zwischen Konjunktiv und Indikativ, mitunter innerhalb eines Absatzes und so lange, bis der Leser, vor allem aber Maître Susane zwischen Wahrheit und Dichtung nicht mehr unterscheiden kann, wodurch sie nicht nur in den Fall hineingezogen wird. Sie selbst wird der Fall. Ihre Intuition steigert sich zur Obsession, ihre Empathie bekommt wahnhafte Züge. So entsteht das Porträt einer Frau, die nur aus Innenleben zu bestehen scheint. Und deren Äußeres entsprechend schwach gezeichnet bleibt. Man weiß nicht mehr von ihr, als dass sie groß, kräftig und nicht sonderlich schön ist. Dass ihr Vorname mit "H" beginnt. Und dass sie aus einfachen Verhältnissen stammt.
Diese Wurzeln sind wichtig. Denn welche Rolle die Herkunft des Menschen spielt, ob sie sich leugnen, ändern oder nur annehmen lässt, sind wiederkehrende Leitmotive ihres Erzählens. Marie NDiaye hat sie in vielen ihrer Romane durchgespielt, zuletzt in "Die Chefin" (2017) und "Ladivine" (2014). Auch in dem neuen Buch entfalten die unterschiedlichen sozialen Milieus, aus denen die Figuren stammen, eine Wucht, die ihre Beziehungen oft scheitern lässt. Das gilt für das Ehepaar Principaux ebenso wie für Maître Susane. Und es gilt für ihren fast einzigen Klienten, den Sohn einer alten Weingüterfamilie aus Bordeaux, der sich, wie seine Anwältin glasklar zu erkennen vermag, in die Idee verbissen hat, dass seine Familie früher in die Sklaverei verwickelt war. Nun möchte er seinen Namen ändern und sucht nach Beweisen, was Marie NDiaye die Gelegenheit gibt, mit dieser Nebenfigur eine kleine, aber feine Spitze gegen den politisch korrekten, nicht minder obsessiven Zeitgeist abzuschießen.
Wohin das alles führt? Marie NDiaye lässt es offen. Eine Lösung des Rätsels um ihre Rechtsanwältin bietet sie nicht, dafür blickt sie umso tiefer in die Abgründe, in die sie Maître Susane schickt und in denen diese fast den Verstand verliert. Ist das Wahnsinn? Könnte sein. Doch was wahnsinnig ist, steht in diesem Buch eben sehr gekonnt dahin.
Marie NDiaye: "Die Rache ist mein". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 237 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Emotionales Vakuum
In Marie NDiayes elegantem Roman „Die Rache ist mein“
entfaltet sich zwischen zwei Frauen das ganze Verhängnis der französischen Kultur
VON MAIKE ALBATH
Ausgerechnet eine Kindsmörderin. Was treibt die nicht mehr ganz junge, nur mäßig erfolgreiche Rechtsanwältin Maître Susane bloß an, dieses schwierige Mandat zu übernehmen? Sie weiß es selbst nicht so genau. Zwei kleine Jungen und ein Mädchen, das noch gestillt wurde, waren zum Opfer ihrer Mutter geworden. Sie ertränkte ihre Kinder in der Badewanne. Sämtliche Zeitungen und Fernsehkanäle hatten über die kaltblütige Tat der zuvor unauffälligen Lehrerin berichtet.
Als der verzweifelte Ehemann in Maître Susanes Kanzlei in der Innenstadt von Bordeaux vorspricht, akzeptiert sie wie unter Zwang sein Ansinnen. Er wolle seiner geliebten Frau helfen, beteuert Gilles Principaux. Und für Maître Susane scheint dieser wichtige Fall eine Chance zu sein, der endgültige Beweis dafür, dass sie ihren Beruf zu Recht ausübt und es nicht sinnlos war, dass sie ihre einfache Herkunft überwunden hat. Doch die Gründe liegen sehr viel tiefer, wie sich rasch herausstellt.
Das grausame Verbrechen bildet den Kern von „Die Rache ist mein“, dem neuen Roman der französischen Schriftstellerin Marie NDiaye. Wobei neben der Täterin und ihrem Mann noch eine weitere weibliche Hauptfigur Maître Susanes Affekte anfacht, nämlich ihre illegale Haushaltshilfe Sharon aus Mauritius, für deren Aufenthaltsstatus sie sich verantwortlich fühlt. Ein fein gesponnenes Netz aus Abhängigkeiten bindet die Akteure aneinander.
Unklare Verwandtschaftsverhältnisse, undurchdringliche Gefühlslagen und eine enorme Ambiguität aller Beziehungen kennzeichnen sämtliche Romane von Marie NDiaye. Zwischen ihrer stilistisch geschliffenen Prosa mit dem eleganten Satzbau, der NDiayes Prägung durch die klassische französische Tradition verrät, und den oft rohen Erfahrungen ihrer Figuren entsteht dabei ein reizvoller Kontrast.
Die Schriftstellerin, Jahrgang 1967, als Tochter eines senegalesischen Vaters und einer französischen Mutter in den Banlieues von Paris aufgewachsen, Goncourt-Preisträgerin und Verfasserin eines umfangreichen Werkes, überformt Gewalt und Destruktivität nicht, sondern macht sie zu einem wesentlichen Bestandteil des menschlichen Daseins. Eine zentrale Rolle spielt der Körper, und so ist es auch dieses Mal. In „Die Rache ist mein“, das in der glänzenden Übersetzung von Claudia Kalscheuer auf Deutsch vorliegt, verstrickt sich die Heldin in einen existenziellen Kampf, der sich über Körperempfindungen ausdrückt.
Als die Rechtsanwältin, die im Unterschied zu allen anderen ausschließlich unter ihrem Titel und Nachnamen Me Susane auftaucht, Gilles Principaux erblickt, spürt sie einen brutalen Schlag gegen die Stirn. Es ist nicht ihre erste Begegnung. Sie kann sich ihren Hass nicht erklären, denn sie erinnert sich, als Zehnjährige bei der einflussreichen Familie dieses Mannes zu Gast gewesen zu sein und einen herrlichen Nachmittag verbracht zu haben. Ihre Mutter war dort vertretungshalber als Büglerin beschäftigt; der damals heranwachsende Gilles hatte sie auf sein Zimmer eingeladen. Was sie sich in ihrem privaten Lebensroman als den Ursprung ihrer ehrgeizigen Zukunftspläne zurechtlegte, weil sie Anerkennung für ihre Intelligenz erfuhr und von der Mutter ermutigt worden war, dem fremden jungen Mann zu folgen, hatte offenkundig noch eine andere Unterströmung.
Nach dem Besuch schnitt sie sich die langen Haare ab, der ganze Stolz ihres Vaters, der ohnehin den schlimmsten Verdacht gegenüber den Principauxs hegte. Diese verschütteten Erlebnisse, die nicht mehr vollständig zu rekonstruieren sind und jetzt mit Verspätung zu großen Konflikten mit ihren Eltern führen, bilden den brodelnden Untergrund ihrer Beschäftigung mit dem Verbrechen von Gilles Principauxs Ehefrau.
Der Körper scheint ein zuverlässigeres Gedächtnis zu haben. Dass diese Motivkette durch den gesamten Roman mitläuft, ist typisch für Marie NDiaye. Sie versteht sich auf narrative Verdichtungen, die unaufdringlich weitere Bedeutungen ins Spiel bringen. Von ihrer Haarpracht einmal abgesehen, sei Me Susanes Äußeres in ihrer Kindheit für ihren Vater eine Enttäuschung gewesen, heißt es.
Sich den Kopf zu scheren, seit jeher die Strafe für eine Sünderin, wirkt wie eine Selbstverletzung. Zu Schwangerschaft und Mutterschaft kommt es später nicht, obwohl ihre Eltern so tun, als sei Lila, die Tochter ihres Ex-Freundes Rudy, in Wirklichkeit ihre. Als Erwachsene leidet Me Susanne unter ihrem massigen Körper, der von Sharon mit köstlichen Gerichten gemästet wird. Eindrücklich lässt Marie NDiaye infantile Verschmelzungswünsche aufblitzen: Me Susane möchte die distanzierte Sharon immer wieder umarmen und bettelt darum, beim Vornamen genannt zu werden. An einer anderen Stelle klammert sich Lila an den Oberschenkel ihres Vaters, der sie aus seinem Bein geboren zu haben scheint, wie die Rechtsanwältin mit mythologischen Anklängen fantasiert. Während Me Susane ihre physische Verfassung permanent als inadäquat erlebt – sie schwitzt, ist zu schwer, stopft sich mit Essen voll – strahlt der muskulöse Körper ihrer Mandantin Marlyne Principaux eine pralle Gesundheit aus.
Deren freimütige Schilderung des Tathergangs, die in wörtlicher Rede eingefügt ist und über zehn Seiten in Anspruch nimmt, ist kaum auszuhalten. Jeder Satz beginnt mit der Konjunktion „aber“, womit Marlyne weniger Widerspruch als viel mehr Resignation ausdrückt. Das Schockierende ist das emotionale Vakuum: Die Täterin spürt nichts. Sie hat wie unter einem Diktat gehandelt, und hier forscht Me Susane nach dem Ursprung.
Im Unterschied zu ihr selbst richtet ihre Mandantin die destruktiven Zwänge nicht gegen sich, sondern gegen ihre Kinder, aber bei beiden hat offenkundig Gilles Principaux die Fähigkeit zur Intimität verletzt. Marie NDiaye buchstabiert diese Deutung nicht aus, sondern lässt sie nur anklingen. Bezeichnenderweise versetzt der Fall Me Susanes schuldbewusste Mutter in Aufregung: Sie bombardiert ihre Tochter fortwährend mit anderen Namen. Die Familie habe nicht Principaux, sondern Majuraux oder Ravalet geheißen.
Wieder vermittelt Marie NDiaye den Zustand ihrer Heldin über körperliche Versehrungen: Die Rechtsanwältin schlägt kurze Zeit später wegen unpraktischer Stiefeletten, mit denen sie Gilles hatte einschüchtern wollen, auf den vereisten Straßen von Bordeaux hin, zieht sich eine schlimme Stirnwunde zu, verletzt sich am Knie und wird bettlägerig. Im letzten Teil des Romans, der nach Mauritius führt, wohin Me Susane für Sharon reist, ist sie auf einmal mager.
Es gibt Szenen, die sich tief einnisten im Leser: Wie sich Sharon der paternalistischen Zuwendung ihrer Arbeitgeberin stolz entwindet, gleichzeitig aber Me Susanes Schal wie ein Unterpfand behält. Oder wie Gilles Principaux völlig regungslos der blutverschmierten Anwältin den Tatort beschreibt, seine Abneigung den Kindern gegenüber eingesteht und fortwährend ein rechtfertigendes „denn“ einfügt.
Eindrucksvoll ist auch die Verknüpfung des Figurenensembles – Sharon hat ausgerechnet bei der alten Mme Principaux einen Nebenjob und nimmt die ihr anvertraute Lila dorthin mit – und die Gestaltung der Schauplätze. So neblig, dunkel und unwirtlich das winterliche Bordeaux wirkt, so heiß und lichtdurchflutet ist Port Luis, wo Me Susane nach Sharons Heiratsurkunde fahndet.
Doch warum bloß stellt Marie NDiaye das größte gesellschaftliche Tabu, einen Infantizid, in den Mittelpunkt? Vielleicht, um den Fragen von Schuld und Scham eine neue Tiefenschärfe zu verleihen. Die Kindstötung passiert in einem großbürgerlichen Umfeld, in dem Beziehungen von Kälte und Berechnung bestimmt sind. Gilles Principaux besäße „Waffen, die ihr fremd seien“, bekennt Marlyne.
Aufschlussreich ist eine weitere Nebenhandlung. Me Susane hat einen Mandanten, der mit enormer Penetranz auf einer Namensänderung besteht, weil er sich sicher ist, von Sklavenhändlern abzustammen. Die Rechtsanwältin soll Belege beibringen und sich dann um einen neuen Eintrag kümmern. Schließlich stößt sie in alten Dokumenten auf einen ähnlich lautenden Familiennamen, was ihren Klienten mit Genugtuung erfüllt. Aber die Blutspur des Kolonialismus ist nicht zu tilgen. Die Verbrechen stecken in den Mauern der alten Stadt, und in der Schlusscoda des Romans bezichtigt Me Susanne vor Gericht nicht nur Gilles Principaux, sondern auch das Haus der Gewalttat. Das Böse bleibt unbezwingbar.
Gewalt ist bei NDiaye
ein wesentlicher Bestandteil
des menschlichen Daseins
Der Mord passiert in einem
Umfeld, das von Kälte
und Berechnung bestimmt ist
Aus Eltmann bringen LKWs die Baumstämme nach Stendal in Sachsen-Anhalt.
Nördlich der Stadt, verborgen hinter einigen Waldstücken, liegt die
„Zellstoff Stendal“, eine riesige Fabrik, die aus Nadelholz jährlich bis zu 800000 Tonnen
Zellstoff der Variante „Northern Bleached Softwood Kraft“ produziert.
Marie NDiaye:
Die Rache ist mein.
Roman. Aus dem
Französischen von
Claudia Kalscheuer.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021.
236 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Marie NDiayes elegantem Roman „Die Rache ist mein“
entfaltet sich zwischen zwei Frauen das ganze Verhängnis der französischen Kultur
VON MAIKE ALBATH
Ausgerechnet eine Kindsmörderin. Was treibt die nicht mehr ganz junge, nur mäßig erfolgreiche Rechtsanwältin Maître Susane bloß an, dieses schwierige Mandat zu übernehmen? Sie weiß es selbst nicht so genau. Zwei kleine Jungen und ein Mädchen, das noch gestillt wurde, waren zum Opfer ihrer Mutter geworden. Sie ertränkte ihre Kinder in der Badewanne. Sämtliche Zeitungen und Fernsehkanäle hatten über die kaltblütige Tat der zuvor unauffälligen Lehrerin berichtet.
Als der verzweifelte Ehemann in Maître Susanes Kanzlei in der Innenstadt von Bordeaux vorspricht, akzeptiert sie wie unter Zwang sein Ansinnen. Er wolle seiner geliebten Frau helfen, beteuert Gilles Principaux. Und für Maître Susane scheint dieser wichtige Fall eine Chance zu sein, der endgültige Beweis dafür, dass sie ihren Beruf zu Recht ausübt und es nicht sinnlos war, dass sie ihre einfache Herkunft überwunden hat. Doch die Gründe liegen sehr viel tiefer, wie sich rasch herausstellt.
Das grausame Verbrechen bildet den Kern von „Die Rache ist mein“, dem neuen Roman der französischen Schriftstellerin Marie NDiaye. Wobei neben der Täterin und ihrem Mann noch eine weitere weibliche Hauptfigur Maître Susanes Affekte anfacht, nämlich ihre illegale Haushaltshilfe Sharon aus Mauritius, für deren Aufenthaltsstatus sie sich verantwortlich fühlt. Ein fein gesponnenes Netz aus Abhängigkeiten bindet die Akteure aneinander.
Unklare Verwandtschaftsverhältnisse, undurchdringliche Gefühlslagen und eine enorme Ambiguität aller Beziehungen kennzeichnen sämtliche Romane von Marie NDiaye. Zwischen ihrer stilistisch geschliffenen Prosa mit dem eleganten Satzbau, der NDiayes Prägung durch die klassische französische Tradition verrät, und den oft rohen Erfahrungen ihrer Figuren entsteht dabei ein reizvoller Kontrast.
Die Schriftstellerin, Jahrgang 1967, als Tochter eines senegalesischen Vaters und einer französischen Mutter in den Banlieues von Paris aufgewachsen, Goncourt-Preisträgerin und Verfasserin eines umfangreichen Werkes, überformt Gewalt und Destruktivität nicht, sondern macht sie zu einem wesentlichen Bestandteil des menschlichen Daseins. Eine zentrale Rolle spielt der Körper, und so ist es auch dieses Mal. In „Die Rache ist mein“, das in der glänzenden Übersetzung von Claudia Kalscheuer auf Deutsch vorliegt, verstrickt sich die Heldin in einen existenziellen Kampf, der sich über Körperempfindungen ausdrückt.
Als die Rechtsanwältin, die im Unterschied zu allen anderen ausschließlich unter ihrem Titel und Nachnamen Me Susane auftaucht, Gilles Principaux erblickt, spürt sie einen brutalen Schlag gegen die Stirn. Es ist nicht ihre erste Begegnung. Sie kann sich ihren Hass nicht erklären, denn sie erinnert sich, als Zehnjährige bei der einflussreichen Familie dieses Mannes zu Gast gewesen zu sein und einen herrlichen Nachmittag verbracht zu haben. Ihre Mutter war dort vertretungshalber als Büglerin beschäftigt; der damals heranwachsende Gilles hatte sie auf sein Zimmer eingeladen. Was sie sich in ihrem privaten Lebensroman als den Ursprung ihrer ehrgeizigen Zukunftspläne zurechtlegte, weil sie Anerkennung für ihre Intelligenz erfuhr und von der Mutter ermutigt worden war, dem fremden jungen Mann zu folgen, hatte offenkundig noch eine andere Unterströmung.
Nach dem Besuch schnitt sie sich die langen Haare ab, der ganze Stolz ihres Vaters, der ohnehin den schlimmsten Verdacht gegenüber den Principauxs hegte. Diese verschütteten Erlebnisse, die nicht mehr vollständig zu rekonstruieren sind und jetzt mit Verspätung zu großen Konflikten mit ihren Eltern führen, bilden den brodelnden Untergrund ihrer Beschäftigung mit dem Verbrechen von Gilles Principauxs Ehefrau.
Der Körper scheint ein zuverlässigeres Gedächtnis zu haben. Dass diese Motivkette durch den gesamten Roman mitläuft, ist typisch für Marie NDiaye. Sie versteht sich auf narrative Verdichtungen, die unaufdringlich weitere Bedeutungen ins Spiel bringen. Von ihrer Haarpracht einmal abgesehen, sei Me Susanes Äußeres in ihrer Kindheit für ihren Vater eine Enttäuschung gewesen, heißt es.
Sich den Kopf zu scheren, seit jeher die Strafe für eine Sünderin, wirkt wie eine Selbstverletzung. Zu Schwangerschaft und Mutterschaft kommt es später nicht, obwohl ihre Eltern so tun, als sei Lila, die Tochter ihres Ex-Freundes Rudy, in Wirklichkeit ihre. Als Erwachsene leidet Me Susanne unter ihrem massigen Körper, der von Sharon mit köstlichen Gerichten gemästet wird. Eindrücklich lässt Marie NDiaye infantile Verschmelzungswünsche aufblitzen: Me Susane möchte die distanzierte Sharon immer wieder umarmen und bettelt darum, beim Vornamen genannt zu werden. An einer anderen Stelle klammert sich Lila an den Oberschenkel ihres Vaters, der sie aus seinem Bein geboren zu haben scheint, wie die Rechtsanwältin mit mythologischen Anklängen fantasiert. Während Me Susane ihre physische Verfassung permanent als inadäquat erlebt – sie schwitzt, ist zu schwer, stopft sich mit Essen voll – strahlt der muskulöse Körper ihrer Mandantin Marlyne Principaux eine pralle Gesundheit aus.
Deren freimütige Schilderung des Tathergangs, die in wörtlicher Rede eingefügt ist und über zehn Seiten in Anspruch nimmt, ist kaum auszuhalten. Jeder Satz beginnt mit der Konjunktion „aber“, womit Marlyne weniger Widerspruch als viel mehr Resignation ausdrückt. Das Schockierende ist das emotionale Vakuum: Die Täterin spürt nichts. Sie hat wie unter einem Diktat gehandelt, und hier forscht Me Susane nach dem Ursprung.
Im Unterschied zu ihr selbst richtet ihre Mandantin die destruktiven Zwänge nicht gegen sich, sondern gegen ihre Kinder, aber bei beiden hat offenkundig Gilles Principaux die Fähigkeit zur Intimität verletzt. Marie NDiaye buchstabiert diese Deutung nicht aus, sondern lässt sie nur anklingen. Bezeichnenderweise versetzt der Fall Me Susanes schuldbewusste Mutter in Aufregung: Sie bombardiert ihre Tochter fortwährend mit anderen Namen. Die Familie habe nicht Principaux, sondern Majuraux oder Ravalet geheißen.
Wieder vermittelt Marie NDiaye den Zustand ihrer Heldin über körperliche Versehrungen: Die Rechtsanwältin schlägt kurze Zeit später wegen unpraktischer Stiefeletten, mit denen sie Gilles hatte einschüchtern wollen, auf den vereisten Straßen von Bordeaux hin, zieht sich eine schlimme Stirnwunde zu, verletzt sich am Knie und wird bettlägerig. Im letzten Teil des Romans, der nach Mauritius führt, wohin Me Susane für Sharon reist, ist sie auf einmal mager.
Es gibt Szenen, die sich tief einnisten im Leser: Wie sich Sharon der paternalistischen Zuwendung ihrer Arbeitgeberin stolz entwindet, gleichzeitig aber Me Susanes Schal wie ein Unterpfand behält. Oder wie Gilles Principaux völlig regungslos der blutverschmierten Anwältin den Tatort beschreibt, seine Abneigung den Kindern gegenüber eingesteht und fortwährend ein rechtfertigendes „denn“ einfügt.
Eindrucksvoll ist auch die Verknüpfung des Figurenensembles – Sharon hat ausgerechnet bei der alten Mme Principaux einen Nebenjob und nimmt die ihr anvertraute Lila dorthin mit – und die Gestaltung der Schauplätze. So neblig, dunkel und unwirtlich das winterliche Bordeaux wirkt, so heiß und lichtdurchflutet ist Port Luis, wo Me Susane nach Sharons Heiratsurkunde fahndet.
Doch warum bloß stellt Marie NDiaye das größte gesellschaftliche Tabu, einen Infantizid, in den Mittelpunkt? Vielleicht, um den Fragen von Schuld und Scham eine neue Tiefenschärfe zu verleihen. Die Kindstötung passiert in einem großbürgerlichen Umfeld, in dem Beziehungen von Kälte und Berechnung bestimmt sind. Gilles Principaux besäße „Waffen, die ihr fremd seien“, bekennt Marlyne.
Aufschlussreich ist eine weitere Nebenhandlung. Me Susane hat einen Mandanten, der mit enormer Penetranz auf einer Namensänderung besteht, weil er sich sicher ist, von Sklavenhändlern abzustammen. Die Rechtsanwältin soll Belege beibringen und sich dann um einen neuen Eintrag kümmern. Schließlich stößt sie in alten Dokumenten auf einen ähnlich lautenden Familiennamen, was ihren Klienten mit Genugtuung erfüllt. Aber die Blutspur des Kolonialismus ist nicht zu tilgen. Die Verbrechen stecken in den Mauern der alten Stadt, und in der Schlusscoda des Romans bezichtigt Me Susanne vor Gericht nicht nur Gilles Principaux, sondern auch das Haus der Gewalttat. Das Böse bleibt unbezwingbar.
Gewalt ist bei NDiaye
ein wesentlicher Bestandteil
des menschlichen Daseins
Der Mord passiert in einem
Umfeld, das von Kälte
und Berechnung bestimmt ist
Aus Eltmann bringen LKWs die Baumstämme nach Stendal in Sachsen-Anhalt.
Nördlich der Stadt, verborgen hinter einigen Waldstücken, liegt die
„Zellstoff Stendal“, eine riesige Fabrik, die aus Nadelholz jährlich bis zu 800000 Tonnen
Zellstoff der Variante „Northern Bleached Softwood Kraft“ produziert.
Marie NDiaye:
Die Rache ist mein.
Roman. Aus dem
Französischen von
Claudia Kalscheuer.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021.
236 Seiten, 22 Euro.
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»Durch viele kleine und große Roman-noir-Stellschrauben wird wohlige Lesefolter verbreitet, die die Lektüre zum Genuss macht ... Der makellose klassische Stil, mit dem [NDiaye] ins Herz der unausweichlichen Dunkelheit vordringt, macht ihre Figuren groß und tragisch.« Iris Radisch DIE ZEIT 20211104