Längst sind virtuelle Welten genauso real wie die Lebenswelten virtuell. Conny lebt in einer kleinen Küstenstadt, in der sie mit ihren Freunden Nikita und Wolfgang aus angeschwemmtem Müll Drogen destilliert. In der einst marktmächtigsten VR namens Avalon, die längst nicht mehr gewartet wird, lernt sie den großen Vogel Marlo kennen. Zusammen mit ihren Freunden machen sie sich auf, um nach der letzten Kopie der sowjetischen Utopie-VR Arkadi 3 zu suchen, in der das Licht weich und das Leben noch weicher ist – während immer mehr Menschen auf der Suche nach der reinen Wirklichkeit in den tiefen Pools der »Neuen Immersion« verschwinden.
»Die Realität kommt« ist ein zutiefst gegenwärtiger Roman, der von der Digitalisierung noch jeden Gefühls erzählt, aber auch davon, dass »unter all den Schichten aus Lethargie noch ein Herz schlägt«.
»Astralkörper wechseln die Dimension, Avatare verlieben sich, melancholische Mischwesen befragen das Universum. Wenn es das Gegenteil von Doomscrolling gibt, ist es dieser Roman.« Joshua Groß
»Die Realität kommt ist eine literarische Überschussmaschine. Das Hirn kommt den Augen beim Lesen kaum hinterher. Rudi Nuss leitet den glitch turn der deutschsprachigen Literatur ein.« Juan S. Guse
»Die Realität kommt« ist ein zutiefst gegenwärtiger Roman, der von der Digitalisierung noch jeden Gefühls erzählt, aber auch davon, dass »unter all den Schichten aus Lethargie noch ein Herz schlägt«.
»Astralkörper wechseln die Dimension, Avatare verlieben sich, melancholische Mischwesen befragen das Universum. Wenn es das Gegenteil von Doomscrolling gibt, ist es dieser Roman.« Joshua Groß
»Die Realität kommt ist eine literarische Überschussmaschine. Das Hirn kommt den Augen beim Lesen kaum hinterher. Rudi Nuss leitet den glitch turn der deutschsprachigen Literatur ein.« Juan S. Guse
»Eine glitchy Dystopie, die Queerness, Witz und Wärme mit überbordender Dunkelheit verbindet ... Gerade in der tief verwurzelten Diversität liegt auch die große Wärme und Hoffnung, die in Die Realität kommt glimmt und die Dunkelheit nie die Überhand gewinnen lässt.« Poesierausch
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2022Aufwachsen in Avalon
Untergehende Sonnen: Rudi Nuss debütiert
Die Ozeane sind in keinem guten Zustand. Das ist schon lange keine Neuigkeit mehr, aber die Belastung der Ökosysteme durch Klimawandel und anthropogene Verschmutzung hat einen neuen traurigen Rekord erreicht. Auf den Meeresgründen haben sich "subaquatische Müllberge" gebildet, in einigen Orten ist das Baden aufgrund von Metallfragmenten in Wasser und Sand nicht mehr möglich, und in Emden wurde gemeldet, dass ein Blauwal gestrandet ist, der an einem Kühlschrank erstickt ist.
So real diese Erkenntnisse bereits wirken, sind sie Teil einer Fiktion: nämlich der des Romandebüts von Rudi Nuss mit dem Titel: "Die Realität kommt". Neben dem atomar verseuchten, purpurfarbenen Meer gibt es darin in den Himmel projizierte Reklameanzeigen, die "mit fünfzehn unmöglichen Diättipps mit genauso unmöglichen Lebensmitteln" werben.
Die Welt, die Nuss konstruiert hat, weist einige Parallelen zur Wirklichkeit auf, allerdings auch einen entscheidenden historischen Unterschied im Jahr 1963: "Da schuf Sergei Lebedjew im Labor für Simulation die erste voll funktionsfähige Parallelrealität, eine immersive, faire und schimmernde Realität - Arkadi -, in der Ressourcen unendlich und Liebe großflächig und allumfassend waren." Von den Sechzigern bis zur Gegenwart verlief dann alles, wie es auch in unserer Wirklichkeit vorstellbar wäre: Die Amerikaner erfinden ebenfalls eine virtuelle Realität, Avalon, die weniger sozialistisch-utopisch, sondern eher kapitalistisch und individualistisch anmutet. In Avalon kann jede Person eigene Inseln erschaffen und sich dort verwirklichen, allerdings nur in dem Maße, in dem die Ausstattung bezahlt werden kann. So wurde die VR zum "größten Konsumhorror der Geschichte, dessen Non-Premium-Version mit Ads vollgestopft war", und kollabierte schließlich. Die Programmierer verschwanden, und in Avalon "blieben die untergehenden Sonnen aller Inseln am Horizont hängen."
Trotz dieses negativen Entwurfs ist "Die Realität kommt" keine Dystopie, denn es passiert nicht nur das Schlimmstmögliche. Die Romanfiguren leben an den Rändern der kollabierenden Gesellschaft und fühlen sich dort "sicher, denn diese sind überschaubar: Da fängt etwas Neues an, da endet etwas." Und während die kapitalistische Weltordnung endet, gestalten die Protagonistin Conny und ihre Freunde Wolfgang und Nikita sich ein neues Leben. Sie wohnen in einem Container auf einem Schrottplatz, lassen sich in der Zeit und den verschiedenen Realitäten treiben, schauen alte Horrorfilme oder nehmen Drogen, die Nikita aus Technik-Schrott aus dem Meer destilliert. Sie leben die konkrete Utopie von Zusammenhalt, von Vertrauen in Freundschaft und Partnerschaft. So verliebt sich auch Conny in Marlo - und die Passagen, die vom Kennenlernen dieser beiden Figuren erzählen, Erinnern an Genrestücke der "Coming of Age"-Literatur: Die beiden erzählen sich davon, wie sie in der VR Avalon aufgewachsen sind, und sitzen redend die ganze Nacht auf dem Dach einer ehemaligen Fabrik.
Marlo erzählt Conny schließlich von einer Kopie der alten Sowjet-Virtualwelt "Arkadi 3", die angeblich noch in den Untiefen von Avalon verborgen ist. Bei der Spurensuche, auf die sich beide begeben, entwickelt der Roman eine mysteriöse Spannung, die gerade im zweiten Teil noch durch wechselnde Erzählperspektiven verstärkt wird. Die Lesenden erfahren von den Figuren stückweise neue Informationen, während sich die allwissende und multidimensionale Erzählinstanz nur selten über den Figurenhorizont hinausbegibt. Durch die Absurdität der erzählten Welt und die verschrobenen, aber liebenswürdigen Charaktere wird teils Komik erzeugt - als Handlungsmotiv reicht beispielsweise einfach die "Hoffnung, dort würde sich durch eine random Kausalkette alles zum Besseren wenden" -, teils regen die dadurch entstehenden Situationen aber auch zur Reflexion an. Dem 1984 in Berlin geborenen Rudi Nuss gelingt es so, in seinem Roman vom Scheitern einer voll digitalisierten kapitalistischen Welt zu erzählen, ohne in einen technophoben und kulturpessimistischen Duktus abzudriften. EMILIA KRÖGER
Rudi Nuss:
"Die Realität kommt". Roman.
Diaphanes Verlag, Zürich 2022. 248 S., geb., 22,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Untergehende Sonnen: Rudi Nuss debütiert
Die Ozeane sind in keinem guten Zustand. Das ist schon lange keine Neuigkeit mehr, aber die Belastung der Ökosysteme durch Klimawandel und anthropogene Verschmutzung hat einen neuen traurigen Rekord erreicht. Auf den Meeresgründen haben sich "subaquatische Müllberge" gebildet, in einigen Orten ist das Baden aufgrund von Metallfragmenten in Wasser und Sand nicht mehr möglich, und in Emden wurde gemeldet, dass ein Blauwal gestrandet ist, der an einem Kühlschrank erstickt ist.
So real diese Erkenntnisse bereits wirken, sind sie Teil einer Fiktion: nämlich der des Romandebüts von Rudi Nuss mit dem Titel: "Die Realität kommt". Neben dem atomar verseuchten, purpurfarbenen Meer gibt es darin in den Himmel projizierte Reklameanzeigen, die "mit fünfzehn unmöglichen Diättipps mit genauso unmöglichen Lebensmitteln" werben.
Die Welt, die Nuss konstruiert hat, weist einige Parallelen zur Wirklichkeit auf, allerdings auch einen entscheidenden historischen Unterschied im Jahr 1963: "Da schuf Sergei Lebedjew im Labor für Simulation die erste voll funktionsfähige Parallelrealität, eine immersive, faire und schimmernde Realität - Arkadi -, in der Ressourcen unendlich und Liebe großflächig und allumfassend waren." Von den Sechzigern bis zur Gegenwart verlief dann alles, wie es auch in unserer Wirklichkeit vorstellbar wäre: Die Amerikaner erfinden ebenfalls eine virtuelle Realität, Avalon, die weniger sozialistisch-utopisch, sondern eher kapitalistisch und individualistisch anmutet. In Avalon kann jede Person eigene Inseln erschaffen und sich dort verwirklichen, allerdings nur in dem Maße, in dem die Ausstattung bezahlt werden kann. So wurde die VR zum "größten Konsumhorror der Geschichte, dessen Non-Premium-Version mit Ads vollgestopft war", und kollabierte schließlich. Die Programmierer verschwanden, und in Avalon "blieben die untergehenden Sonnen aller Inseln am Horizont hängen."
Trotz dieses negativen Entwurfs ist "Die Realität kommt" keine Dystopie, denn es passiert nicht nur das Schlimmstmögliche. Die Romanfiguren leben an den Rändern der kollabierenden Gesellschaft und fühlen sich dort "sicher, denn diese sind überschaubar: Da fängt etwas Neues an, da endet etwas." Und während die kapitalistische Weltordnung endet, gestalten die Protagonistin Conny und ihre Freunde Wolfgang und Nikita sich ein neues Leben. Sie wohnen in einem Container auf einem Schrottplatz, lassen sich in der Zeit und den verschiedenen Realitäten treiben, schauen alte Horrorfilme oder nehmen Drogen, die Nikita aus Technik-Schrott aus dem Meer destilliert. Sie leben die konkrete Utopie von Zusammenhalt, von Vertrauen in Freundschaft und Partnerschaft. So verliebt sich auch Conny in Marlo - und die Passagen, die vom Kennenlernen dieser beiden Figuren erzählen, Erinnern an Genrestücke der "Coming of Age"-Literatur: Die beiden erzählen sich davon, wie sie in der VR Avalon aufgewachsen sind, und sitzen redend die ganze Nacht auf dem Dach einer ehemaligen Fabrik.
Marlo erzählt Conny schließlich von einer Kopie der alten Sowjet-Virtualwelt "Arkadi 3", die angeblich noch in den Untiefen von Avalon verborgen ist. Bei der Spurensuche, auf die sich beide begeben, entwickelt der Roman eine mysteriöse Spannung, die gerade im zweiten Teil noch durch wechselnde Erzählperspektiven verstärkt wird. Die Lesenden erfahren von den Figuren stückweise neue Informationen, während sich die allwissende und multidimensionale Erzählinstanz nur selten über den Figurenhorizont hinausbegibt. Durch die Absurdität der erzählten Welt und die verschrobenen, aber liebenswürdigen Charaktere wird teils Komik erzeugt - als Handlungsmotiv reicht beispielsweise einfach die "Hoffnung, dort würde sich durch eine random Kausalkette alles zum Besseren wenden" -, teils regen die dadurch entstehenden Situationen aber auch zur Reflexion an. Dem 1984 in Berlin geborenen Rudi Nuss gelingt es so, in seinem Roman vom Scheitern einer voll digitalisierten kapitalistischen Welt zu erzählen, ohne in einen technophoben und kulturpessimistischen Duktus abzudriften. EMILIA KRÖGER
Rudi Nuss:
"Die Realität kommt". Roman.
Diaphanes Verlag, Zürich 2022. 248 S., geb., 22,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Emilia Kröger bewundert Rudi Nuss für seinen ersten Roman. Die dystopisch anmutende Realität, die Nuss im Text entwirft, hat laut Kröger durchaus Hoffnungsmomente, da die Protagonisten, die am Rand einer kaputten Gesellschaft leben, auf Werte wie Freundschaft, Vertrauen und Zusammenhalt vertrauen. Hier hat der Text für Kröger Momente einer Coming-of-Age-Story. Allerdings entwickelt Nuss mittels Perspektivenwechsel auch Spannung, erklärt die Rezensentin. Dass der Autor auf kulturpessimistische Töne verzichtet, nimmt Kröger mit einiger Erleichterung zur Kenntnis.
© Perlentaucher Medien GmbH
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