Nachdem Josef Winkler am 1. November 2008 in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis entgegengenommen hatte, hielt er zum Dank eine Rede, aus der dieses Buch entstand. Es gibt Antwort auf einige Fragen: Josef Winkler, wer ist das? Wo kommt er her? Was hat ihn geprägt? Wie ist er zum Schriftsteller geworden? Warum schämt er sich seit kurzem nicht mehr, wenn er nicht jeden Tag an Selbstmord denkt? Josef Winkler, der in einem kleinen katholischen Kärntner Dorf auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, in dem es – außer den alten, abgegriffenen schwarzen Gebetbüchern, auf denen reliefartig, also mit den Fingerkuppen berühr- und erfahrbar, ein goldenes, sich tief in den Kinderseelen verankerndes Kreuz eingraviert war – keine Bücher gab, nicht einmal die Bibel, erzählt von seiner frühen Sehnsucht nach Sprache und Bildern. Mit gestohlenem Geld kaufte er sich die Bücher von Camus, Hemingway, Sartre, Peter Weiss und Jean Genet. Er las diese Bücher, als ob er sie selber geschrieben hätte, und sagte sich, kaum hatte er den Ministrantenmantel abgelegt: »Eines Tages werde ich ein Buch schreiben!« Aus- und abschweifend entwirft Winkler ein Selbstporträt – auf dem auch zwei seiner Schutzheiligen, der Maler Chaim Soutine und der Schriftsteller und Dieb Jean Genet, Platz finden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2011Naschwerk des Todes
Wie Josef Winkler einmal beinahe die Grabplatte von Chaim Soutine geklaut hätte: In seinem neuesten Buch "Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär ..." lässt der Österreicher die Form der Todesanekdote hochleben.
Wer hätte das gedacht, nach so viel preisgekrönter Verzweiflungsprosa? Josef Winkler hat schon einige Zeit nicht mehr an Selbstmord gedacht und schämt sich nicht einmal. Im Gegenteil schreibt er immer populärer und komischer. Er sieht jüngst auch gar nicht mehr so blass und grämlich aus. Mit dem aus dem bescheuerten Schlagertext von Charlie Amberg entlehnten "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" im Jahr 2008 hatte sich eine neue Fröhlichkeit schon abgezeichnet. Der Titel des neuen Buchs setzt die Faxen fort, aber natürlich kommen wieder jede Menge Todesfälle vor.
Stephen Greenblatt hat die Anekdote in der Geschichtsschreibung rehabilitiert, weil sie das Gespräch mit den Toten fördere. So scheint es nur konsequent, dass Josef Winkler, der so gern bei den Verstorbenen weilt, "sie tun mir nichts und sind auch Menschen", die Form der Anekdote für die Literatur wiederentdeckt hat. Darin verwandeln sich viele Begebenheiten aus der traurigen Kärntner Kindheit, die der Winkler-Leser schon kennt. Der Doppelselbstmord zweier Jugendlicher bleibt aber das Attraktionszentrum des Schreibens. Wenn Winklers Religionslehrer Jakob Stingl ihm eine Frage stellte, pflegte er wohl zu antworten: "Ich habe oft versucht, mich mit der Gestalt meiner Mutter und der Gestalt meines Vaters auseinanderzusetzen, peilend zwischen Aufruhr und Unterwerfung." Da lachten die Mitschüler. Stingl fiel später betrunken über eine Stiege und brach sich das Genick, während "die Schwester von Peter Weiss bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte". Den Zusammenhang dieser Ereignisse stiftet Lektüre.
Schon früh nämlich hat Josef Winkler anekdotentaugliche Sätze seiner Lieblingsschriftsteller gesammelt. "Der Tod ist gar nichts! Kinder! Schaut, wie man stirbt!" soll Italo Svevo auf dem Totenbett gesagt haben. "Das einzige Mittel, dem Entsetzen zu entgehen, besteht darin, sich dem Entsetzen zu überlassen", so Winklers Vorbild Jean Genet. Mit "unerhörten, noch nie gesehenen, gehörten und gelesenen Sätzen" hat sich der verzweifelte Kärntner Bauernjunge über Wasser gehalten. Nun scheinen sie sich mühelos in allerlei heitere Histörchen zu fügen.
Der an der Klagenfurter Stadtpfarrkirche begrabene Julien Green, den Winkler seinen "einzigen und verlässlichen Freund" nennt, habe einmal seine Gruft besucht, die gerade betoniert wurde. "Er rutschte in diesem Moment aus, die Schuhe hingen bereits über dem Loch. ,Noch nicht!' sagte Julien Green." Vom Turm dieser Kirche stürzen sich Frauen übrigens gern paarweise auf den Friedhof.
Auch aus Jean Genets Erinnerungen hat sich Winkler die schönsten Anekdoten notiert, so die Geschichte vom Tod der Schwester Zoé, die von einem Zögling der Besserungsanstalt in ein Bassin gestürzt wurde, wo sich ihr Habit kurz seerosenhaft entfaltete. "Die erschrockene Jungfer wagte es nicht, sich im Wasser zu bewegen und zu schreien, und ertrank schließlich unter Kastanienblüten."
Was Winkler besonders interessiert, ist die Gleichzeitigkeit von Todesfällen. Der Maler Chaim Soutine starb am 9. August 1943. Seine Sterbeurkunde trug den Vermerk "Bekannt als Jude!" Zwei Tage später wurde er auf dem Friedhof von Montparnasse begraben. "Zur selben Zeit ereignete sich in seiner Heimat Smilowitsch ein grausamer Massenmord, der das Städtchen fast auslöschte." Auf Seite einundachtzig kann der Leser auch den unter Gladiolen aufgebahrten Maler betrachten, was wiederum etwas mit dem Tod von Winklers Opa zu tun hat.
Winklers Todesanekdoten bereiten Kurzweil, gelegentlich kommt sich der Leser, der die Katastrophen der Kärntner Kindheit mitleidig verfolgt hatte, ein wenig veräppelt vor. Bei Dante schmeckt der Tod bitter (amara), bei Winkler verspeisen die Kinder des Dichters einen Totenkopf aus Zuckerwerk, auf dem "Josef" steht.
FRIEDMAR APEL
Josef Winkler: "Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel". Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 152 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Josef Winkler einmal beinahe die Grabplatte von Chaim Soutine geklaut hätte: In seinem neuesten Buch "Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär ..." lässt der Österreicher die Form der Todesanekdote hochleben.
Wer hätte das gedacht, nach so viel preisgekrönter Verzweiflungsprosa? Josef Winkler hat schon einige Zeit nicht mehr an Selbstmord gedacht und schämt sich nicht einmal. Im Gegenteil schreibt er immer populärer und komischer. Er sieht jüngst auch gar nicht mehr so blass und grämlich aus. Mit dem aus dem bescheuerten Schlagertext von Charlie Amberg entlehnten "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" im Jahr 2008 hatte sich eine neue Fröhlichkeit schon abgezeichnet. Der Titel des neuen Buchs setzt die Faxen fort, aber natürlich kommen wieder jede Menge Todesfälle vor.
Stephen Greenblatt hat die Anekdote in der Geschichtsschreibung rehabilitiert, weil sie das Gespräch mit den Toten fördere. So scheint es nur konsequent, dass Josef Winkler, der so gern bei den Verstorbenen weilt, "sie tun mir nichts und sind auch Menschen", die Form der Anekdote für die Literatur wiederentdeckt hat. Darin verwandeln sich viele Begebenheiten aus der traurigen Kärntner Kindheit, die der Winkler-Leser schon kennt. Der Doppelselbstmord zweier Jugendlicher bleibt aber das Attraktionszentrum des Schreibens. Wenn Winklers Religionslehrer Jakob Stingl ihm eine Frage stellte, pflegte er wohl zu antworten: "Ich habe oft versucht, mich mit der Gestalt meiner Mutter und der Gestalt meines Vaters auseinanderzusetzen, peilend zwischen Aufruhr und Unterwerfung." Da lachten die Mitschüler. Stingl fiel später betrunken über eine Stiege und brach sich das Genick, während "die Schwester von Peter Weiss bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte". Den Zusammenhang dieser Ereignisse stiftet Lektüre.
Schon früh nämlich hat Josef Winkler anekdotentaugliche Sätze seiner Lieblingsschriftsteller gesammelt. "Der Tod ist gar nichts! Kinder! Schaut, wie man stirbt!" soll Italo Svevo auf dem Totenbett gesagt haben. "Das einzige Mittel, dem Entsetzen zu entgehen, besteht darin, sich dem Entsetzen zu überlassen", so Winklers Vorbild Jean Genet. Mit "unerhörten, noch nie gesehenen, gehörten und gelesenen Sätzen" hat sich der verzweifelte Kärntner Bauernjunge über Wasser gehalten. Nun scheinen sie sich mühelos in allerlei heitere Histörchen zu fügen.
Der an der Klagenfurter Stadtpfarrkirche begrabene Julien Green, den Winkler seinen "einzigen und verlässlichen Freund" nennt, habe einmal seine Gruft besucht, die gerade betoniert wurde. "Er rutschte in diesem Moment aus, die Schuhe hingen bereits über dem Loch. ,Noch nicht!' sagte Julien Green." Vom Turm dieser Kirche stürzen sich Frauen übrigens gern paarweise auf den Friedhof.
Auch aus Jean Genets Erinnerungen hat sich Winkler die schönsten Anekdoten notiert, so die Geschichte vom Tod der Schwester Zoé, die von einem Zögling der Besserungsanstalt in ein Bassin gestürzt wurde, wo sich ihr Habit kurz seerosenhaft entfaltete. "Die erschrockene Jungfer wagte es nicht, sich im Wasser zu bewegen und zu schreien, und ertrank schließlich unter Kastanienblüten."
Was Winkler besonders interessiert, ist die Gleichzeitigkeit von Todesfällen. Der Maler Chaim Soutine starb am 9. August 1943. Seine Sterbeurkunde trug den Vermerk "Bekannt als Jude!" Zwei Tage später wurde er auf dem Friedhof von Montparnasse begraben. "Zur selben Zeit ereignete sich in seiner Heimat Smilowitsch ein grausamer Massenmord, der das Städtchen fast auslöschte." Auf Seite einundachtzig kann der Leser auch den unter Gladiolen aufgebahrten Maler betrachten, was wiederum etwas mit dem Tod von Winklers Opa zu tun hat.
Winklers Todesanekdoten bereiten Kurzweil, gelegentlich kommt sich der Leser, der die Katastrophen der Kärntner Kindheit mitleidig verfolgt hatte, ein wenig veräppelt vor. Bei Dante schmeckt der Tod bitter (amara), bei Winkler verspeisen die Kinder des Dichters einen Totenkopf aus Zuckerwerk, auf dem "Josef" steht.
FRIEDMAR APEL
Josef Winkler: "Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel". Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 152 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2012Mit blutrotem Pinsel malen
Josef Winkler porträtiert in seinem neuen Prosaband Jean Genet, Chaim Soutine und sich selbst, den „verlorenen Sohn“
„Mein literarischer Feldzug der verbalen Rache war ein fürchterlicher“, schreibt Josef Winkler gegen Ende seines jüngsten, vollkommen überladenen, unverschämt selbstbewussten und doch faszinierenden Büchleins mit dem Monstertitel „Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel“. Der 1953 in einem Kärntner Bauerndorf geborene, 2008 von der Darmstädter Akademie mit dem Georg Büchner-Preis ausgezeichnete Autor zählt zur Spezies der Obsessiven, wobei die radikale Literaturferne seiner Herkunft sich sehr produktiv mit dem blutigen Barock des dörflichen, sowohl üppigen als auch angsteinflößenden Katholizismus vermischt.
Ein Charakteristikum der obsessiven Literatur ist, dass die Dinge nicht durch die Erzählung abgetragen werden, sondern ihre Magie nie einbüßen und daher immer und immer wieder zur Sprache kommen müssen: Wieder das Dorf mit den beiden jugendlichen Selbstmördern, Ikonie der Winklerschen Phantasie und Eifersucht; wieder der Friedhof mit seinen wütenden Engeln als Fluchtpunkt des Sonderlings; wieder die sprachlose Mutter und der hilflose Vater; die schockierende Entdeckung, dass Jesus „hohl“ sei; wieder der Totenkult und die Kombination von Sünde und Lust.
Spannend bleibt, wie Winkler Erweckung und Selbstprüfung verbindet. Von dem regelmäßig dem Vater entwendeten Geld wird eine Bibliothek von 200 Büchern angeschafft, Keim des „literarischen Feldzugs der verbalen Rache“. Immer ist vom leidenden Ich die Rede, man könnte geradezu von einem negativen Narzissmus sprechen, gipfelnd in der satt ausgeschmückten Phantasie, auf offener Straße ermordet zu werden, und das ganze Dorf dann an seinem Grab.
Winkler ist ein rücksichtsloser, tobender, aufbegehrender, die körperliche Sinnlichkeit einfordernder Schreiber. Doch gibt es jenen einen Bereich, in dem Zweifel und Wut aussetzen – Literatur und Kunst. Man muss diesen hohen Ton nicht mögen, doch respektieren sollte man ihn unbedingt als existenznotwendig.
Eingelassen in das virtuos überdekorierte Selbstporträt sind wiederum zwei Porträts. Sie gelten längst toten Künstlern, die, wie Josef Winkler selbst, schlimmen Verhältnissen entkommen sind: Jean Genet (1910-1986), der als Zögling der öffentlichen Fürsorge in einem Dorf im Morvan bei einer Pflegefamilie aufwuchs, dann in Besserungsanstalten gedrillt wurde, immer wieder ausbrach und rebellierte, bevor er einer der größten französischen Schriftsteller des
20. Jahrhunderts wurde; und Chaim Soutine (1893-1943), der in einer bettelarmen, gewalttätigen Großfamilie in Litauen aufwuchs, sich gegen das jüdische Bilderverbot durchsetzte und malte wie ein Besessener, der es schaffte, an der Kunsthochschule in Vilnius aufgenommen zu werden, bevor er, völlig mittellos und nur Jiddisch sprechend, als Zwanzigjähriger nach Paris ging, wo dann das Wunder geschah und er ein berühmter, schließlich sogar reicher Maler wurde, bewundert von Modigliani und Picasso.
Über Soutine schreibt Josef Winkler, er habe „die schönsten roten Gladiolen, die schönsten jungen Zuckerbäcker und die schönsten Ministranten der Kunstgeschichte" gemalt. Und tote Tiere, die bis zur Verwesung in seinem Atelier blieben: „Soutine verletzte die Dogmen des Schtetl (. . .), hängte die bluten Tiere, Hähne, Kaninchen, Fasane an Fleischerhaken und studierte sie genau, bevor er den Pinsel in die Hand nahm.“
Die beiden Porträts – über Genet hat Winkler ja schon einiges geschrieben – zeugen von großem Einfühlungsvermögen und sind herrlich zu lesen. Die Recherche allerdings haben zum überwiegenden Teil andere geleistet. Winkler bedient sich ihrer Arbeiten (die er am Ende nachweist) sehr freizügig, wenn er sich in den Lebensgeschichten Jean Genets und Chaim Soutines spiegelt.
Ein entscheidender Unterschied zwischen dem Kärtner Bauernsohn und den beiden Porträtierten sei herausgestrichen: Weder wollte Soutine seinen strengen Vater jemals wiedersehen, noch hat Genet überhaupt gewusst, wer sein Vater war. Der „verlorene Sohn“ Josef Winkler jedoch wird, als er nach vielen Jahren, zum Hof der Familie zurückkehrt, vom Vater mit offenen Armen empfangen. Und wenn man will, kann man in dieser Annäherung an den Vater, der den Sohn in der Kindheit eher schroff behandelte, sowie in der Annäherung des Vaters an den schreibsüchtigen Sohn – immerhin schenkt er ihm eines Tages eine Olivetti im Wert eines Stiers – als die zärtlichste Schicht dieser blutroten autobiographischen Erzählung betrachten.
INA HARTWIG
JOSEF WINKLER: Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 163 S., 17,90 Euro.
Zur literarischen Rache
gehört die Phantasie, auf offener
Straße ermordet zu werden
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Josef Winkler porträtiert in seinem neuen Prosaband Jean Genet, Chaim Soutine und sich selbst, den „verlorenen Sohn“
„Mein literarischer Feldzug der verbalen Rache war ein fürchterlicher“, schreibt Josef Winkler gegen Ende seines jüngsten, vollkommen überladenen, unverschämt selbstbewussten und doch faszinierenden Büchleins mit dem Monstertitel „Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel“. Der 1953 in einem Kärntner Bauerndorf geborene, 2008 von der Darmstädter Akademie mit dem Georg Büchner-Preis ausgezeichnete Autor zählt zur Spezies der Obsessiven, wobei die radikale Literaturferne seiner Herkunft sich sehr produktiv mit dem blutigen Barock des dörflichen, sowohl üppigen als auch angsteinflößenden Katholizismus vermischt.
Ein Charakteristikum der obsessiven Literatur ist, dass die Dinge nicht durch die Erzählung abgetragen werden, sondern ihre Magie nie einbüßen und daher immer und immer wieder zur Sprache kommen müssen: Wieder das Dorf mit den beiden jugendlichen Selbstmördern, Ikonie der Winklerschen Phantasie und Eifersucht; wieder der Friedhof mit seinen wütenden Engeln als Fluchtpunkt des Sonderlings; wieder die sprachlose Mutter und der hilflose Vater; die schockierende Entdeckung, dass Jesus „hohl“ sei; wieder der Totenkult und die Kombination von Sünde und Lust.
Spannend bleibt, wie Winkler Erweckung und Selbstprüfung verbindet. Von dem regelmäßig dem Vater entwendeten Geld wird eine Bibliothek von 200 Büchern angeschafft, Keim des „literarischen Feldzugs der verbalen Rache“. Immer ist vom leidenden Ich die Rede, man könnte geradezu von einem negativen Narzissmus sprechen, gipfelnd in der satt ausgeschmückten Phantasie, auf offener Straße ermordet zu werden, und das ganze Dorf dann an seinem Grab.
Winkler ist ein rücksichtsloser, tobender, aufbegehrender, die körperliche Sinnlichkeit einfordernder Schreiber. Doch gibt es jenen einen Bereich, in dem Zweifel und Wut aussetzen – Literatur und Kunst. Man muss diesen hohen Ton nicht mögen, doch respektieren sollte man ihn unbedingt als existenznotwendig.
Eingelassen in das virtuos überdekorierte Selbstporträt sind wiederum zwei Porträts. Sie gelten längst toten Künstlern, die, wie Josef Winkler selbst, schlimmen Verhältnissen entkommen sind: Jean Genet (1910-1986), der als Zögling der öffentlichen Fürsorge in einem Dorf im Morvan bei einer Pflegefamilie aufwuchs, dann in Besserungsanstalten gedrillt wurde, immer wieder ausbrach und rebellierte, bevor er einer der größten französischen Schriftsteller des
20. Jahrhunderts wurde; und Chaim Soutine (1893-1943), der in einer bettelarmen, gewalttätigen Großfamilie in Litauen aufwuchs, sich gegen das jüdische Bilderverbot durchsetzte und malte wie ein Besessener, der es schaffte, an der Kunsthochschule in Vilnius aufgenommen zu werden, bevor er, völlig mittellos und nur Jiddisch sprechend, als Zwanzigjähriger nach Paris ging, wo dann das Wunder geschah und er ein berühmter, schließlich sogar reicher Maler wurde, bewundert von Modigliani und Picasso.
Über Soutine schreibt Josef Winkler, er habe „die schönsten roten Gladiolen, die schönsten jungen Zuckerbäcker und die schönsten Ministranten der Kunstgeschichte" gemalt. Und tote Tiere, die bis zur Verwesung in seinem Atelier blieben: „Soutine verletzte die Dogmen des Schtetl (. . .), hängte die bluten Tiere, Hähne, Kaninchen, Fasane an Fleischerhaken und studierte sie genau, bevor er den Pinsel in die Hand nahm.“
Die beiden Porträts – über Genet hat Winkler ja schon einiges geschrieben – zeugen von großem Einfühlungsvermögen und sind herrlich zu lesen. Die Recherche allerdings haben zum überwiegenden Teil andere geleistet. Winkler bedient sich ihrer Arbeiten (die er am Ende nachweist) sehr freizügig, wenn er sich in den Lebensgeschichten Jean Genets und Chaim Soutines spiegelt.
Ein entscheidender Unterschied zwischen dem Kärtner Bauernsohn und den beiden Porträtierten sei herausgestrichen: Weder wollte Soutine seinen strengen Vater jemals wiedersehen, noch hat Genet überhaupt gewusst, wer sein Vater war. Der „verlorene Sohn“ Josef Winkler jedoch wird, als er nach vielen Jahren, zum Hof der Familie zurückkehrt, vom Vater mit offenen Armen empfangen. Und wenn man will, kann man in dieser Annäherung an den Vater, der den Sohn in der Kindheit eher schroff behandelte, sowie in der Annäherung des Vaters an den schreibsüchtigen Sohn – immerhin schenkt er ihm eines Tages eine Olivetti im Wert eines Stiers – als die zärtlichste Schicht dieser blutroten autobiographischen Erzählung betrachten.
INA HARTWIG
JOSEF WINKLER: Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 163 S., 17,90 Euro.
Zur literarischen Rache
gehört die Phantasie, auf offener
Straße ermordet zu werden
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zwischen all dem Dorfwahnsinn, den Selbstmördern und Engeln und schroffen Vätern beim obsessiven Schreiber Josef Winkler entdeckt Ina Hartwig doch tatsächlich eine zärtliche Schicht. Im Vergleich der autobiografischen Seiten des Buches mit den beiden in die Erzählung eingewobenen Porträts Jean Genets und Chaim Soutines erkennt sie den Unterschied zwischen den beiden vaterlosen Gesellen der Kunst- und Literaturgeschichte und Winklers später fast versöhnlicher Rückkehr zum Vater und Vaterhaus. Der Rest ist freilich gewohnt unerhört, wie Hartwig konstatiert: Barock, fordernd, wieder und wieder um die alten Themen kreisend, ums Ich, alles im hohen Ton, den man nicht mögen muss, das gesteht Hartwig uns freimütig zu. Aber Respekt zollen, findet sie, sollten wir dem schon.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»In besonders konzentrierter Form setzt Winkler in dieser poetologischen Reflexion von existenzieller Wucht und sprachlicher Schönheit die Bausteine seines fiktiv stilisierten Erlebnismaterials noch einmal neu zusammen. Das künstlerische Augenmaß und absolute Gehör, mit dem Winkler die Sprache hier Satz für Satz auf die goldene Waage legt, Leben und Tod auspendelt, ist beeindruckend.« Michaela Schmitz Deutschlandfunk 20120305