Paris - die Stadt der Liebe und des Eiffelturms, der verwinkelten Gassen und überfüllten Touristenbusse. Hier darf Onkel Boris, ein echter sowjetischer Held der Arbeit, Urlaub machen. Dass sich die vermeintliche französische Metropole zu Beginn des Herbstes in ein nebelverhangenes London verwandelt und in Wahrheit eine Kulisse in der südrussischen Steppe ist, werden die Besucher nie erfahren. Auf der Krim dagegen ist alles echt, selbst die angesengten Stiefel des im Krieg über der Halbinsel abgeschossenen Joseph Beuys. Und da genug von dem wertvollen Schuhwerk vorhanden scheint, lebt die Bevölkerung nicht schlecht von den Souvenir sammelnden Kunst-Touristen. Ob in den entlegensten Winkeln der Welt oder in den Strassen der Metropolen, überall lauert das Unerwartete. Und wenn man Wladimir Kaminer als Reiseführer an seiner Seite hat, erlebt man unterwegs zwischen Sibirien und Dänemark, Moskau und Paris garantiert sein blaues Wunder ...
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Unterwegs ins Unbekannte
"Es gibt viel zu sehen auf der großen, weiten Welt - also sehen sie wir uns näher an" - das könnte als Motto über den fünf Erzählungen stehen, die Wladimir Kaminer in dem Band Die Reise nach Trulala zusammengestellt hat. Nach Trulala? Um es vorweg zu nehmen, mit Kasperlgeschichten haben Kaminers Erzählungen nichts zu tun. Trulala ist eine Stadt auf der Krim, und zwar genau der Ort, an den es den jungen Soldaten Joseph Beuys bei seinem Flugzeug-Absturz im II. Weltkrieg hinverschlagen hat.
Russen auf Reisen und Reisende in Russland
In drei Erzählungen, "Verfehltes Paris", "Verdeckung Amerikas" und "Verlaufen in Dänemark" sind Russen die Protagonisten, während in den übrigen, "Verschollen auf der Krim" und "Verdorben in Sibirien", Russland das Reiseziel ist. Wie Reisende, die ohne festen Reiseplan von hier nach dort gelangen, reiht Kaminer in seinen Erzählungen Anekdote an Anekdote. So handelt "Verfehltes Paris" nicht nur von Onkel Boris´ denkwürdiger Reise in die französische Hauptstadt: Onkel Boris hatte von der sowjetischen Regierung eine Reise nach Paris geschenkt bekommen. Kaum war er an seinem Reiseziel eingetroffen, kommen ihm einige Franzosen seltsam bekannt vor... Ganz zu Anfang erfahren wir, wie sich Wladimir Kaminer noch zu Sowjetzeiten um eine Reiseerlaubnis nach Paris bemühte - aus der Reise wurde nichts. Nach Paris geschafft haben es dagegen sein Freund Kochargin und dessen Freundin. Sie besuchten dort einen Exil-Russen und sind dabei, wie in einer echten Kaminer-Geschichte nicht anders zu erwarten, ganz schön unter die Räder gekommen...
Die gelungene Fortsetzung von Russendisko
Kaminers Helden sind Leute von der Straße, kindlich-naive Charaktere, die ein wenig zur Schrulligkeit neigen und sich tapfer durchs Leben schlagen. Die Reise nach Trulala erzählt von Leuten, die kurz vor oder kurz nach dem Ende des Sowjetregimes nach Russland oder von Russland aus in den Westen unterwegs waren. Egal, wer wohin reiste - für beide, für die Russen wie für die Reisenden aus dem Westen, war das Reiseziel absolutes Neuland! Kaminer hat selbst in seinen Erinnerungen gekramt, sich unter seinen Landsleuten und Freunden umgehört und berichtet in seinen hintergründig-ironischen Trulala-Erzählungen über unglaubliche Erlebnisse und denkwürdige Begegnungen von unterwegs. (Birgit Kuhn)
"Kaminer ist ein großes Erzähltalent." (Der Spiegel)
"Es gibt drei Arten, die Welt zu sehen: die optimistische, die pessimistische und die von Wladimir Kaminer." (Frankfurter Rundschau)
"Angeblich nichts erfunden hat Wladimir Kaminer, der vor zwölf Jahren von Moskau nach Berlin umsiedelte, auch diesmal wieder. Titelgebend für seine wunderliche Anekdotensammlung ist die Geschichte von Martin, der sich nach Trulala aufmacht, um einer alten Sage nachzuspüren - dem Schicksal von Joseph Beuys, der 1944 über der Krim abgestürzt, von Tataren aufgenommen und gesund gepflegt worden sein soll. Martin staunt nicht schlecht, als er entdeckt, dass die Einheimischen Ausflüge zur angeblichen Absturzstelle anbieten und einen florierenden Reliquienhandel mit den Wrackteilen betreiben." (X-Mag)
"Es gibt viel zu sehen auf der großen, weiten Welt - also sehen sie wir uns näher an" - das könnte als Motto über den fünf Erzählungen stehen, die Wladimir Kaminer in dem Band Die Reise nach Trulala zusammengestellt hat. Nach Trulala? Um es vorweg zu nehmen, mit Kasperlgeschichten haben Kaminers Erzählungen nichts zu tun. Trulala ist eine Stadt auf der Krim, und zwar genau der Ort, an den es den jungen Soldaten Joseph Beuys bei seinem Flugzeug-Absturz im II. Weltkrieg hinverschlagen hat.
Russen auf Reisen und Reisende in Russland
In drei Erzählungen, "Verfehltes Paris", "Verdeckung Amerikas" und "Verlaufen in Dänemark" sind Russen die Protagonisten, während in den übrigen, "Verschollen auf der Krim" und "Verdorben in Sibirien", Russland das Reiseziel ist. Wie Reisende, die ohne festen Reiseplan von hier nach dort gelangen, reiht Kaminer in seinen Erzählungen Anekdote an Anekdote. So handelt "Verfehltes Paris" nicht nur von Onkel Boris´ denkwürdiger Reise in die französische Hauptstadt: Onkel Boris hatte von der sowjetischen Regierung eine Reise nach Paris geschenkt bekommen. Kaum war er an seinem Reiseziel eingetroffen, kommen ihm einige Franzosen seltsam bekannt vor... Ganz zu Anfang erfahren wir, wie sich Wladimir Kaminer noch zu Sowjetzeiten um eine Reiseerlaubnis nach Paris bemühte - aus der Reise wurde nichts. Nach Paris geschafft haben es dagegen sein Freund Kochargin und dessen Freundin. Sie besuchten dort einen Exil-Russen und sind dabei, wie in einer echten Kaminer-Geschichte nicht anders zu erwarten, ganz schön unter die Räder gekommen...
Die gelungene Fortsetzung von Russendisko
Kaminers Helden sind Leute von der Straße, kindlich-naive Charaktere, die ein wenig zur Schrulligkeit neigen und sich tapfer durchs Leben schlagen. Die Reise nach Trulala erzählt von Leuten, die kurz vor oder kurz nach dem Ende des Sowjetregimes nach Russland oder von Russland aus in den Westen unterwegs waren. Egal, wer wohin reiste - für beide, für die Russen wie für die Reisenden aus dem Westen, war das Reiseziel absolutes Neuland! Kaminer hat selbst in seinen Erinnerungen gekramt, sich unter seinen Landsleuten und Freunden umgehört und berichtet in seinen hintergründig-ironischen Trulala-Erzählungen über unglaubliche Erlebnisse und denkwürdige Begegnungen von unterwegs. (Birgit Kuhn)
"Kaminer ist ein großes Erzähltalent." (Der Spiegel)
"Es gibt drei Arten, die Welt zu sehen: die optimistische, die pessimistische und die von Wladimir Kaminer." (Frankfurter Rundschau)
"Angeblich nichts erfunden hat Wladimir Kaminer, der vor zwölf Jahren von Moskau nach Berlin umsiedelte, auch diesmal wieder. Titelgebend für seine wunderliche Anekdotensammlung ist die Geschichte von Martin, der sich nach Trulala aufmacht, um einer alten Sage nachzuspüren - dem Schicksal von Joseph Beuys, der 1944 über der Krim abgestürzt, von Tataren aufgenommen und gesund gepflegt worden sein soll. Martin staunt nicht schlecht, als er entdeckt, dass die Einheimischen Ausflüge zur angeblichen Absturzstelle anbieten und einen florierenden Reliquienhandel mit den Wrackteilen betreiben." (X-Mag)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.2002Geschenktes Glück macht fett
Krimkrisengewinnler: Wladimir Kaminer auf den Spuren von Beuys
In den zwanziger Jahren lebten in Berlin bis zu dreihunderttausend Exilrussen, die ihrer verlorenen Heimat nachtrauerten und, um die Erinnerung daran nicht zu beschmutzen, den Umgang mit den Einheimischen auf das Notwendigste beschränkten. Vladimir Nabokov etwa lernte hier in fünfzehn Jahren kaum ein Wort Deutsch; was er von stiernackigen Schlägern und sadistischen Zimmerwirtinnen über den "schweinischen deutschen Geist" erfuhr, konnte ihn jedenfalls nicht aus dem Schneckenhaus seiner splendid isolation vertreiben.
Wladimir Kaminer kam 1990 in jenem günstigen Augenblick nach Berlin, als der Osten gerade implodierte und der Westen im Bewußtsein des welthistorischen Aufbruchs vibrierte: Der Spätaussiedler ging keiner Begegnung aus dem Wege und ist heute einer der erfolgreichsten deutschen Jungautoren. Wenn er in seiner "Russendisko" im "Kaffee Burger" Platten auflegt, Zeitungskolumnen schreibt, im ZDF-Morgenmagazin auftritt oder mit schwerem russischen Akzent und tadelloser Syntax aus seinen Büchern liest, kommen nicht nur Landsleute oder Partyhopper auf ihre Kosten: Kaminer ist Kult.
Anders als der Aristokrat Nabokov hat er freilich kein Paradies verloren, das nostalgischer Elegien oder grimmiger Ressentiments wert wäre; voll integriert und immer noch erfahrungshungriger Grenzgänger, hat er weder das Bedürfnis noch die Fähigkeit, das verlorene Paradies in einer hochmütigen, eleganten Sprache zu rekonstruieren. Daß seine Anekdoten und Erinnerungen so unprätentiös lakonisch daherkommen, macht sie auf Anhieb sympathisch.
Kaminer erzählt von deutschen und russischen Lebenskünstlern, Anarchisten und Existenzgründern, von ihren tragikomischen Anstrengungen, die nötige Tagesration an Weibern und Wodka, Geld, Spaß und Selbstbestätigung aufzutreiben. Heimweh und landestypische Schwermut sind ihm nicht fremd, aber in der Russendisko klingt der alte Emigranten-Blues fast fröhlich: Kaminer bläst nie pessimistische Trübsal und hadert nicht mit dem Schicksal, sondern erfreut sich gelassen, heiter und trotzig seiner bohemehaften Nonchalance. Selbst die alte Sowjetunion erscheint in seinen Erinnerungen als ein Land, das robusten Aussteigern allerlei subkulturelle Nischen und Tanzböden intelligenter Subversion bot.
In "Die Reise nach Trulala" nun weitet sich der Horizont: Aus den Miniaturen sind längere Erzählungen, Bruchstücke einer Autobiographie, geworden; die kleinen Fluchten führen bis nach Paris, Kopenhagen oder New York. Die große weite Welt von Freiheit und Abenteuer, vor der das Staatsfernsehen immer warnte, erweist sich bei näherem Hinsehen tatsächlich als "ein einziger großer Beschiß". "Ein Mensch, der einfach nur frei und glücklich sein will", berichten frustrierte Amerika-Heimkehrer, "hat in dem Lügenimperium keine Chance": Das Leben ist so ungenießbar wie die McDonald's-Hamburger vom Puschkinplatz, und selbst die Frauen haben, was der "Playboy" immer verschwieg, "viel zu dicke Hintern".
"Geschenktes Glück macht die Menschen lustlos und fett": Also bleibt Kaminer lieber gleich daheim, lobt sich das wildere, authentischere Leben in Moskau oder Berlin und bewundert im stillen die Weisheit der Sowjetregierung, die ein Potemkinsches Paris in die südrussische Steppe stellte, um verdienten Melkerinnen und Bestarbeitern den teuren, nutzlosen und gefährlichen Ausflug an die Seine zu ersparen.
Die Sehnsucht nach dem anderen läßt sich freilich nicht still stellen. Kommen nicht heute Ausländer nach Moskau, um eine Art Abenteuerurlaub, halb Extremsport, halb Selbsterfahrungstrip, zu erleben? Martin etwa, vormals grüner MdB und jetzt passionierter Radfahrer, findet sogar in Sibirien menschliche und ökologische Herausforderungen und einen Radweg für seinen Willen. Die Expedition eines anderen Martin auf die Krim, wo Joseph Beuys im Krieg abgestürzt und von Tataren mit Filz und Fett gerettet worden sein soll, gerät dagegen zum Fiasko: In Torlala oder Trulala - deutsche Kunstgeschichtsstudenten nehmen es nicht so genau - wird er bereits von Souvenir- und Reliquienhändlern empfangen.
Ein freundlicher Soziologe, der über "Betrug als Überlebenschance" promoviert hat, führt ihn zu Viktor Josefowitsch, der sich durch Filzpantoffeln und Schäferhund als Beuys' legitimer Sohn ausweist, aber keine Zeit für Interviews hat: In seiner bescheidenen Kate läuft gerade die "Sklavin Isaura". Seifenopern, Sex, Suff und Drogen machen die globalisierte Welt zum multikulturellen Dorf und relativieren so das Heimweh entwurzelter Asylanten: In Berlin kochen Amerikaner französisch, auf dem Montmartre verkleiden sich polnische Straßenmaler als Russen und Jugoslawen als Michelangelos.
Kaminer ist ein pfiffiger Satiriker, genauer Beobachter und begabter Erzähler, der aus einem reichen Fundus bizarrer Erfahrungen und abenteuerlicher Anekdoten schöpfen kann. Dieser Vorsprung gegenüber deutschen Autoren seiner Generation gerät auf der "Reise nach Trulala" allerdings in Gefahr: Kaminer muß auf fremde Lügenmärchen, Hörensagen und Angelesenes zurückgreifen, um die Seiten zu füllen. Die unbeschwerte, unverbrauchte Zuversicht des Hans-guck-in-die-Luft, der im Fremden das Bekannte und im Bekannten das Fremde aufspürte, gerinnt mählich zur Manier; seine Neugier auf die Errungenschaften des Westens erschlafft, seine sonst so schlanken Pointen setzen Fett an. Auch Kaminer hat seine Unschuld verloren. Er muß jetzt zeigen, ob er mehr als multikulturelle Folklore und Wanderlegenden zu bieten hat und genug Atem für die epische Langstrecke. Anders gesagt: ob er in seiner neuen Heimat ankommen oder den breiten Weg nach Tralala einschlagen will.
MARTIN HALTER
Wladimir Kaminer: "Die Reise nach Trulala". Manhattan Verlag, Berlin 2002. 188 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Krimkrisengewinnler: Wladimir Kaminer auf den Spuren von Beuys
In den zwanziger Jahren lebten in Berlin bis zu dreihunderttausend Exilrussen, die ihrer verlorenen Heimat nachtrauerten und, um die Erinnerung daran nicht zu beschmutzen, den Umgang mit den Einheimischen auf das Notwendigste beschränkten. Vladimir Nabokov etwa lernte hier in fünfzehn Jahren kaum ein Wort Deutsch; was er von stiernackigen Schlägern und sadistischen Zimmerwirtinnen über den "schweinischen deutschen Geist" erfuhr, konnte ihn jedenfalls nicht aus dem Schneckenhaus seiner splendid isolation vertreiben.
Wladimir Kaminer kam 1990 in jenem günstigen Augenblick nach Berlin, als der Osten gerade implodierte und der Westen im Bewußtsein des welthistorischen Aufbruchs vibrierte: Der Spätaussiedler ging keiner Begegnung aus dem Wege und ist heute einer der erfolgreichsten deutschen Jungautoren. Wenn er in seiner "Russendisko" im "Kaffee Burger" Platten auflegt, Zeitungskolumnen schreibt, im ZDF-Morgenmagazin auftritt oder mit schwerem russischen Akzent und tadelloser Syntax aus seinen Büchern liest, kommen nicht nur Landsleute oder Partyhopper auf ihre Kosten: Kaminer ist Kult.
Anders als der Aristokrat Nabokov hat er freilich kein Paradies verloren, das nostalgischer Elegien oder grimmiger Ressentiments wert wäre; voll integriert und immer noch erfahrungshungriger Grenzgänger, hat er weder das Bedürfnis noch die Fähigkeit, das verlorene Paradies in einer hochmütigen, eleganten Sprache zu rekonstruieren. Daß seine Anekdoten und Erinnerungen so unprätentiös lakonisch daherkommen, macht sie auf Anhieb sympathisch.
Kaminer erzählt von deutschen und russischen Lebenskünstlern, Anarchisten und Existenzgründern, von ihren tragikomischen Anstrengungen, die nötige Tagesration an Weibern und Wodka, Geld, Spaß und Selbstbestätigung aufzutreiben. Heimweh und landestypische Schwermut sind ihm nicht fremd, aber in der Russendisko klingt der alte Emigranten-Blues fast fröhlich: Kaminer bläst nie pessimistische Trübsal und hadert nicht mit dem Schicksal, sondern erfreut sich gelassen, heiter und trotzig seiner bohemehaften Nonchalance. Selbst die alte Sowjetunion erscheint in seinen Erinnerungen als ein Land, das robusten Aussteigern allerlei subkulturelle Nischen und Tanzböden intelligenter Subversion bot.
In "Die Reise nach Trulala" nun weitet sich der Horizont: Aus den Miniaturen sind längere Erzählungen, Bruchstücke einer Autobiographie, geworden; die kleinen Fluchten führen bis nach Paris, Kopenhagen oder New York. Die große weite Welt von Freiheit und Abenteuer, vor der das Staatsfernsehen immer warnte, erweist sich bei näherem Hinsehen tatsächlich als "ein einziger großer Beschiß". "Ein Mensch, der einfach nur frei und glücklich sein will", berichten frustrierte Amerika-Heimkehrer, "hat in dem Lügenimperium keine Chance": Das Leben ist so ungenießbar wie die McDonald's-Hamburger vom Puschkinplatz, und selbst die Frauen haben, was der "Playboy" immer verschwieg, "viel zu dicke Hintern".
"Geschenktes Glück macht die Menschen lustlos und fett": Also bleibt Kaminer lieber gleich daheim, lobt sich das wildere, authentischere Leben in Moskau oder Berlin und bewundert im stillen die Weisheit der Sowjetregierung, die ein Potemkinsches Paris in die südrussische Steppe stellte, um verdienten Melkerinnen und Bestarbeitern den teuren, nutzlosen und gefährlichen Ausflug an die Seine zu ersparen.
Die Sehnsucht nach dem anderen läßt sich freilich nicht still stellen. Kommen nicht heute Ausländer nach Moskau, um eine Art Abenteuerurlaub, halb Extremsport, halb Selbsterfahrungstrip, zu erleben? Martin etwa, vormals grüner MdB und jetzt passionierter Radfahrer, findet sogar in Sibirien menschliche und ökologische Herausforderungen und einen Radweg für seinen Willen. Die Expedition eines anderen Martin auf die Krim, wo Joseph Beuys im Krieg abgestürzt und von Tataren mit Filz und Fett gerettet worden sein soll, gerät dagegen zum Fiasko: In Torlala oder Trulala - deutsche Kunstgeschichtsstudenten nehmen es nicht so genau - wird er bereits von Souvenir- und Reliquienhändlern empfangen.
Ein freundlicher Soziologe, der über "Betrug als Überlebenschance" promoviert hat, führt ihn zu Viktor Josefowitsch, der sich durch Filzpantoffeln und Schäferhund als Beuys' legitimer Sohn ausweist, aber keine Zeit für Interviews hat: In seiner bescheidenen Kate läuft gerade die "Sklavin Isaura". Seifenopern, Sex, Suff und Drogen machen die globalisierte Welt zum multikulturellen Dorf und relativieren so das Heimweh entwurzelter Asylanten: In Berlin kochen Amerikaner französisch, auf dem Montmartre verkleiden sich polnische Straßenmaler als Russen und Jugoslawen als Michelangelos.
Kaminer ist ein pfiffiger Satiriker, genauer Beobachter und begabter Erzähler, der aus einem reichen Fundus bizarrer Erfahrungen und abenteuerlicher Anekdoten schöpfen kann. Dieser Vorsprung gegenüber deutschen Autoren seiner Generation gerät auf der "Reise nach Trulala" allerdings in Gefahr: Kaminer muß auf fremde Lügenmärchen, Hörensagen und Angelesenes zurückgreifen, um die Seiten zu füllen. Die unbeschwerte, unverbrauchte Zuversicht des Hans-guck-in-die-Luft, der im Fremden das Bekannte und im Bekannten das Fremde aufspürte, gerinnt mählich zur Manier; seine Neugier auf die Errungenschaften des Westens erschlafft, seine sonst so schlanken Pointen setzen Fett an. Auch Kaminer hat seine Unschuld verloren. Er muß jetzt zeigen, ob er mehr als multikulturelle Folklore und Wanderlegenden zu bieten hat und genug Atem für die epische Langstrecke. Anders gesagt: ob er in seiner neuen Heimat ankommen oder den breiten Weg nach Tralala einschlagen will.
MARTIN HALTER
Wladimir Kaminer: "Die Reise nach Trulala". Manhattan Verlag, Berlin 2002. 188 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"…mach einfach Spaß und ist ein superlustiges Hörerlebnis, mit dem man Autobahn-Staus locker übersteht."