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Jürg Amann lässt Existenzen zerschellen
Mit dem Sterben hat sich der Schweizer Schriftsteller Jürg Amann, Jahrgang 1947, immer wieder auseinandergesetzt, zuletzt in "Fragmente auf Tod und Leben". "Der Tod ist der Fehler in der Welt" heißt der erste Satz dieser Sammlung von Zitaten und eigenen Einsichten, die kaum einen Trost zulassen, es sei denn Hermann Burgers stoisches Bekenntnis: "Ich sterbe, also bin ich." Die jüngste Novelle "Die Reise zum Horizont" gibt diese verzweifelt tapfere Todesgewissheit bildhaft wieder.
Ein Flugzeugabsturz über den Anden (er fand tatsächlich in den siebziger Jahren statt): Die Explosion hat zerfetzte Körper und Überlebende auf ein Eisfeld geschleudert. Im aufgeschlitzten Rumpf der Maschine verkohlen eingeklemmte Passagiere und ihre Gepäckstücke. Einer der Überlebenden, der Arzt einer Rugby-Mannschaft, leistet Erste Hilfe und "sortiert" die Hoffnungslosen aus. Er ist einer der wenigen, der aus dem anonymen Wir, das Jürg Amann für seinen Bericht anwendet, hervortritt.
Die Hoffnung, dass das auf dem Radarschirm verlorene Flugzeug entdeckt wird, schwindet von Tag zu Tag, die kärglichen Nahrung ist bald verzehrt. Der Kälte in der Gletscherwüste schutzlos ausgeliefert, bleibt den Katastrophenopfern nur eines übrig: sich mit dem Sterben abzufinden. Doch der Lebenswille erlischt zuletzt. Er überwindet sogar Widerwillen und moralische Schranken: Jürg Amann beschreibt mit grausiger Genauigkeit Kannibalismus als Verzweiflungstat. Zum letzten Mal flackern aber auch Lebensgier und Sexualität in den geschwächten aneinandergedrängten Körpern auf. "Etwas Besseres als den Tod vielleicht nicht, aber den Tod jedenfalls finden wir überall, sagten wir uns" - so heißt es am Schluss, als die wenigen Überlebenden beschließen, den Abstieg zu wagen. "Wenn wir schon sterben mussten, dann lieber im Gehen, unterwegs, auf der Reise hinter den Horizont."
Der Horizont ist die Grenzlinie zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod. Einer muss sie überschritten haben, sonst gäbe es diese Parabel nicht, die so abrupt endet wie sie angefangen hat.
MARIA FRISÉ
Jürg Amann: "Die Reise zum Horizont". Novelle.
Haymon Verlag, Innsbruck / Wien 2010. 104 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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