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© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wenn die Karikatur zur Machtfrage wird: Meisterhaft erzählt der kolumbianische Autor Juan Gabriel Vásquez in seinem Roman "Die Reputation" von einer großen Verunsicherung.
Der kolumbianische Karikaturist Ricardo Rendón ging im Oktober 1931 in ein Café im Zentrum von Bogotá. Im La Gran Viá fertigte er eine Zeichnung an von einem Mann, der sich eine Kugel in den Kopf schießt. Danach ging er nach Hause, legte die Zeichnung neben sich auf den Schreibtisch und schoss sich eine Kugel in den Kopf. Der Nachwelt ist nicht bekannt, weshalb. Im heutigen Bogotá vergibt der kolumbianische Autor Juan Gabriel Vásquez einen ärztlichen Notfalltermin an den fiktiven Politiker Adolfo Cuéllar.
Während der Untersuchung, in der Depressionen diagnostiziert werden, lässt er den Abgeordneten aus dem Fenster seines Arztes springen. Bald dreißig Jahre ist ein Vorfall her, der mit diesem Selbstmord zu tun haben könnte und von dem der neue Roman von Juan Gabriel Vásquez handelt. Javier Mallarino, die Hauptfigur von "Die Reputation", erinnert sich Cuéllars ausgerechnet auf dem Gipfelpunkt seiner Karriere. Im Teatro Colón soll dem Karikaturisten ein Staatspreis verliehen werden. All jene, gegen die er zeitlebens angezeichnet hat - korrupte, zynische oder fahrlässige Politiker - haben sich versammelt, um sich einen berühmten Störenfried feierlich zu eigen zu machen. Schließlich ist Mallarino ein Mann, dessen Reputation tadellos ist. Und welcher Politiker möchte nicht im Ruf stehen, einen solchen Mann zum Freund zu haben? Oder wie Mallarinos Ex-Frau es ausdrückt: "Rodrigo sagt, Glückwunsch, nun bist du da, wo du sein musst. In diesem Land ist man erst jemand, wenn einem ein anderer etwas antun will."
Zurückgezogen von der Herrscherclique, hat Javier Mallarino als unanfechtbarer Kritiker des politischen Systems das Leben einer "moralischen Instanz" geführt. So sieht er sich auch selbst: glatzköpfig, schonungslos ehrlich und bis zur Selbstqual kompromisslos. Seine Frau, die er noch immer liebt, ist ihm auf halber Strecke abhandengekommen, auch das Familienleben mit der gemeinsamen Tochter Beatriz musste höheren Zielen weichen. Nun wird dieser Mallarino endlich für sein Lebenswerk geehrt. Prompt gibt eine junge Frau vor, ein Interview mit ihm führen zu wollen. Doch wie sich bald herausstellt, handelt es sich um eine Kindheitsfreundin seiner Tochter. Samanta Leal ist gekommen, um den Vater der kleinen Beatriz näher kennenzulernen. Dabei erfährt sie von einer Begebenheit, von der Mallarino besser geschwiegen hätte.
Der Abgeordnete Adolfo Cuéllar war nämlich vor bald dreißig Jahren auf einer Party Mallarinos aufgetaucht. Er hatte ihn angefleht, sein Bild von ihm zu ändern. Er könne sich nicht vorstellen, wie sehr er, seine Frau und seine Söhne unter den gemeinen Karikaturen litten. Doch Mallarino hörte nicht auf, Cuéllar zu zeichnen. Und er bringt diesen öligen Staatsdiener zu Fall mit einer Zeichnung, die Cuéllar als Triebtäter zeigt. Auf einer Party in Mallarinos Haus hat es seinerzeit einen Vorfall gegeben, in den Beatriz und ihre Freundin Samanta verwickelt waren. Alles deutet darauf hin, dass Cuéllar sich zumindest an einem Mädchen vergangen hat. Doch etwas Genaues weiß man nicht. Man will es auch nicht so genau wissen. Die Familie von Samanta zieht weg. Die anderen vergessen die Episode. Schließlich gilt es, die Hauptsache nicht aus dem Blick zu verlieren: dass es sich bei Cuéllar um einen widerlichen Menschen handelt. Und dass dieser Mensch seinen Niedergang verdient hat. Eine Zeichnung, die Cuéllar inmitten von jungen Mädchen zeigt, bedeutet das Karriere-Aus. Dann springt der Politiker aus dem Fenster seines Arztes und erleidet sehr bald schon das Schicksal der Vergessenen. Der Ruhm seines Zeichners aber wächst. Und nun, als dieser heldenhafte Zeichner für sein Lebenswerk geehrt werden soll, taucht eine junge Frau auf, die Gewissheiten sucht.
Juan Gabriel Vásquez, dessen 2013 übersetzte Kurzgeschichten "Die Liebenden von Allerheiligen" bereits in eine unheimliche Atmosphäre des Zweifels getaucht waren, schöpft nun sein ganzes Können als Konstrukteur von Realitäten aus. Wie in einem optischen Experiment, in dem es weniger zu sehen gibt, als wir gemeinhin annehmen. Zum Beispiel wenn wir einen von Blättern halb verdeckten Apfel als ganzen Apfel erkennen. Ähnlich lässt sich Vásquez' Schreibanordnung verstehen. Können wir unserer Wahrnehmung trauen, wenn wir nur Bruchstücke der Wahrheit kennen? Oder sind die Urteile, die wir fällen, zum größten Teil die Resultate von Anmaßungen? Wer hat den "Zwischenfall" auf Mallarinos Party wirklich gesehen? Wieso gibt es eine Horde von Eiferern, die sicher zu wissen glaubt, dass einer wie Cuéllar erledigt gehört.
Meisterhaft und schnurgerade erzählt Juan Gabriel Vásquez von einer großen Verunsicherung. Er schildert, wie einer, der sich für unfehlbar hält, vom Zweifel gepackt wird und wie er, der die Reputation eines Politikers auf dem Gewissen hat, die eigene hinterfragt. Rücksichtslos und eitel ist dieser Mallarino noch in der Besessenheit, mit der er seine Recherche vorantreibt. Hinter dem edelmütigen Ansinnen, der verwirrten Samanta Sicherheit zu verschaffen und die Witwe des toten Politikers zu befragen, verbirgt sich nur der eigennützige Wunsch, die Unschuld des Zeichners zu beweisen.
Meisterlich und aktuell ist auch die Fragestellung literarisch umgesetzt, wie eine Karikatur zur Machtfrage werden kann. Ob sie einen Menschen in den Suizid zu treiben vermag? Und, wenn ja, hat ihr Urheber dann so etwas wie Stolz zu empfinden? Von Ricardo Rendón stammt der Ausdruck, eine gute Karikatur sei "ein von Honig umhüllter Stachel". Nach diesem Motto hat Mallarino stets gearbeitet, und doch sieht er mit Entsetzen, wie sehr die Selbstgerechtigkeit längst zu einer Charaktereigenschaft geworden ist.
Ist er, Mallarino, nichts mehr als ein feiger "Scharfschütze" gewesen, der auf die Reputation anderer zielte? Der Schluss dieser novellenhaften Erzählung samt unerhörtem Ereignis und Würze in der Kürze fällt vielleicht ein wenig zu pathetisch aus. Denn der Zeichner, der nach vierzig Jahren Arbeit und über zehntausend Karikaturen sein Archiv samt Fass und Feder verbrennt, ist nicht nur eine Drama Queen, sondern auch allzu deutlich eine Romanfigur. Im echten Leben hätte Mallarino sich wohl eher zur Ruhe oder in eine Talkshow gesetzt. Ob er das alles ernst meine, fragt ihn sein Verleger einmal verwundert: "Dann zum Teufel mit Ihnen, Javier."
KATHARINE TEUTSCH
Juan Gabriel Vásquez: "Die Reputation". Roman.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 185 S., geb., 19,95 [Euro].
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