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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der im Berliner Exil lebende Can Dündar blickt auf hundert Jahre türkische Republik.
Von Karen Krüger
Die Vorzeichen für die Abwahl von Erdogan stünden gut, meinten Beobachter vor den diesjährigen Parlamentswahlen in der Türkei. Auch die im Exil lebenden Wissenschaftlerinnen, Journalisten, Schriftsteller, Musiker und Politiker, die sich am Abend des 28. Mai in einer Wohnung in Berlin-Charlottenburg vor dem Fernseher zusammenfanden, um gemeinsam die Stimmauszählung zu verfolgen, waren hoffnungsfroh, dass nach 21 Jahren Erdogan der ersehnte Wechsel eintreten werde. Jeder hatte etwas fürs Buffet mitgebracht - vielleicht würde der Abend mit einer Party enden? Sie hatten die Türkei verlassen, weil das Regime sie juristisch verfolgt oder anderweitig unter Druck gesetzt hatte. Jetzt ging es um alles: Entweder man würde sich ein Flugticket nach Hause kaufen können - oder sich darauf einstellen müssen, weitere Jahre im Exil zu leben. Auch Can Dündar war unter den Gästen. "Wir glichen Angeklagten, die vor Gericht auf ihr Urteil warteten", beschreibt er die zwischen Zuversicht und Furcht schwankende Stimmung dieser Nacht, mit deren eindringlicher Schilderung sein Buch beginnt.
Wie sie endete, ist bekannt: Das Oppositionsbündnis um Kemal Kiliçdaroglu unterlag Erdogan und seiner AKP knapp. Und während in Berlin und andernorts Anhänger des Autokraten mit Autokorsos und Türkei-Flaggen ihren Sieg feierten, mussten die Enttäuschten sich eingestehen: Die Opposition hatte niemals eine echte Chance. Die türkischen Medien und die Justiz haben Erdogan zum Sieg verholfen: durch einseitige Berichterstattung, die Verhaftung von Oppositionspolitikern und das Abweisen von Beschwerden wegen Wahlbetrugs. Er hatte beide schon vor Jahren gleichgeschaltet. Dündar erlebte die Folgen am eigenen Leib. Der Autor und ehemalige Chefredakteur der "Cumhuriyet" war einer der renommiertesten Journalisten des Landes und ein unbequemer Kritiker Erdogans. Die Palast-Justiz zog gegen ihn ins Feld. 2022 wurde Dündar in Abwesenheit zu mehr als 27 Jahren Haft wegen angeblicher Spionage und Terrorunterstützung verurteilt. Wie die Türkei sich zu einer Autokratie entwickeln konnte, welche historischen und innen- wie außenpolitischen Dynamiken der Zurückdrängung des Laizismus und Erdogan den Weg ebneten, legt Dündar nun in einem bemerkenswerten Buch dar: "Die rissige Brücke über den Bosporus".
Es beginnt mit den Anfängen der Republik, deren hundertsten Geburtstag Ankara am 29. Oktober mit viel Pomp feiern wird, und einer kritischen Analyse der Reformen Atatürks, die der Staatsgründer rücksichtslos durchzusetzen versuchte. Dündar schildert die politischen Wirren in den Präsidentschaftszeiten von Ismet Inönü und allen folgenden Regierungen bis in die jüngste Gegenwart. Es ist ein Ritt durch viele einschneidende Etappen der türkischen Geschichte - bezeichnenderweise endeten sie fast alle mit Gewalt. Dündar hat über einige Ereignisse Dokumentarfilme gedreht, Monographien verfasst und schrieb als Journalist jahrzehntelang über aktuelle politische Entwicklungen. Von diesem Hintergrund profitiert das Buch sehr. Bei Recherchen für eine Erdogan-Biographie stieß er in einem Archiv auf ein altes Foto, das aus heutiger Sicht vorwegnahm, wohin die Türkei einmal treiben sollte. Es entstand im Februar 1969 bei der Beisetzung des 19-jährigen Mustafa Bilgi, Mitglied des rechten Nationalen Türkischen Studentenbundes, der am sogenannten "Blutsonntag", an dem in Istanbul der Konflikt zwischen linksgerichteten Studenten und religiösen Fanatikern eskalierte, getötet wurde. Kurz zuvor hatte Bilgi den Imam-Hatip-Schüler Recep Tayyip Erdogan als neues Mitglied angeworben. Auf dem Foto nun steht er, damals 15 Jahre alt, neben Schülern und Studenten, die 30 Jahre später allesamt Minister in seinem Kabinett werden sollten. Zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Dündar und Erdogan kam es Ende der Neunziger. Als Oberbürgermeister von Istanbul besuchte er die Buchmesse; ein "ehrgeiziger Politiker, der Schriftsteller feierte und Bücher in Ehren hielt", erinnert Dündar sich. Er hätte damals nie für möglich gehalten, dass Erdogan bald behaupten würde, Bücher seien gefährlicher als Bomben, und dass er Autoren hinter Gitter bringen würde.
Es sei vor allem das wiederholte Eingreifen des türkischen Militärs in die Politik gewesen, das den Demokratisierungsprozess nachhaltig schwächte und religiös-konservativen Bewegungen massenhaft Zulauf bescherte. Insgesamt drei Militärputsche hat die Türkei erlebt, hinzu kamen mehrere Putschversuche und andere Interventionen. Sie erfolgten, weil die Generäle den Laizismus bedroht sahen oder weil in ihren Augen das politische Chaos überhandgenommen hatte. Jedes Mal kam es zur Aussetzung der Verfassung, Schließung des Parlaments, zu zahlreichen Hinrichtungen und Pressezensur. Doch sobald das Militär die Macht wieder abgab, stimmten die Menschen wieder für Parteien, deren Anführer und Programme genau jene Geisteshaltung vertraten, gegen die das Militär gewaltsam vorgegangen war.
In Dündars Lesart ist die Ursache dafür weniger in politischen Überzeugungen zu sehen als vielmehr darin, dass der breiten Bevölkerung jede andere Form des Protests unmöglich gemacht wurde: Man hatte ihr die Verwestlichung aufgezwungen und dafür Demokratie versprochen - und nun gestand man ihr nicht zu, die demokratischen Rechte nach eigenen Präferenzen zu nutzen.
Erdogan, der selbst aus jenem religiös-konservativen Milieu stammt, das sich jahrzehntelang als Verlierer des gesellschaftlichen Umbauversuchs und der gewaltsamen Umbrüche fühlte, greift bis heute auf dieses Narrativ zurück. Er behauptet, er allein sei der Garant, dass den Menschen nicht wieder Lebensformen aufgezwungen würden, die ihrer Überzeugung widersprechen. Mal beschuldigt er die politische Opposition, mal die LGBTQ-Bewegung, den Westen oder die EU.
Aber die Zustimmung in der Türkei bröckelt, und auch darauf weist das Buch hin. Etwa die Hälfte aller Wahlberechtigten, also 25 Millionen, stimmte im Mai gegen Erdogan. Dieser Tatsache müsse Beachtung geschenkt werden, wolle man die Türkei nicht verlieren. Dündar macht sich keine Illusionen mehr, wie ernst es dem Ausland ist, dem Autokraten Grenzen aufzuzeigen. Dafür sei die Liste europäischer Zugeständnisse mittlerweile zu lang. Dass die meisten europäischen Türkei-Besucher wieder abreisten, ohne Vertreter der Oppositionsparteien getroffen zu haben, spreche ebenfalls für sich. Dündar, der in Berlin das Exil-Medium "Özgürüz" betreibt, plädiert deshalb dafür, mehr zivilgesellschaftliche Kooperationen einzugehen. Warum etwa werde die in der Türkei stark unter Druck stehende LGBTQ-Bewegung nicht von queeren Verbänden in Europa unterstützt? Warum strebten Frauenorganisationen, Universitäten oder Medieneinrichtungen keine effektivere Zusammenarbeit an? Dündar stellt Fragen, die Antworten verdienen. Sein kluges Buch, dem man in jeder Zeile den Schmerz über die politische Lage in der Türkei anmerkt, gibt den Anstoß dazu.
Can Dündar: "Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen". Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Galiani Verlag, 238 Seiten, 23 Euro.
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