In diesem Buch, entstanden 2020/21, versammeln sich Gedichte, Notate, Satzreihen, Prosastücke zu einem Journal, in dem das tägliche Geschehen, die Erfahrung von Krise, das Fortwirken der Vergangenheit Seite für Seite mitgeschrieben haben. »Augenblicke entscheiden, wo es langgeht, wohin sich das Geschehen bewegt … Sätze aus einem Früher, das nicht aufgehört hat, im Hier und Heute mitzusprechen.«
Es ist die Fortsetzung eines Selbstgesprächs, das »hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten«, und das heißt auch: der Verfasser vergegenwärtigt Impulse und Motive, die seine früheren Texte durchziehen; er lässt sich auf Wiederholungen ein, wo es darum geht, im zuvor Gesagten den verborgenen Rest des Nichtgesagten, das Übersehene oder Vergessene, zu entdecken. »Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.«
So kommt die Vergangenheit mit Neuigkeiten, die mit den Neuigkeiten der Gegenwart korrespondieren; so kehren Gewohnheiten zurück, die vielleicht vergessen, aber nie verschwunden waren. Und dabei kreuzen sich Erfahrungen und entstehen Zusammenhänge, die etwas kenntlich machen von den Widersprüchen und Täuschungen, den Ungewissheiten und Möglichkeiten unserer gegenwärtigen Existenz.
Es ist die Fortsetzung eines Selbstgesprächs, das »hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten«, und das heißt auch: der Verfasser vergegenwärtigt Impulse und Motive, die seine früheren Texte durchziehen; er lässt sich auf Wiederholungen ein, wo es darum geht, im zuvor Gesagten den verborgenen Rest des Nichtgesagten, das Übersehene oder Vergessene, zu entdecken. »Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.«
So kommt die Vergangenheit mit Neuigkeiten, die mit den Neuigkeiten der Gegenwart korrespondieren; so kehren Gewohnheiten zurück, die vielleicht vergessen, aber nie verschwunden waren. Und dabei kreuzen sich Erfahrungen und entstehen Zusammenhänge, die etwas kenntlich machen von den Widersprüchen und Täuschungen, den Ungewissheiten und Möglichkeiten unserer gegenwärtigen Existenz.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Lehmkuhl leuchtet ein, warum die neuen Texte von Jürgen Becker Journalgedichte heißen. Als "lyrische Mitschriften" von Tagesaktuellem wie Impfungen und der sich unwillkürlich einstellenden Erinnerung an den Krieg scheinen sie Lehmkuhl allerdings eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu verkünden, indem sie Krieg, Nachkrieg und alte BRD, Twitter und Google uvm. stets neu miteinander kombinieren und als gegenwärtig vermitteln. Dass Beckers Texte dabei immer frisch und anders klingen, findet Lehmkuhl bemerkenswert. Der Leser kann es hier einmal mehr feststellen, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.07.2022Der riesige Rest
Die Welt mit scharfer Wahrnehmung zum Verschwinden bringen: Der Hörspielmacher, Dichter und Büchnerpreisträger Jürgen Becker wird 90 Jahre alt
Wo der Rhein das Rheinische Schiefergebirge verlässt, beginnt eine flache Ebene, die sich bis in die Niederlande hinein erstreckt. Es ist das Niederrheinische Tiefland, dessen südöstlicher Teil in die Kölner Bucht übergeht. Von den Hügeln des Bergischen Landes aus blickt Jürgen Becker bisweilen hinunter auf diese Ebene. Am Himmel, so hat er es 2009 in einem kleinen Text beschrieben, sind nicht nur gewaltige Wolkengebilde zu entdecken, sondern auch Figuren aus Dampf, die aus den Kühltürmen der Elektrizitätswerke, „aus den Schloten der aneinandergereihten Industrieanlagen“ steigen. Darüber die Kondensstreifen der vielen Flugzeuge, die den Flughafen Köln Bonn ansteuern.
Die Wahrnehmung von Landschaft, des von Zivilisation bestimmten Geländes, durchzieht Jürgen Beckers Schreiben von Beginn an. Nicht von ungefähr tragen schon seine ersten Bücher, allesamt in den Sechzigerjahren entstanden, Titel wie „Felder“ oder „Umgebungen“.
In einem der fragmenthaften Texte der „Felder“ hat Becker seinen Blickpunkt auf die Kölner Bucht topografisch genau zu bestimmen versucht. Doch die gleichzeitig einströmenden Eindrücke machen jede Fixierung unmöglich. Schnee auf den Hügeln, plötzlich der Geschmack von Tee und Honig, das Geräusch einer Schreibmaschine, dazu die aufblitzenden Erinnerungen: „Das Wahrnehmen allen Geschehens, des gegenwärtigen wie des vergan.genen, bringt jeden festen Ort (...) zum Verschwinden.“
Doch auch wenn sich am Ende die Vorstellung eines festen Ortes auflöst, ist es die Wahrnehmung der gestaffelten Landschaft, die Becker zum Bild für sein collageartiges Schreiben wird. Denn aus der Höhe gesehen, hat die Landschaft selbst die Gestalt einer Collage, wie er fast 50 Jahre später notiert: „In ihren Gegensätzen, im Nebeneinander und Ineinander von Bestandteilen, die zwischen den Ausläufern der großen Städte einen widersprüchlichen Zusammenhang bilden, alte Dorfreste und neue Ballungsräume, Ackerflächen und Betonpisten, Waldgebiete und Hochhausgruppen, Bergbauhalden, Baggerseen, Flussverläufe, Gemüseplantagen und Gewerbeflächen“.
Obwohl er eigentlich gar nicht gern reise, hat Becker angemerkt, sei er abhängig von den Orten und Gegenden, in denen er sich befinde, er spüre dann, „hier ist etwas, das mich bewegt, das meine innere Stimme zum Sprechen bringt.“ Und von diesen Orten gibt es nicht wenige. 1932 kommt Jürgen Becker in Köln zur Welt. Als der Krieg beginnt, wird der Vater nach Erfurt versetzt. Es ist keine glückliche Zeit für die Familie, die Eltern trennen sich, dann stirbt die Mutter. 1947 kehrt Becker mit seinem Vater in den Westen zurück. Nach verschiedenen abgebrochenen Studien arbeitet er als Werbeassistent und als Lektor in Verlagen. Anfang der Siebzigerjahre hält er sich für längere Zeit in Berlin und New York auf, bevor er, für ganze 20 Jahre, die Hörspielabteilung des Deutschlandfunks leitet. Das Schreiben läuft immer nebenher.
Die Wende und die ersten Jahre danach hat Becker oft als entscheidenden Einschnitt in seiner Biografie beschrieben. Endlich konnte er die Orte und Landschaften seiner Kindheit wieder besuchen. Damals formte sich vollends seine Vorstellung aus, Schreiben sei ein Entdeckungsvorgang. Eine solche Menge an Stoff hatte sich auf seinen Besuchen und Recherchereisen angehäuft, dass neue literarische Möglichkeiten jenseits der immer gegenwärtigen Gedichte erprobt sein wollten, vornehmlich Romane.
So ist Becker über die Jahre ein Schriftsteller geworden, der mit demselben literarischen Atem ein siebzigseitiges „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ schreiben konnte (1988 erschienen!) wie ein schimmerndes Prosabuch namens „Aus der Geschichte der Trennungen“ (1999). In diesem Roman fährt Jörn, der Erzähler, in den Dörfern zwischen Thüringen und der Ostsee hin und her. Mal fühlt er sich fast wie zu Hause, mal bemerkt er einen Nebel zwischen sich und den anderen Menschen, eine „Zone der Fremdheit, die von der Geschichte zurückgelassen worden ist“.
Osten und Westen, Augenblick und Erinnerung, Landschaft und Bewusstsein, Denken und Fühlen – solche vermeintlich polaren Ideen durchdringen sich bei Becker auf eigentümliche Art und Weise. „Stell dir jetzt vor“, beginnt ein kleiner Text aus seinem Prosabuch „Erzählen bis Ostende“ (1981), „stell dir jetzt vor: du gehst einfach zum Bahnhof.“ Tatsächlich ist es diese Verbindung von Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination, aus der Beckers Schreiben seine ganze Kraft gewinnt.
Dabei zählt jeder Augenblick. Und die Assoziation, deren „Geschiebe“ vom einen zum anderen führt. So ist Jürgen Beckers Schreiben von Anfang an als Mitschrift angelegt, als Journal, wie er es selber nennt, das noch den unscheinbarsten Einfall festhält. Den Impuls kann ein Bild an der Wand setzen, das Geräusch eines Autos in der Nacht, das Spielen am Radioknopf. Zugleich schießen historische Reste ein, Erinnerungen an Bombennächte, an Hunger, manchmal nur an einen einzelnen Handwagen, den der Sprecher hinter sich herzieht. Aber auch Stimmen aus dem Fernseher, dem Internet, Zitate anderer Schreibender.
Einiges davon kann man sich jetzt noch einmal kompakt in dem Band „Gesammelte Gedichte“ ansehen, den der Suhrkamp Verlag seinem im Jahr 2014 mit dem Büchnerpreis gekrönten Autor zum 90. Geburtstag schenkt.
Aber pünktlich zum Jubeltag ist auch ein neues Gedichtbuch erschienen. Darin zeigt Becker wieder, wie genau er mit den Momenten und Assoziationen verfährt. Die Augenblicksbilder stehen nie für sich, sondern sind stets in Kontexte eingebettet, „wie in Gestrüpp“ manchmal, die es im Schreiben zu entdecken gilt.
Beckers wichtigstes Verfahren ist eine raffinierte Schnitttechnik, die alle Momente in eine Atmosphäre der Präsenz überführt, und die er hier mitunter eigens mit fast comicartigen Einsprengseln wie „Schnitt“ oder „plopp“ markiert. Dazu gibt es eine neue Vorliebe für listenartige Gedichte, die das Gefüge der Assoziationen noch offener machen. Und die in Schlagwörtern wie „Paris Bar“, „Gruppe 47“ oder „Höllerers Zirkus“ Stationen von Beckers Lebensgeschichte aufrufen, die zugleich charakteristisch für die BRD jener Zeit und für den westdeutschen Literaturbetrieb sind.
Jedes Material, jedes Motiv hinterlässt etwas Verborgenes, meint Jürgen Becker, „einen riesigen Rest von nichterzählter Geschichte, verlorener Erinnerung“. Auch das neue Buch endet mit einem solchen Rest. Und so kann man sich nur freuen auf all die Erkundungen der inneren und äußeren Landschaften, die noch folgen werden.
NICO BLEUTGE
Eine neue Vorliebe für
listenartige Gedichte ist jetzt erst
in seinem Werk zu erkennen
Der Lyriker Jürgen Becker, geboren am 10. Juli 1932.
Foto: Marius Becker/dpa
Jürgen Becker:
Die Rückkehr der
Gewohnheiten.
Journalgedichte.
Suhrkamp, Berlin 2022. 76 Seiten, 20 Euro.
Jürgen Becker:
Gesammelte Gedichte 1971-2022. Suhrkamp, Berlin 2022.
1120 Seiten, 78 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Welt mit scharfer Wahrnehmung zum Verschwinden bringen: Der Hörspielmacher, Dichter und Büchnerpreisträger Jürgen Becker wird 90 Jahre alt
Wo der Rhein das Rheinische Schiefergebirge verlässt, beginnt eine flache Ebene, die sich bis in die Niederlande hinein erstreckt. Es ist das Niederrheinische Tiefland, dessen südöstlicher Teil in die Kölner Bucht übergeht. Von den Hügeln des Bergischen Landes aus blickt Jürgen Becker bisweilen hinunter auf diese Ebene. Am Himmel, so hat er es 2009 in einem kleinen Text beschrieben, sind nicht nur gewaltige Wolkengebilde zu entdecken, sondern auch Figuren aus Dampf, die aus den Kühltürmen der Elektrizitätswerke, „aus den Schloten der aneinandergereihten Industrieanlagen“ steigen. Darüber die Kondensstreifen der vielen Flugzeuge, die den Flughafen Köln Bonn ansteuern.
Die Wahrnehmung von Landschaft, des von Zivilisation bestimmten Geländes, durchzieht Jürgen Beckers Schreiben von Beginn an. Nicht von ungefähr tragen schon seine ersten Bücher, allesamt in den Sechzigerjahren entstanden, Titel wie „Felder“ oder „Umgebungen“.
In einem der fragmenthaften Texte der „Felder“ hat Becker seinen Blickpunkt auf die Kölner Bucht topografisch genau zu bestimmen versucht. Doch die gleichzeitig einströmenden Eindrücke machen jede Fixierung unmöglich. Schnee auf den Hügeln, plötzlich der Geschmack von Tee und Honig, das Geräusch einer Schreibmaschine, dazu die aufblitzenden Erinnerungen: „Das Wahrnehmen allen Geschehens, des gegenwärtigen wie des vergan.genen, bringt jeden festen Ort (...) zum Verschwinden.“
Doch auch wenn sich am Ende die Vorstellung eines festen Ortes auflöst, ist es die Wahrnehmung der gestaffelten Landschaft, die Becker zum Bild für sein collageartiges Schreiben wird. Denn aus der Höhe gesehen, hat die Landschaft selbst die Gestalt einer Collage, wie er fast 50 Jahre später notiert: „In ihren Gegensätzen, im Nebeneinander und Ineinander von Bestandteilen, die zwischen den Ausläufern der großen Städte einen widersprüchlichen Zusammenhang bilden, alte Dorfreste und neue Ballungsräume, Ackerflächen und Betonpisten, Waldgebiete und Hochhausgruppen, Bergbauhalden, Baggerseen, Flussverläufe, Gemüseplantagen und Gewerbeflächen“.
Obwohl er eigentlich gar nicht gern reise, hat Becker angemerkt, sei er abhängig von den Orten und Gegenden, in denen er sich befinde, er spüre dann, „hier ist etwas, das mich bewegt, das meine innere Stimme zum Sprechen bringt.“ Und von diesen Orten gibt es nicht wenige. 1932 kommt Jürgen Becker in Köln zur Welt. Als der Krieg beginnt, wird der Vater nach Erfurt versetzt. Es ist keine glückliche Zeit für die Familie, die Eltern trennen sich, dann stirbt die Mutter. 1947 kehrt Becker mit seinem Vater in den Westen zurück. Nach verschiedenen abgebrochenen Studien arbeitet er als Werbeassistent und als Lektor in Verlagen. Anfang der Siebzigerjahre hält er sich für längere Zeit in Berlin und New York auf, bevor er, für ganze 20 Jahre, die Hörspielabteilung des Deutschlandfunks leitet. Das Schreiben läuft immer nebenher.
Die Wende und die ersten Jahre danach hat Becker oft als entscheidenden Einschnitt in seiner Biografie beschrieben. Endlich konnte er die Orte und Landschaften seiner Kindheit wieder besuchen. Damals formte sich vollends seine Vorstellung aus, Schreiben sei ein Entdeckungsvorgang. Eine solche Menge an Stoff hatte sich auf seinen Besuchen und Recherchereisen angehäuft, dass neue literarische Möglichkeiten jenseits der immer gegenwärtigen Gedichte erprobt sein wollten, vornehmlich Romane.
So ist Becker über die Jahre ein Schriftsteller geworden, der mit demselben literarischen Atem ein siebzigseitiges „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ schreiben konnte (1988 erschienen!) wie ein schimmerndes Prosabuch namens „Aus der Geschichte der Trennungen“ (1999). In diesem Roman fährt Jörn, der Erzähler, in den Dörfern zwischen Thüringen und der Ostsee hin und her. Mal fühlt er sich fast wie zu Hause, mal bemerkt er einen Nebel zwischen sich und den anderen Menschen, eine „Zone der Fremdheit, die von der Geschichte zurückgelassen worden ist“.
Osten und Westen, Augenblick und Erinnerung, Landschaft und Bewusstsein, Denken und Fühlen – solche vermeintlich polaren Ideen durchdringen sich bei Becker auf eigentümliche Art und Weise. „Stell dir jetzt vor“, beginnt ein kleiner Text aus seinem Prosabuch „Erzählen bis Ostende“ (1981), „stell dir jetzt vor: du gehst einfach zum Bahnhof.“ Tatsächlich ist es diese Verbindung von Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination, aus der Beckers Schreiben seine ganze Kraft gewinnt.
Dabei zählt jeder Augenblick. Und die Assoziation, deren „Geschiebe“ vom einen zum anderen führt. So ist Jürgen Beckers Schreiben von Anfang an als Mitschrift angelegt, als Journal, wie er es selber nennt, das noch den unscheinbarsten Einfall festhält. Den Impuls kann ein Bild an der Wand setzen, das Geräusch eines Autos in der Nacht, das Spielen am Radioknopf. Zugleich schießen historische Reste ein, Erinnerungen an Bombennächte, an Hunger, manchmal nur an einen einzelnen Handwagen, den der Sprecher hinter sich herzieht. Aber auch Stimmen aus dem Fernseher, dem Internet, Zitate anderer Schreibender.
Einiges davon kann man sich jetzt noch einmal kompakt in dem Band „Gesammelte Gedichte“ ansehen, den der Suhrkamp Verlag seinem im Jahr 2014 mit dem Büchnerpreis gekrönten Autor zum 90. Geburtstag schenkt.
Aber pünktlich zum Jubeltag ist auch ein neues Gedichtbuch erschienen. Darin zeigt Becker wieder, wie genau er mit den Momenten und Assoziationen verfährt. Die Augenblicksbilder stehen nie für sich, sondern sind stets in Kontexte eingebettet, „wie in Gestrüpp“ manchmal, die es im Schreiben zu entdecken gilt.
Beckers wichtigstes Verfahren ist eine raffinierte Schnitttechnik, die alle Momente in eine Atmosphäre der Präsenz überführt, und die er hier mitunter eigens mit fast comicartigen Einsprengseln wie „Schnitt“ oder „plopp“ markiert. Dazu gibt es eine neue Vorliebe für listenartige Gedichte, die das Gefüge der Assoziationen noch offener machen. Und die in Schlagwörtern wie „Paris Bar“, „Gruppe 47“ oder „Höllerers Zirkus“ Stationen von Beckers Lebensgeschichte aufrufen, die zugleich charakteristisch für die BRD jener Zeit und für den westdeutschen Literaturbetrieb sind.
Jedes Material, jedes Motiv hinterlässt etwas Verborgenes, meint Jürgen Becker, „einen riesigen Rest von nichterzählter Geschichte, verlorener Erinnerung“. Auch das neue Buch endet mit einem solchen Rest. Und so kann man sich nur freuen auf all die Erkundungen der inneren und äußeren Landschaften, die noch folgen werden.
NICO BLEUTGE
Eine neue Vorliebe für
listenartige Gedichte ist jetzt erst
in seinem Werk zu erkennen
Der Lyriker Jürgen Becker, geboren am 10. Juli 1932.
Foto: Marius Becker/dpa
Jürgen Becker:
Die Rückkehr der
Gewohnheiten.
Journalgedichte.
Suhrkamp, Berlin 2022. 76 Seiten, 20 Euro.
Jürgen Becker:
Gesammelte Gedichte 1971-2022. Suhrkamp, Berlin 2022.
1120 Seiten, 78 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2022Nachts kommt der Surrealismus zurück
Sachliche Melancholie: Jürgen Beckers "Gesammelte Gedichte" und der neue Band "Die Rückkehr der Gewohnheiten"
Irgendwo steht bei Jürgen Becker immer ein Kübelwagen herum. Manchmal auch ein Jeep, ein Hanomag. Der Unimog erscheint gar als "mächtiger Käfer im Hohlweg". Ein Tesla wurde dagegen in der Lyrik des Büchnerpreisträgers, der am 10. Juli seinen 90. Geburtstag feiert, noch nicht gesichtet. Es sind eher die geländegängigen Fahrzeuge, die es in Beckers Verse schaffen, nicht die schnittigen Straßenkreuzer. Wobei die Autobahn nah vorbeiführt an Beckers Wohnort im Bergischen Land. Vor allem nachts dringt sie ins Bewusstsein, da rauscht sie in der Ferne als Meer.
Wer in Jürgen Beckers Gedichten unterwegs ist, braucht keine Sorge zu haben, dass ihm der Sprit ausgeht: An jeder Ecke steht eine Tankstelle. Sogar in den Titel des Bandes "Dorfrand mit Tankstelle" von 2007 hat es diese Institution der mobilen Welt geschafft, samt Tankwart versteht sich, und Moritz, der Tankwart, heißt es da, "weiß Bescheid". Auch zehn Jahre später, in Beckers Langgedicht "Graugänse über Toronto", taucht er dann wieder auf: "Putins Rache, weiß der Tankwart, er liefert / dem Westen den Winter nicht mehr / Minusgrade wie im / Krieg, Skispuren quer durch den Kiefernwald, Reisig im Rucksack, / tot der Hund und starr wie ein Brett".
Aber die Zeiten ändern sich, Putins Rache besteht jetzt darin, dass er statt des Winters das Gas zurückhält, und an den Tankstellen begegnet man keinem Tankwart mehr, stattdessen sitzt ein Mädchen hinter Plexiglas, und "es kann / nur die Kasse". So heißt es im jüngsten, nun zeitgleich mit den "Gesammelten Gedichten" erschienenen Band "Die Rückkehr der Gewohnheiten".
Journalgedichte nennt Becker seine neuen Texte, und das sind sie auf ihre Art: lyrische Mitschriften des Tages und jener Bewusstseinszustände, in denen das Impfen, die "Falten im Gesicht / von Caroline Peters" und die Erinnerung an den Krieg zueinanderfinden. Wobei: Es sind nicht wirklich Erinnerungen. Der Krieg und die Nachkriegsjahre, die frühe Bundesrepublik mit ihren Borgwards und DKWs sind in Beckers Gedichten genauso gegenwärtig wie Twitter, Google und jene inzwischen freilich auch schon eingestellte "Eifel-Serie" um die Kommissarin Sophie Haas.
Gestern und heute sind in Beckers Gedichten nicht klar geschieden, sie fließen ineinander über, es sind Dämmerungsgedichte, in denen die Ränder verwischen und ausfransen und sich die Dinge überlagern. "Es zieht / an diesem Nachmittag ein paar Jahrzehnte / zusammen" heißt es im Band "Journal der Wiederholungen" von 1999.
Becker ist ein Autor, der mit Rekombinationen arbeitet, dem "Geräusch der Korrespondenzen" nachlauscht, der ein "Rätselnetz der Motive" auswirft: Nicht nur das Motivfeld der Automobilität wird aufs immer Neue variiert, auch Regen und Schnee, Kirschbäume und Platanen sind Konstanten dieser Gedichtwelt. Dabei gelingt es ihm seit über einem halben Jahrhundert, seit seinem ersten Gedichtband "Schnee" von 1971, bei aller Treue zum im Grunde sehr überschaubaren eigenen Repertoire, immer frisch und anders zu klingen. Er ist ein DJ seines eigenen Materials, der sein Publikum niemals langweilt, ein Collagist und Montagekünstler, dem es stets gelingt konzise Sprach-, Denk- und Wahrnehmungsbilder zu entwerfen. Ein Wiederholungskünstler, der sich nie selbst kopiert.
Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Becker ganz offensichtlich aus dem eigenen Erleben schöpft, eine "Küchentisch-Chronik" verfasst, deren Ort genau zu lokalisieren ist, dass er aber selten "ich" sagt. Seine Lyrik mag persönlich sein, sie gleitet niemals ins bloß Private ab. Auf diese "Dezenz" Jürgen Beckers weist Marion Poschmann in ihrem wunderbaren Nachwort zu den "Gesammelten Gedichten" hin. Darin schreibt sie auch, dass man Beckers tausendseitiges lyrisches Gesamtwerk als "ein großes Poem" lesen kann, womit sie sicher recht hat. Dabei klingt der frühe Becker durchaus etwas anders als der mittlere und der späte, denn es musste ja überhaupt erst mal das Rätselnetz der Motive geknüpft, es mussten die Themen und Gegenstände etabliert, die Ähnlichkeiten in Schwingung versetzt werden, damit das Geräusch der Korrespondenzen hörbar werden konnte.
Es gibt keine Reime in Beckers Gedichten, keine Träume und abgesehen vom Käfer im Hohlweg kaum je eine Metapher. Und obwohl alle diese Ingredienzen herkömmlicher Lyrik fehlen, obwohl die Natur hier eine menschengemachte, von der Menschenwelt durchsetzte ("Kiefernwald, Artillerie") und keine schöne ist, sind diese Gedichte von einer ganz eigenen und ganz eigenartigen Schönheit, einer die etwas mit dem Ton zu tun hat, der sich am ehesten mit "sachliche Melancholie" beschreiben lässt.
Dass die Geschichte keinen Fortschritt kennt, aber konstante Veränderung, von diesem Paradox erzählt Becker immer wieder: "Gestern ist noch immer heute, und wir fangen nicht von vorn an", heißt es in "Dorfrand mit Tankstelle", und andersrum gewendet: "Man fängt von vorn an, auch wenn man alles schon hinter sich hat" ("Graugänse über Toronto"). So kommt einem jene "Mappe mit Zeichnungen aus der Ukraine", die in Beckers jüngstem Band auftaucht und zweifellos dem Zweiten Weltkrieg entstammt, sehr fern und im selben Moment beängstigend nahe vor.
Es ist also eine Frage der Gleichzeitigkeiten. Möge Jürgen Becker sie noch möglichst lange und mit der ihm eigenen Ironie stellen: "Unsichtbar, tief im Geäst, uhuut / der Uhu; nachts kommt der Surrealismus zurück; / man muß noch zum Bahnhof, es gibt keinen Bahnhof; / dies hier ist die Regentonne, und wirklich, / es regnet ja auch." TOBIAS LEHMKUHL
Jürgen Becker: "Gesammelte Gedichte".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 1120 S., 78,- Euro.
Jürgen Becker: "Die Rückkehr der Gewohnheiten".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 80 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sachliche Melancholie: Jürgen Beckers "Gesammelte Gedichte" und der neue Band "Die Rückkehr der Gewohnheiten"
Irgendwo steht bei Jürgen Becker immer ein Kübelwagen herum. Manchmal auch ein Jeep, ein Hanomag. Der Unimog erscheint gar als "mächtiger Käfer im Hohlweg". Ein Tesla wurde dagegen in der Lyrik des Büchnerpreisträgers, der am 10. Juli seinen 90. Geburtstag feiert, noch nicht gesichtet. Es sind eher die geländegängigen Fahrzeuge, die es in Beckers Verse schaffen, nicht die schnittigen Straßenkreuzer. Wobei die Autobahn nah vorbeiführt an Beckers Wohnort im Bergischen Land. Vor allem nachts dringt sie ins Bewusstsein, da rauscht sie in der Ferne als Meer.
Wer in Jürgen Beckers Gedichten unterwegs ist, braucht keine Sorge zu haben, dass ihm der Sprit ausgeht: An jeder Ecke steht eine Tankstelle. Sogar in den Titel des Bandes "Dorfrand mit Tankstelle" von 2007 hat es diese Institution der mobilen Welt geschafft, samt Tankwart versteht sich, und Moritz, der Tankwart, heißt es da, "weiß Bescheid". Auch zehn Jahre später, in Beckers Langgedicht "Graugänse über Toronto", taucht er dann wieder auf: "Putins Rache, weiß der Tankwart, er liefert / dem Westen den Winter nicht mehr / Minusgrade wie im / Krieg, Skispuren quer durch den Kiefernwald, Reisig im Rucksack, / tot der Hund und starr wie ein Brett".
Aber die Zeiten ändern sich, Putins Rache besteht jetzt darin, dass er statt des Winters das Gas zurückhält, und an den Tankstellen begegnet man keinem Tankwart mehr, stattdessen sitzt ein Mädchen hinter Plexiglas, und "es kann / nur die Kasse". So heißt es im jüngsten, nun zeitgleich mit den "Gesammelten Gedichten" erschienenen Band "Die Rückkehr der Gewohnheiten".
Journalgedichte nennt Becker seine neuen Texte, und das sind sie auf ihre Art: lyrische Mitschriften des Tages und jener Bewusstseinszustände, in denen das Impfen, die "Falten im Gesicht / von Caroline Peters" und die Erinnerung an den Krieg zueinanderfinden. Wobei: Es sind nicht wirklich Erinnerungen. Der Krieg und die Nachkriegsjahre, die frühe Bundesrepublik mit ihren Borgwards und DKWs sind in Beckers Gedichten genauso gegenwärtig wie Twitter, Google und jene inzwischen freilich auch schon eingestellte "Eifel-Serie" um die Kommissarin Sophie Haas.
Gestern und heute sind in Beckers Gedichten nicht klar geschieden, sie fließen ineinander über, es sind Dämmerungsgedichte, in denen die Ränder verwischen und ausfransen und sich die Dinge überlagern. "Es zieht / an diesem Nachmittag ein paar Jahrzehnte / zusammen" heißt es im Band "Journal der Wiederholungen" von 1999.
Becker ist ein Autor, der mit Rekombinationen arbeitet, dem "Geräusch der Korrespondenzen" nachlauscht, der ein "Rätselnetz der Motive" auswirft: Nicht nur das Motivfeld der Automobilität wird aufs immer Neue variiert, auch Regen und Schnee, Kirschbäume und Platanen sind Konstanten dieser Gedichtwelt. Dabei gelingt es ihm seit über einem halben Jahrhundert, seit seinem ersten Gedichtband "Schnee" von 1971, bei aller Treue zum im Grunde sehr überschaubaren eigenen Repertoire, immer frisch und anders zu klingen. Er ist ein DJ seines eigenen Materials, der sein Publikum niemals langweilt, ein Collagist und Montagekünstler, dem es stets gelingt konzise Sprach-, Denk- und Wahrnehmungsbilder zu entwerfen. Ein Wiederholungskünstler, der sich nie selbst kopiert.
Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Becker ganz offensichtlich aus dem eigenen Erleben schöpft, eine "Küchentisch-Chronik" verfasst, deren Ort genau zu lokalisieren ist, dass er aber selten "ich" sagt. Seine Lyrik mag persönlich sein, sie gleitet niemals ins bloß Private ab. Auf diese "Dezenz" Jürgen Beckers weist Marion Poschmann in ihrem wunderbaren Nachwort zu den "Gesammelten Gedichten" hin. Darin schreibt sie auch, dass man Beckers tausendseitiges lyrisches Gesamtwerk als "ein großes Poem" lesen kann, womit sie sicher recht hat. Dabei klingt der frühe Becker durchaus etwas anders als der mittlere und der späte, denn es musste ja überhaupt erst mal das Rätselnetz der Motive geknüpft, es mussten die Themen und Gegenstände etabliert, die Ähnlichkeiten in Schwingung versetzt werden, damit das Geräusch der Korrespondenzen hörbar werden konnte.
Es gibt keine Reime in Beckers Gedichten, keine Träume und abgesehen vom Käfer im Hohlweg kaum je eine Metapher. Und obwohl alle diese Ingredienzen herkömmlicher Lyrik fehlen, obwohl die Natur hier eine menschengemachte, von der Menschenwelt durchsetzte ("Kiefernwald, Artillerie") und keine schöne ist, sind diese Gedichte von einer ganz eigenen und ganz eigenartigen Schönheit, einer die etwas mit dem Ton zu tun hat, der sich am ehesten mit "sachliche Melancholie" beschreiben lässt.
Dass die Geschichte keinen Fortschritt kennt, aber konstante Veränderung, von diesem Paradox erzählt Becker immer wieder: "Gestern ist noch immer heute, und wir fangen nicht von vorn an", heißt es in "Dorfrand mit Tankstelle", und andersrum gewendet: "Man fängt von vorn an, auch wenn man alles schon hinter sich hat" ("Graugänse über Toronto"). So kommt einem jene "Mappe mit Zeichnungen aus der Ukraine", die in Beckers jüngstem Band auftaucht und zweifellos dem Zweiten Weltkrieg entstammt, sehr fern und im selben Moment beängstigend nahe vor.
Es ist also eine Frage der Gleichzeitigkeiten. Möge Jürgen Becker sie noch möglichst lange und mit der ihm eigenen Ironie stellen: "Unsichtbar, tief im Geäst, uhuut / der Uhu; nachts kommt der Surrealismus zurück; / man muß noch zum Bahnhof, es gibt keinen Bahnhof; / dies hier ist die Regentonne, und wirklich, / es regnet ja auch." TOBIAS LEHMKUHL
Jürgen Becker: "Gesammelte Gedichte".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 1120 S., 78,- Euro.
Jürgen Becker: "Die Rückkehr der Gewohnheiten".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 80 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Becker zeigt wieder, wie genau er mit ... Momenten und Assoziationen verfährt.« Nico Bleutge Süddeutsche Zeitung 20220710