Rui, ein portugiesischer Jugendlicher, sitzt gemeinsam mit seiner Familie in einem Haus in Luanda, der Hauptstadt von Angola, und wartet darauf, dass der Onkel kommt, um sie zum Flughafen zu bringen. Alle anderen Häuser in der Umgebung stehen entweder leer oder sind bereits von neuen, dunkelhäutigen Nachbarn besetzt worden. Wir schreiben das Jahr 1975. Draußen sind Schüsse zu hören, der Onkel verspätet sich, und dann taucht ein Jeep der Befreiungsarmee auf und die Dinge nehmen einen katastrophalen Verlauf. In ihrem Bestseller erzählt Dulce Maria Cardoso meisterhaft durch die Augen von Rui ihre eigene Geschichte als Flüchtling aus den verlorenen Kolonien und die Ankunft in einem von der Nelkenrevolution erschütterten Portugal. Sie zeigt uns gewöhnliche Menschen, deren Sicht auf die Welt von ebenso radikalen wie unbewussten Vorurteilen geprägt ist, und sie tut es auf eine sensible und äußerst eindringliche Weise. Ein Buch wie ein Rausch, an dessen Ende man ein wenig erleichtert und zutiefst berührt ist. Vor allem aber hat man eine historische Epoche erlebt, die in Deutschland kaum wahrgenommen wurde.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Karin Janker liest Dulce Maria Cardosos autobiografisch grundierten Roman als zeitgeschichtliches Werk und als Meditation über Heimatverlust. Dass die Autorin von Portugals Herrschaft in Angola und ihrem Ende aus der Perspektive eines Teenagers erzählt, der sich 1974 als Rückkehrer im Mutterland Portugal fremd fühlt, erweist sich laut Janker als besonders ertragreich, da die Figur ihre eigene Rolle als ehemaliger "Unterdrücker" und nun Fremder und Verlierer im eigenen Land erst begreifen muss. Wie Cardoso hier an ein portugiesisches Trauma rührt, eindringlich und jenseits von Gut-Böse-Schemata, scheint Janker lesenswert, auch wegen der Sprache, die der Übersetzer gekonnt "konserviert", wie Janker schreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2021Wir sollen die Unterdrücker gewesen sein?
Von Angola nach Portugal: In ihrem Roman "Die Rückkehr" erzählt Dulce Maria Cardoso von einer Flucht aus der Kolonie.
Die Macht des Vaters überdauert. Der Junge spürt sie noch lange nach seinem Verschwinden, auch im fremden Land, in dem die Mutter, die Schwester und er Zuflucht gefunden haben. Seine Abwesenheit überstrahlt den Alltag der Familie, der kein Alltag mehr sein kann, weil alles, was ihn ausmachte, von den bestickten Tischdecken und bis zur roten Erde, verloren ist. Wieder und wieder kehrt der Junge zurück zu dem Moment, als der Vater, der immer alles im Griff hatte, die Kontrolle verlor, als Soldaten der Befreiungsarmee vor der Tür standen statt des Onkels, der die Familie zum Flughafen bringen sollte, und er die Pistole in einem letzten Versuch, die Seinen zu schützen, in der Tasche verbarg. Der Junge sieht den Schweiß auf dem Hemd des Vaters, hört dessen Lachen, das kein selbstbestimmtes Lachen mehr war. Dann fahren sie mit dem Vater davon.
Der Junge ist mit der Familie nach Portugal gekommen, ins Mutterland, wie er es nennt, weil die Mutter dort geboren ist und er nicht mehr mit ihm verbindet als die schwarzweißen Fotografien hübscher Mädchen aus den Erinnerungsalben. Mädchen mit Kirschen an den Ohren, wie es sie in seiner Heimat Angola nicht gibt. In Angola surrte der Ventilator, dort wurde das Fleisch in der Hitze binnen Stunden schlecht, dort waren seine Freunde, sein Hund, die Schule. Nichts davon ist geblieben. Als sie den Vater zurücklassen mussten, als ihn die Soldaten mitnahmen, waren die Häuser der Weißen in der Nachbarschaft längst besetzt, die Freunde und Bekannten geflohen oder getötet.
Der Junge kann nichts dafür, in diese Zeit geboren zu sein, die ihn 1975 mit fünfzehn Jahren seiner Privilegien beraubt. Er kann nichts für seinen Vater, den Kolonisten, der die Schwarzen abfällig "Matumbos" und "Pretalhada" nannte, Dummköpfe und Gesocks, und alles verbrennen wollte, bevor auch nur eines seiner Besitztümer in die Hände der künftigen angolanischen Nation fiele. Er hat die Vorurteile längst aufgesogen, auch die unbewussten, ist mit ihnen herangewachsen: Wenn man einen Jungen auf dem Fußballplatz "Scheiß-Preto", Scheiß-Schwarzer, nennt, ist das doch keine Beleidigung. Wer foult, hat das verdient. Sie haben ihn verprügelt. Danach spielte er nie wieder mit ihnen. Der Junge glaubt, ihn unter den Soldaten, die seinen Vater mitnahmen, wiedererkannt zu haben.
Dulce Maria Cardoso ist 1964 geboren und wuchs in Angola auf, sie gehört zu den angesehensten Schriftstellerinnen Portugals. Am Beginn des Bürgerkriegs kam sie nach Portugal, damals war sie elf. Ihr endlich auf Deutsch übersetzter Roman "Die Rückkehr" handelt von diesen Kindheitserfahrungen, dem Verlust der Heimat, den Rollenkonflikten. Was sie mit Hilfe des Jungen Rui nacherzählt, überraschte bei der Veröffentlichung 2011 auch ihre portugiesischen Leser, so sehr waren die siebziger Jahre im Gedächtnis des Landes von den Ereignissen der Nelkenrevolution vereinnahmt, die Salazars autoritäres Regime beendete, und von der Verarbeitung des Traumas der Diktatur. Die neue, zunächst provisorische Regierung entschied, die verbliebenen Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Was in Guinea-Bissau und Moçambique verhältnismäßig friedlich ablief, war in Angola der Beginn eines jahrzehntelangen Bürgerkriegs, in dem etwa 500 000 Menschen starben und 2,5 Millionen vertrieben wurden - auch viele Angolaner.
Die zwiespältige Rolle Tausender Rückkehrer, die von einem Institut zur Unterstützung der Staatsangehörigen aufgenommen und von Herrschenden zu Geduldeten wurden, von Pionieren zu Ausbeutern, blieb lange unverarbeitet. Inzwischen haben auch andere Autoren eindringlich über ihre Jugend in den Kolonien geschrieben, Isabela Figueiredo etwa, die in Moçambique aufgewachsen ist. Diese von Ressentiments und Selbstbetrug geprägten Familienerfahrungen, ihre inneren Konflikte (für Ruis Vater sind die portugiesischen Soldaten Verräter, für seinen Onkel Zé Helden) und Beobachtungen aus dem Alltag des kolonialistischen Herrschaftssystems werden in Portugal inzwischen heftig diskutiert.
Wie befreit man ein Land aus fünf Jahrhunderten der Unterdrückung? Wem gehört der Besitz der Kolonisten? Ruis Familie ist nicht reich, sein Vater hat zeitlebens hart gearbeitet. Und nun, denkt der Junge nach der Ankunft im Mutterland, das so anders ist, als er es sich vorgestellt hat, nun sollen wir, die alles verloren haben, die Unterdrücker gewesen sein, selbst schuld an unserem Leid? Der nächste Aufstand wird kommen, denkt er. Dann werden sie bei den portugiesischen Moralisten an die Tür klopfen und sie mit gefesselten Händen abführen.
Seine Beobachtungen sind die eines noch kaum der Kindheit entwachsenen Jugendlichen, der mit der neuen Rolle des Familienoberhaupts wenig anfangen kann, der lieber Überlegungen zu den Unterschieden zwischen den jungen Angolanerinnen und den prüden Portugiesinnen anstellt und eine feine Sensorik dafür entwickelt, wie die fremden Landsleute über seine kranke Mutter lästern.
Cardosos Schreiben hat eine lyrisch-metaphorische Qualität, die den Einschnitt in das Leben der Familie mit allen Sinnen spürbar macht. Ein Feldweg aus roter Erde: als läge zufällig gerade dort der Höllengrund. Die Schüsse in der Nachbarschaft, die Familie sprachlos am Tisch. Solange die Zukunft Besserung versprach, gab es beim Essen noch etwas zu besprechen. Nun also Stille. Bei Cardoso mischen sich erlebte Rede und die Stimmen der Menschen aus den Begegnungen, die dem Jungen nicht aus dem Kopf gehen, die Ratschläge des Vaters für die labile Mutter, die Worte der Hoteldirektorin bei ihrer Ankunft: "Ich weiß, dass Sie nicht aus dem Dschungel kommen."
Die Tragik der Geschichte liegt auch darin, dass Ruis Familie nicht in ein gesundes Land flüchtet, sondern in ein von der Revolution ausgezehrtes, ein armes Land, das die Mutter einst in der Erwartung zurückließ, in einem Haus mit Wasserhähnen leben zu dürfen. Ein Land, so klein und unscheinbar, dass Rui einfach nicht versteht, wie es jemals die Rolle des Imperiums für sich beanspruchen konnte. Sein naiver Blick auf das absurde Ringen der Erwachsenen um Bedeutung, ihr Kampf gegen die kollektive Schuld, sein Herauswachsen aus ihren Ressentiments machen Cardosos Roman zu einem drastischen Zeitdokument. Er verstehe nicht, denkt Rui, wie die Rückkehrer darüber streiten können, welches die bessere Kolonie war: "Wenn wir sie doch beide verloren haben."
ELENA WITZECK
Dulce Maria Cardoso: "Die Rückkehr". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Steven Uhly. Secession Verlag, Zürich 2021. 255 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Angola nach Portugal: In ihrem Roman "Die Rückkehr" erzählt Dulce Maria Cardoso von einer Flucht aus der Kolonie.
Die Macht des Vaters überdauert. Der Junge spürt sie noch lange nach seinem Verschwinden, auch im fremden Land, in dem die Mutter, die Schwester und er Zuflucht gefunden haben. Seine Abwesenheit überstrahlt den Alltag der Familie, der kein Alltag mehr sein kann, weil alles, was ihn ausmachte, von den bestickten Tischdecken und bis zur roten Erde, verloren ist. Wieder und wieder kehrt der Junge zurück zu dem Moment, als der Vater, der immer alles im Griff hatte, die Kontrolle verlor, als Soldaten der Befreiungsarmee vor der Tür standen statt des Onkels, der die Familie zum Flughafen bringen sollte, und er die Pistole in einem letzten Versuch, die Seinen zu schützen, in der Tasche verbarg. Der Junge sieht den Schweiß auf dem Hemd des Vaters, hört dessen Lachen, das kein selbstbestimmtes Lachen mehr war. Dann fahren sie mit dem Vater davon.
Der Junge ist mit der Familie nach Portugal gekommen, ins Mutterland, wie er es nennt, weil die Mutter dort geboren ist und er nicht mehr mit ihm verbindet als die schwarzweißen Fotografien hübscher Mädchen aus den Erinnerungsalben. Mädchen mit Kirschen an den Ohren, wie es sie in seiner Heimat Angola nicht gibt. In Angola surrte der Ventilator, dort wurde das Fleisch in der Hitze binnen Stunden schlecht, dort waren seine Freunde, sein Hund, die Schule. Nichts davon ist geblieben. Als sie den Vater zurücklassen mussten, als ihn die Soldaten mitnahmen, waren die Häuser der Weißen in der Nachbarschaft längst besetzt, die Freunde und Bekannten geflohen oder getötet.
Der Junge kann nichts dafür, in diese Zeit geboren zu sein, die ihn 1975 mit fünfzehn Jahren seiner Privilegien beraubt. Er kann nichts für seinen Vater, den Kolonisten, der die Schwarzen abfällig "Matumbos" und "Pretalhada" nannte, Dummköpfe und Gesocks, und alles verbrennen wollte, bevor auch nur eines seiner Besitztümer in die Hände der künftigen angolanischen Nation fiele. Er hat die Vorurteile längst aufgesogen, auch die unbewussten, ist mit ihnen herangewachsen: Wenn man einen Jungen auf dem Fußballplatz "Scheiß-Preto", Scheiß-Schwarzer, nennt, ist das doch keine Beleidigung. Wer foult, hat das verdient. Sie haben ihn verprügelt. Danach spielte er nie wieder mit ihnen. Der Junge glaubt, ihn unter den Soldaten, die seinen Vater mitnahmen, wiedererkannt zu haben.
Dulce Maria Cardoso ist 1964 geboren und wuchs in Angola auf, sie gehört zu den angesehensten Schriftstellerinnen Portugals. Am Beginn des Bürgerkriegs kam sie nach Portugal, damals war sie elf. Ihr endlich auf Deutsch übersetzter Roman "Die Rückkehr" handelt von diesen Kindheitserfahrungen, dem Verlust der Heimat, den Rollenkonflikten. Was sie mit Hilfe des Jungen Rui nacherzählt, überraschte bei der Veröffentlichung 2011 auch ihre portugiesischen Leser, so sehr waren die siebziger Jahre im Gedächtnis des Landes von den Ereignissen der Nelkenrevolution vereinnahmt, die Salazars autoritäres Regime beendete, und von der Verarbeitung des Traumas der Diktatur. Die neue, zunächst provisorische Regierung entschied, die verbliebenen Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Was in Guinea-Bissau und Moçambique verhältnismäßig friedlich ablief, war in Angola der Beginn eines jahrzehntelangen Bürgerkriegs, in dem etwa 500 000 Menschen starben und 2,5 Millionen vertrieben wurden - auch viele Angolaner.
Die zwiespältige Rolle Tausender Rückkehrer, die von einem Institut zur Unterstützung der Staatsangehörigen aufgenommen und von Herrschenden zu Geduldeten wurden, von Pionieren zu Ausbeutern, blieb lange unverarbeitet. Inzwischen haben auch andere Autoren eindringlich über ihre Jugend in den Kolonien geschrieben, Isabela Figueiredo etwa, die in Moçambique aufgewachsen ist. Diese von Ressentiments und Selbstbetrug geprägten Familienerfahrungen, ihre inneren Konflikte (für Ruis Vater sind die portugiesischen Soldaten Verräter, für seinen Onkel Zé Helden) und Beobachtungen aus dem Alltag des kolonialistischen Herrschaftssystems werden in Portugal inzwischen heftig diskutiert.
Wie befreit man ein Land aus fünf Jahrhunderten der Unterdrückung? Wem gehört der Besitz der Kolonisten? Ruis Familie ist nicht reich, sein Vater hat zeitlebens hart gearbeitet. Und nun, denkt der Junge nach der Ankunft im Mutterland, das so anders ist, als er es sich vorgestellt hat, nun sollen wir, die alles verloren haben, die Unterdrücker gewesen sein, selbst schuld an unserem Leid? Der nächste Aufstand wird kommen, denkt er. Dann werden sie bei den portugiesischen Moralisten an die Tür klopfen und sie mit gefesselten Händen abführen.
Seine Beobachtungen sind die eines noch kaum der Kindheit entwachsenen Jugendlichen, der mit der neuen Rolle des Familienoberhaupts wenig anfangen kann, der lieber Überlegungen zu den Unterschieden zwischen den jungen Angolanerinnen und den prüden Portugiesinnen anstellt und eine feine Sensorik dafür entwickelt, wie die fremden Landsleute über seine kranke Mutter lästern.
Cardosos Schreiben hat eine lyrisch-metaphorische Qualität, die den Einschnitt in das Leben der Familie mit allen Sinnen spürbar macht. Ein Feldweg aus roter Erde: als läge zufällig gerade dort der Höllengrund. Die Schüsse in der Nachbarschaft, die Familie sprachlos am Tisch. Solange die Zukunft Besserung versprach, gab es beim Essen noch etwas zu besprechen. Nun also Stille. Bei Cardoso mischen sich erlebte Rede und die Stimmen der Menschen aus den Begegnungen, die dem Jungen nicht aus dem Kopf gehen, die Ratschläge des Vaters für die labile Mutter, die Worte der Hoteldirektorin bei ihrer Ankunft: "Ich weiß, dass Sie nicht aus dem Dschungel kommen."
Die Tragik der Geschichte liegt auch darin, dass Ruis Familie nicht in ein gesundes Land flüchtet, sondern in ein von der Revolution ausgezehrtes, ein armes Land, das die Mutter einst in der Erwartung zurückließ, in einem Haus mit Wasserhähnen leben zu dürfen. Ein Land, so klein und unscheinbar, dass Rui einfach nicht versteht, wie es jemals die Rolle des Imperiums für sich beanspruchen konnte. Sein naiver Blick auf das absurde Ringen der Erwachsenen um Bedeutung, ihr Kampf gegen die kollektive Schuld, sein Herauswachsen aus ihren Ressentiments machen Cardosos Roman zu einem drastischen Zeitdokument. Er verstehe nicht, denkt Rui, wie die Rückkehrer darüber streiten können, welches die bessere Kolonie war: "Wenn wir sie doch beide verloren haben."
ELENA WITZECK
Dulce Maria Cardoso: "Die Rückkehr". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Steven Uhly. Secession Verlag, Zürich 2021. 255 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2021Fremd im Mutterland
In „Die Rückkehr“ erzählt Dulce Maria Cardoso, wie ein junger Mann in einer Welt voll Rassismus
und Gewalt aufwächst. Der Roman brach in Portugal das Schweigen über die Kolonialgeschichte
VON KARIN JANKER
Als der Vater zum Messer greift und beginnt, die gestickten Blumen auf der Tischdecke aufzuschlitzen, ist es zu spät. Die Mutter, die den Stoff als junges Mädchen eigenhändig bestickt hat, hebt noch die Hand, doch sie hält ihn nicht auf. Wozu auch? Es ist ohnehin alles verloren. Der Vater löst Faden für Faden auf, „als gäbe es eine richtige Art und Weise, Dahlien aufzuritzen, und als hätte Vater sie genauso gut gelernt wie Mutter es gelernt hat, sie zu sticken“. Wie eine Drohung liegt das lange Messer „in Vaters riesiger, wütender Hand“.
Es wird das letzte Mal sein, dass die Familie an diesem Esstisch zusammensitzt. Der 15-jährige Rui, seine Schwester Milucha, die kränkliche Mutter und der Vater mit seinem Messer. Nach diesem letzten Essen werden sie das Haus in der feuchten Hitze Angolas verlassen. Bald werden sich andere Menschen Zutritt zu ihrem Zuhause verschaffen, ihretwegen zerschneidet der Vater die Tischdecke: „Nichts bleibt übrig“, sagt er, „die verdienen nichts.“ Die, das sind die Afrikaner, die Schwarzen, er nennt sie „Pretos“, ein Wort, noch bösartiger als das N-Wort. Der Vater will ihnen nichts zurücklassen, sogar den Hund töten, damit sie ihn nicht bekommen. Sein ganzes Leben hat er gearbeitet für dieses Leben hier. Und nun sagen sie, er hätte ein fremdes Land ausgebeutet und solle wieder zurückkehren in sein eigenes.
Es ist das Jahr 1974, in Portugal haben linke Militärs gegen die autoritäre Diktatur des Estado Novo geputscht. Mit ihr fällt auch das portugiesische Kolonialreich. Als einer der letzten Staaten der Welt entlässt Portugal seine Kolonien in die Unabhängigkeit. Angola stürzt in eine Phase bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen mehreren nach Macht strebenden Befreiungsbewegungen. Klar ist: Die Zeit der weißen Kolonialherren ist abgelaufen. Rui und seine Schwester müssen das Land verlassen, in dem sie geboren wurden, ihre Eltern das Land, dem sie ihren Wohlstand abgerungen haben. „Angola ist vorbei, kaputt, der Kaffee, die Baumwolle, der Sisal, das Palmöl, die Diamanten, das Erdöl, kaputt, alles vorbei.“
Die Schriftstellerin Dulce Maria Cardoso, die zu den wichtigsten literarischen Stimmen Portugals gehört, erzählt in ihrem Roman „Die Rückkehr“ ein Stück Kolonialgeschichte aus der Perspektive eines Teenagers, der nicht zu wissen scheint, dass er zu den Unterdrückern gehört. Rui muss nach dem Ende des portugiesischen Imperiums auswandern in ein Land, in dem er noch nie war. Seine Rückkehr ist in Wirklichkeit keine. Portugal streitet bis heute über die Frage, ob die Menschen aus den Kolonien „retornados ou refugiados“ sind, Rückkehrer oder Flüchtlinge. Es geht auch um die Frage, ob sie Täter oder Opfer sind und wer darüber entscheidet. Der Roman spricht dieses Urteil nicht, er gehört zu einer Literatur, die nicht richtet, sondern Empathie schafft – sogar mit denen, die selbst ohne Mitgefühl sind.
Rui will weder Täter noch Opfer sein. Und doch ist er beides. Die Kinder der Kolonialisten haben sich mitschuldig gemacht und wurden gleichzeitig auch zu Opfern des Kolonialregimes. Durch die Augen dieses Protagonisten erzählt Cardoso von einem kollektiven Trauma, das in Europa kaum präsent ist, obwohl es noch keine 50 Jahre zurückliegt. Portugal kennt Rui nur aus dem Schulunterricht. Dennoch nennt er es „Mutterland“. In der Schule haben sie ihm beigebracht, dass Portugal ein Imperium sei, „das vom Minho bis Timor reicht“. „Doch das Wichtigste lehrten sie uns nicht, dass das Mutterland die Menschen verändert.“ Rui verliert in den ersten Monaten in Portugal, in denen er um das Leben seines in Angola zurückgebliebenen Vaters bangt, seine Unschuld in vielfacher Hinsicht.
Dort gehört Rui auf einmal zu den Verlierern. Rückkehrer wie ihn erkennt man sofort, es sind „traurige Menschen mit Pullovern voller Knötchen. Borboto – Knötchen – ist ein anderes neues Wort, das wir oft sagen, die Pullover, die man uns bei den Kleiderausgaben überlässt, sind immer voller Borbotos“. Die deutsche Übersetzung von Steven Uhly, die die einfache wie eindringliche Sprache des Originals hervorragend bewahrt, konserviert einige portugiesische Wörter, viele davon mit Fußnoten versehen. Der Effekt dieser Akkuratesse ist zweischneidig: Die Fußnoten schaffen eine Distanz zum Erzähler, die der Text selbst nicht beabsichtigt. Andererseits ermöglichen sie ein sprachliches Kolorit, das für Cardosos Roman entscheidend ist. Denn die Erfahrung der Fremde macht Rui auch in der Sprache, er empfindet sie etwa in jenem Zischen, welches das europäische Portugiesisch härter klingen lässt als das der Kolonien. Sprache ist für Rui ein Medium der Identitätsfindung, mittels Sprache erhebt er sich auch über andere, die „Pretos“: „Die Scheißkerle können nicht einmal richtig sprechen, wi bringe di um mit deineh Waffe und mit deineh Kugel.“
Die Gewalt kommt subtil daher bei Cardoso, aber nicht weniger brutal. Der Roman kennt kein schlichtes Gut-Böse-Schema, was er vor allem seiner Hauptfigur verdankt: Aus nächster Nähe erzählt Cardoso Ruis Schwanken zwischen kindlicher Naivität und den Männlichkeitsobsessionen der Kultur, in der er aufgewachsen ist. Die Erzählung begleitet ihn auf der Flucht mit einem der letzten Flugzeuge, an deren Ende er mit seiner Schwester und seiner Mutter in ein Fünf-Sterne-Hotel zieht, in dem die Rückkehrer bizarrerweise bedient werden, aber den Pool nicht benutzen dürfen. „Ich weiß genau, dass Sie nicht im Dschungel gelebt haben“, sagt die Hoteldirektorin und meint das Gegenteil.
Die Hotels sind eine Gnadengeste des Staates, der sich für seine früheren Siedler schämt. Eine Scham, die auch Ruis Schwester empfindet, wenn sie in übergroßen Kleidungsstücken und mit dem gelben Rückkehrer-Ausweis in der Schulkantine für kostenloses Essen ansteht. Rui hingegen hält sich die Scham mit dem Hochmut des Halbstarken vom Leib. Nicht einmal zur Schule geht er mehr, seitdem „diese Nutte von einer Lehrerin“ gesagt hat, „einer von den Rückkehrern soll antworten, als hätten wir keine Namen“.
In der Zeit, in der dieser Roman spielt, hat sich der Staub der Geschichte noch nicht gelegt, nichts geordnet. Fragen nach Schuld und Scham, nach Gerechtigkeit und Identität sind roh und offen. Die Stimme des Ich-Erzählers führt schonungslos unbedarft durch die Katastrophe, die diese Leben trifft. Ruis limitierte Perspektive verleiht dem Roman seine Unmittelbarkeit. Er kennt ja nichts als das Leben in Angola, wo sein Vater einer Schwarzen sagte: „Ich gebe dir das Doppelte dessen, was du wert bist, wenn du diesen Jungen zum Mann machst.“ Hier gibt es keine urteilende Instanz, nichts, was die Leserin oder den Leser vor den sich überlagernden Ungerechtigkeiten schützt.
In Portugal erschien „O Retorno“ bereits 2011 und wurde bei seinem Erscheinen zum Buch des Jahres gewählt. Der Roman brach ein Schweigen: Romane über die Kolonialgeschichte gab es schon zuvor, doch über die Rückkehrer zu sprechen, war noch immer ein Tabu. Portugal lebte lange in der Illusion, es habe einen sauberen Schnitt zwischen Kolonialvergangenheit und Gegenwart gegeben. An den Geschichten der Rückkehrer kann man ablesen, dass ein solcher Schnitt unmöglich ist. Sie sind das Echo einer dunklen Vergangenheit. Selten drängte diese Vergangenheit so gewaltsam an die Oberfläche wie im vergangenen Sommer, als der 39-jährige schwarze Schauspieler Bruno Candé in Lissabon auf offener Straße von einem Rückkehrer aus den Kolonien erschossen wurde. Ein Verbrechen aus Rassenhass, das der portugiesischen Gesellschaft ihre offenen Wunden vor Augen führte.
Dulce Maria Cardoso verarbeitet in „Die Rückkehr“ einen Teil ihrer eigenen Biografie. Die Suche nach ihrer Identität habe sie letztlich zur Schriftstellerin gemacht, sagte sie einmal. Cardoso wuchs selbst in Angola auf und kam im Alter von elf Jahren als eine von 500 000 Rückkehrern nach Portugal. Als sie „Die Rückkehr“ schrieb, versetzte sie sich erneut in eine Situation der Fremde: Sie schrieb den Roman fast komplett im fränkischen Bamberg, wo sie ein Künstlerstipendium der Villa Concordia innehatte. Eine bequeme Fremde, das schon. Aber wenn sie kein Portugiesisch höre, verändere dies ihre Beziehung zu den Wörtern, sagte Cardoso hinterher: „Während ich ‚O Retorno‘ schrieb, wollte ich das Gefühl der Nichtzugehörigkeit wiedererleben.“
Wobei eine Sache 1975 völlig anders gewesen sei: Damals gab es keine Möglichkeit, jemals wieder nach Hause zurückzukehren. „Wir leben in der Gewissheit, dass das Land, wo wir unsere Toten beerdigt haben, für immer und ewig unser sein wird und dass auch unseren Kindern niemals das Land fehlen wird, wo wir sie zur Welt gebracht haben, wir leben in dieser Gewissheit, weil wir nie darüber nachdenken, dass uns das Land sterben kann“, sagt ein Rückkehrer zu Rui. „Die Rückkehr“ ist ein Roman über diesen Verlust der Heimat; mit ihr verschwinden alle Gewissheiten. Es ist ein Roman über das Erwachsenwerden. Und ein eindringliches Kunstwerk über ein Stück Zeitgeschichte.
Rui will weder Täter
noch Opfer sein,
und ist doch beides
Über die Rückkehrer zu sprechen
war ein Tabu, es galt die Illusion
eines sauberen Schnitts
Mit dem Land, in dem ihre
Kinder geboren wurden,
verschwinden alle Gewissheiten
Als eines der letzten fällt 1975 auch das portugiesische Kolonialreich, Angola erkämpft sich seine Unabhängigkeit, fällt in einen Bürgerkrieg, portugiesische Staatsangehörige müssen ausreisen. Einige Gepäckstücke bleiben am Flughafen von Luanda zurück, weil es kein Bodenpersonal mehr gibt.
Foto: AP
Dulce Maria Cardoso:
Die Rückkehr. Roman. Aus dem Portugiesischen von Steven Uhly.
Secession, Zürich/Berlin 2021. 251 Seiten,
24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In „Die Rückkehr“ erzählt Dulce Maria Cardoso, wie ein junger Mann in einer Welt voll Rassismus
und Gewalt aufwächst. Der Roman brach in Portugal das Schweigen über die Kolonialgeschichte
VON KARIN JANKER
Als der Vater zum Messer greift und beginnt, die gestickten Blumen auf der Tischdecke aufzuschlitzen, ist es zu spät. Die Mutter, die den Stoff als junges Mädchen eigenhändig bestickt hat, hebt noch die Hand, doch sie hält ihn nicht auf. Wozu auch? Es ist ohnehin alles verloren. Der Vater löst Faden für Faden auf, „als gäbe es eine richtige Art und Weise, Dahlien aufzuritzen, und als hätte Vater sie genauso gut gelernt wie Mutter es gelernt hat, sie zu sticken“. Wie eine Drohung liegt das lange Messer „in Vaters riesiger, wütender Hand“.
Es wird das letzte Mal sein, dass die Familie an diesem Esstisch zusammensitzt. Der 15-jährige Rui, seine Schwester Milucha, die kränkliche Mutter und der Vater mit seinem Messer. Nach diesem letzten Essen werden sie das Haus in der feuchten Hitze Angolas verlassen. Bald werden sich andere Menschen Zutritt zu ihrem Zuhause verschaffen, ihretwegen zerschneidet der Vater die Tischdecke: „Nichts bleibt übrig“, sagt er, „die verdienen nichts.“ Die, das sind die Afrikaner, die Schwarzen, er nennt sie „Pretos“, ein Wort, noch bösartiger als das N-Wort. Der Vater will ihnen nichts zurücklassen, sogar den Hund töten, damit sie ihn nicht bekommen. Sein ganzes Leben hat er gearbeitet für dieses Leben hier. Und nun sagen sie, er hätte ein fremdes Land ausgebeutet und solle wieder zurückkehren in sein eigenes.
Es ist das Jahr 1974, in Portugal haben linke Militärs gegen die autoritäre Diktatur des Estado Novo geputscht. Mit ihr fällt auch das portugiesische Kolonialreich. Als einer der letzten Staaten der Welt entlässt Portugal seine Kolonien in die Unabhängigkeit. Angola stürzt in eine Phase bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen mehreren nach Macht strebenden Befreiungsbewegungen. Klar ist: Die Zeit der weißen Kolonialherren ist abgelaufen. Rui und seine Schwester müssen das Land verlassen, in dem sie geboren wurden, ihre Eltern das Land, dem sie ihren Wohlstand abgerungen haben. „Angola ist vorbei, kaputt, der Kaffee, die Baumwolle, der Sisal, das Palmöl, die Diamanten, das Erdöl, kaputt, alles vorbei.“
Die Schriftstellerin Dulce Maria Cardoso, die zu den wichtigsten literarischen Stimmen Portugals gehört, erzählt in ihrem Roman „Die Rückkehr“ ein Stück Kolonialgeschichte aus der Perspektive eines Teenagers, der nicht zu wissen scheint, dass er zu den Unterdrückern gehört. Rui muss nach dem Ende des portugiesischen Imperiums auswandern in ein Land, in dem er noch nie war. Seine Rückkehr ist in Wirklichkeit keine. Portugal streitet bis heute über die Frage, ob die Menschen aus den Kolonien „retornados ou refugiados“ sind, Rückkehrer oder Flüchtlinge. Es geht auch um die Frage, ob sie Täter oder Opfer sind und wer darüber entscheidet. Der Roman spricht dieses Urteil nicht, er gehört zu einer Literatur, die nicht richtet, sondern Empathie schafft – sogar mit denen, die selbst ohne Mitgefühl sind.
Rui will weder Täter noch Opfer sein. Und doch ist er beides. Die Kinder der Kolonialisten haben sich mitschuldig gemacht und wurden gleichzeitig auch zu Opfern des Kolonialregimes. Durch die Augen dieses Protagonisten erzählt Cardoso von einem kollektiven Trauma, das in Europa kaum präsent ist, obwohl es noch keine 50 Jahre zurückliegt. Portugal kennt Rui nur aus dem Schulunterricht. Dennoch nennt er es „Mutterland“. In der Schule haben sie ihm beigebracht, dass Portugal ein Imperium sei, „das vom Minho bis Timor reicht“. „Doch das Wichtigste lehrten sie uns nicht, dass das Mutterland die Menschen verändert.“ Rui verliert in den ersten Monaten in Portugal, in denen er um das Leben seines in Angola zurückgebliebenen Vaters bangt, seine Unschuld in vielfacher Hinsicht.
Dort gehört Rui auf einmal zu den Verlierern. Rückkehrer wie ihn erkennt man sofort, es sind „traurige Menschen mit Pullovern voller Knötchen. Borboto – Knötchen – ist ein anderes neues Wort, das wir oft sagen, die Pullover, die man uns bei den Kleiderausgaben überlässt, sind immer voller Borbotos“. Die deutsche Übersetzung von Steven Uhly, die die einfache wie eindringliche Sprache des Originals hervorragend bewahrt, konserviert einige portugiesische Wörter, viele davon mit Fußnoten versehen. Der Effekt dieser Akkuratesse ist zweischneidig: Die Fußnoten schaffen eine Distanz zum Erzähler, die der Text selbst nicht beabsichtigt. Andererseits ermöglichen sie ein sprachliches Kolorit, das für Cardosos Roman entscheidend ist. Denn die Erfahrung der Fremde macht Rui auch in der Sprache, er empfindet sie etwa in jenem Zischen, welches das europäische Portugiesisch härter klingen lässt als das der Kolonien. Sprache ist für Rui ein Medium der Identitätsfindung, mittels Sprache erhebt er sich auch über andere, die „Pretos“: „Die Scheißkerle können nicht einmal richtig sprechen, wi bringe di um mit deineh Waffe und mit deineh Kugel.“
Die Gewalt kommt subtil daher bei Cardoso, aber nicht weniger brutal. Der Roman kennt kein schlichtes Gut-Böse-Schema, was er vor allem seiner Hauptfigur verdankt: Aus nächster Nähe erzählt Cardoso Ruis Schwanken zwischen kindlicher Naivität und den Männlichkeitsobsessionen der Kultur, in der er aufgewachsen ist. Die Erzählung begleitet ihn auf der Flucht mit einem der letzten Flugzeuge, an deren Ende er mit seiner Schwester und seiner Mutter in ein Fünf-Sterne-Hotel zieht, in dem die Rückkehrer bizarrerweise bedient werden, aber den Pool nicht benutzen dürfen. „Ich weiß genau, dass Sie nicht im Dschungel gelebt haben“, sagt die Hoteldirektorin und meint das Gegenteil.
Die Hotels sind eine Gnadengeste des Staates, der sich für seine früheren Siedler schämt. Eine Scham, die auch Ruis Schwester empfindet, wenn sie in übergroßen Kleidungsstücken und mit dem gelben Rückkehrer-Ausweis in der Schulkantine für kostenloses Essen ansteht. Rui hingegen hält sich die Scham mit dem Hochmut des Halbstarken vom Leib. Nicht einmal zur Schule geht er mehr, seitdem „diese Nutte von einer Lehrerin“ gesagt hat, „einer von den Rückkehrern soll antworten, als hätten wir keine Namen“.
In der Zeit, in der dieser Roman spielt, hat sich der Staub der Geschichte noch nicht gelegt, nichts geordnet. Fragen nach Schuld und Scham, nach Gerechtigkeit und Identität sind roh und offen. Die Stimme des Ich-Erzählers führt schonungslos unbedarft durch die Katastrophe, die diese Leben trifft. Ruis limitierte Perspektive verleiht dem Roman seine Unmittelbarkeit. Er kennt ja nichts als das Leben in Angola, wo sein Vater einer Schwarzen sagte: „Ich gebe dir das Doppelte dessen, was du wert bist, wenn du diesen Jungen zum Mann machst.“ Hier gibt es keine urteilende Instanz, nichts, was die Leserin oder den Leser vor den sich überlagernden Ungerechtigkeiten schützt.
In Portugal erschien „O Retorno“ bereits 2011 und wurde bei seinem Erscheinen zum Buch des Jahres gewählt. Der Roman brach ein Schweigen: Romane über die Kolonialgeschichte gab es schon zuvor, doch über die Rückkehrer zu sprechen, war noch immer ein Tabu. Portugal lebte lange in der Illusion, es habe einen sauberen Schnitt zwischen Kolonialvergangenheit und Gegenwart gegeben. An den Geschichten der Rückkehrer kann man ablesen, dass ein solcher Schnitt unmöglich ist. Sie sind das Echo einer dunklen Vergangenheit. Selten drängte diese Vergangenheit so gewaltsam an die Oberfläche wie im vergangenen Sommer, als der 39-jährige schwarze Schauspieler Bruno Candé in Lissabon auf offener Straße von einem Rückkehrer aus den Kolonien erschossen wurde. Ein Verbrechen aus Rassenhass, das der portugiesischen Gesellschaft ihre offenen Wunden vor Augen führte.
Dulce Maria Cardoso verarbeitet in „Die Rückkehr“ einen Teil ihrer eigenen Biografie. Die Suche nach ihrer Identität habe sie letztlich zur Schriftstellerin gemacht, sagte sie einmal. Cardoso wuchs selbst in Angola auf und kam im Alter von elf Jahren als eine von 500 000 Rückkehrern nach Portugal. Als sie „Die Rückkehr“ schrieb, versetzte sie sich erneut in eine Situation der Fremde: Sie schrieb den Roman fast komplett im fränkischen Bamberg, wo sie ein Künstlerstipendium der Villa Concordia innehatte. Eine bequeme Fremde, das schon. Aber wenn sie kein Portugiesisch höre, verändere dies ihre Beziehung zu den Wörtern, sagte Cardoso hinterher: „Während ich ‚O Retorno‘ schrieb, wollte ich das Gefühl der Nichtzugehörigkeit wiedererleben.“
Wobei eine Sache 1975 völlig anders gewesen sei: Damals gab es keine Möglichkeit, jemals wieder nach Hause zurückzukehren. „Wir leben in der Gewissheit, dass das Land, wo wir unsere Toten beerdigt haben, für immer und ewig unser sein wird und dass auch unseren Kindern niemals das Land fehlen wird, wo wir sie zur Welt gebracht haben, wir leben in dieser Gewissheit, weil wir nie darüber nachdenken, dass uns das Land sterben kann“, sagt ein Rückkehrer zu Rui. „Die Rückkehr“ ist ein Roman über diesen Verlust der Heimat; mit ihr verschwinden alle Gewissheiten. Es ist ein Roman über das Erwachsenwerden. Und ein eindringliches Kunstwerk über ein Stück Zeitgeschichte.
Rui will weder Täter
noch Opfer sein,
und ist doch beides
Über die Rückkehrer zu sprechen
war ein Tabu, es galt die Illusion
eines sauberen Schnitts
Mit dem Land, in dem ihre
Kinder geboren wurden,
verschwinden alle Gewissheiten
Als eines der letzten fällt 1975 auch das portugiesische Kolonialreich, Angola erkämpft sich seine Unabhängigkeit, fällt in einen Bürgerkrieg, portugiesische Staatsangehörige müssen ausreisen. Einige Gepäckstücke bleiben am Flughafen von Luanda zurück, weil es kein Bodenpersonal mehr gibt.
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Dulce Maria Cardoso:
Die Rückkehr. Roman. Aus dem Portugiesischen von Steven Uhly.
Secession, Zürich/Berlin 2021. 251 Seiten,
24 Euro.
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