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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Beziehungsgeschichte: Manfred Hildermeier beschreibt Jahrhunderte westlichen Einflusses auf Russland
"Russland ist eine europäische Macht", schrieb Katharina die Große, die Zarin deutscher Herkunft. Sie versuchte diesen Anspruch zu verkörpern, indem sie mit Geistesgrößen wie Voltaire und Diderot korrespondierte und ihr Reich à la mode européenne umgestaltete. Putin hingegen sprach 250 Jahre später von der neuen "russischen Idee" und liebäugelt mit eurasischen Theorien.
In fast seiner gesamten Geschichte hat Russland Ideen, Technik, Verfahren, Entwicklungskonzepte, Kultur und Fachleute aus dem Westen bezogen. Zu allen Zeiten bestanden, wenngleich unterschiedlich enge, Beziehungen zu Westeuropa, die auch dann nicht abbrachen, wenn Russland sich auf Eigenes besann und den Westen skeptisch betrachtete. Von dieser langen Geschichte berichtet das jüngste Buch des Osteuropahistorikers Manfred Hildermeier nüchtern analysierend und ohne eurozentrischen Gestus.
Es widerspricht mit seiner präzisen und kenntnisreichen Darstellung jeder Vorstellung von einem abgeschotteten und autochthonen Russland oder einem Land, in das wichtige europäische Entwicklungen keinen Eingang gefunden hätten; es beweist durch verdichtete chronologische Darstellung, wie sehr Russland das Produkt kultureller, wissenschaftlicher, administrativer, technischer und vieler anderer Aneignungen ist; es macht deutlich, dass die Geschichte dieses Landes spätestens seit Peter dem Großen, das heißt seit Ende des siebzehnten Jahrhunderts, zu einem wesentlichen Teil eine Transfergeschichte ist. Und es klärt darüber auf, dass die Aneignungen meistens zum Nutzen des Reiches geschahen.
Den Kreml errichteten italienische Baumeister, die berühmte Akademie der Wissenschaften geht auf Leibniz zurück, die europäische Aufklärung stand bei den Reformen Katharinas der Großen Pate, die Idee eines russischen Agrarsozialismus (bei achtzig Prozent bäuerlicher Bevölkerung am Ende des neunzehnten Jahrhunderts) folgte den Beschreibungen des westfälischen Barons von Haxthausen, die verspätete Industrialisierung kopierte westeuropäische Entwicklungen. Die Revolution 1917 unterbrach die Beziehung nicht, sondern erweiterte sie nach Nordamerika. Die Bolschewiki, die radikalsten Gegner des westlichen Kapitalismus, feierten den "sowjetskij amerikanism", frönten der Technikgläubigkeit und gaben sich der Illusion hin, mit dem westlichen Konsum gleichziehen zu können.
Niemals jedoch, so Hildermeier, war die europäisch-russische Verzahnung so eng wie in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, als Russland erstmals auch dem Westen geben konnte: Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, den Futurismus, das Ballett, die künstlerische Avantgarde. Und nach dem Krieg den ersten sozialistischen Staat, den viele in Westeuropa begrüßten, wäre zu ergänzen.
Aber Moment einmal, möchte man spätestens an dieser Stelle einwenden, nicht ganz so hingerissen wie der Autor von der Idee, Verwestlichung bedeute immer Fortschritt und Vorteil. Russland hat doch auch vorher schon den Europäern etwas gegeben. Als "Gendarm Europas" nach dem Wiener Kongress 1815 die Repression der konstitutionellen und republikanischen Kräfte; die Unterdrückung der Folgen der Französischen Revolution, von denen die Herrschaften im Zarenreich nichts wissen wollten; unbeabsichtigt auch die leidenschaftliche Polonophilie in den europäischen liberalen Kreisen nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands 1830; und schon zuvor, absichtlich, die Löschung Polens von der politischen Landkarte zusammen mit Preußen und dem Habsburgerreich, ein wahrhaft europäisches Projekt. Was ist mit den antisemitischen "Protokollen der Weisen von Zion", die weltweite Verbreitung fanden? Was in jüngerer Zeit mit dem Ruin der vom Westen übernommenen sozialistischen Idee?
Nicht dass Hildermeier all das nicht wüsste. Man kann es nachlesen in seinen zwei Bänden zur Geschichte Russlands und der Sowjetunion, die international das Beste sind, was an Monographien dazu vorliegt. Aber im neuen Buch geht es um das Gegensatzpaar Fortschritt und Rückständigkeit, es steckt den Rahmen der Untersuchung ab.
Große Teile der Elite in Russland betrachteten ihr Land über Jahrhunderte hinweg als rückständig. Das sei eine Selbstbeschreibung, so Hildermeier, die daher trotz aller Kritik als analytische Kategorie bestehen könne. Die Dynamik der Verwestlichung rief Gegenbewegungen hervor, die das Buch nicht verschweigt. Im neunzehnten Jahrhundert meldeten sich die Slawophilen und russischen Nationalisten zu Wort und redeten von russischen Besonderheiten und einer zivilisatorischen Mission. Seitdem leidet Russland an einer hybriden Identität, die zwischen dem Westen und dem Eigenen hin- und herpendelt. Die nationalistische Ideologie des Putin-Regimes ist in der Langzeitperspektive des Buches nicht neu. Daher, so der Autor, bestehe Anlass zur Erwartung, sie werde von einer Gegenbewegung abgelöst.
Das sähe man lieber heute als morgen. Hildermeiers Buch stellt sich allen aktuell umlaufenden Appellen zur zivilisatorischen Ausschließung Russlands und jeder Russlandphobie in den Weg. Vor allem räumt es gründlich auf mit dem Überlegenheitsgerede des heutigen Regimes in Moskau. Denn noch ist keine Luxusyacht eines russischen Oligarchen auf einer russischen Werft gebaut worden, und Putin weiß wahrscheinlich nicht, dass selbst die Idee der Nation ein Westimport ist. STEFAN PLAGGENBORG
Manfred Hildermeier: "Die rückständige Großmacht". Russland und der Westen.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 271 S., br., 18,- Euro.
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DerStandard, Josef Kirchengast
"Ein beeindruckendes Wissen ... in einer komprimierten, gut lesbaren Buchfassung"
DAMALS, Klaus Gestwa
"Nüchtern analysierend und ohne eurozentrischen Gestus. Es widerspricht mit seiner präzisen und kenntnisreichen Darstellung jeder Vorstellung von einem abgeschotteten und autochthonen Russland."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stefan Plaggenborg