Das schmale Buch war in Bulgarien eine kleine Sensation. Es greift ein historisches Tabu auf, dem die bulgarische Literatur die längste Zeit ausgewichen ist: die sogenannten „Volksgerichte“ 1944/45, die die früheren Machthaber in Schauprozessen nach Moskauer Vorbild aburteilten und binnen weniger Monate einen Großteil der alten bürgerlichen Elite ausmerzten. Aus historischen Quellen baut Igov eine schlüssige Fiktion des „kleinen Mannes“, dem die Stunde schlägt: die Figur des Emil Strezov, eines randständigen proletarischen Jungpoeten aus der Provinz, der in atemberaubender Dynamik erst zum Mitläufer, dann zum „Kader“ und eilfertigen Ankläger im Dienste des neuen Terrorregimes wird. Eine Geschichte um Schuld und Sühne, Ermächtigung und Verstrickung, grandios vorgetragen aus der Perspektive von Seinesgleichen, die Emil Strezov hinter sich ließ. Wie ein antiker Chor erzählen und kommentieren sie das Geschehen – „im Namen des Volkes“. Hier sucht und findet ein junger bulgarischer Autor unmittelbar Anschluss an die modernsten Tendenzen der europäischen Literatur.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.01.2020Strafe für schlechten Stil
Ein Schelmenroman über bulgarische Volksgerichte
Wie jemand in die Mühlen der Justiz gerät, wie ihm der Prozess gemacht wird, und sei es von einer anonymen, ungreifbaren Instanz, wurde schon so manches Mal beschrieben. Wie aber jemand selbst zum Ankläger wird, wie ein zarter, junger, vielversprechender Dichter Todesstrafen fordert, und zwar en bloc, das wurde in der Literatur wohl noch nicht erzählt – zumindest nicht auf eine solch lebhafte, schelmenhafte Art und Weise wie in „Die Sanftmütigen“ des 1981 geborenen Bulgaren Angel Igov.
In dem 2015 im Original erschienenen Roman berichtet ein Chor Jugendlicher aus dem Sofioter Arbeiter- und Armenviertel Jučbunar von einem der Ihren, dem zum Dichter berufenen Emil Strezov. Es handelt sich dabei nicht um einen steifen Chor aus antikem Geist, eher um eine namens- und gesichtslose Bande kleiner, beweglicher Straßenköter, die um jede Ecke lugen, die unauffällig und mit schmutzigen Füßen in Hauseingängen hocken oder eben jenem von der Muse geküssten Emil Strezov auf Schritt und Tritt folgen. Kundschafter und Taschendiebe, Spaßmacher und Schlauberger, die dort, wo sie einmal kein Gespräch belauschen, sich eines ausdenken.
Dichter, die es nach Macht gelüstet und die insbesondere den Verlockungen der dunklen Seite der Macht nicht widerstehen konnten, hat es in den Dreißiger- und Vierzigerjahren viele gegeben. Emil Strezov aber fällt aus dem Muster, er ist kein Céline, kein Ernst Jünger, er hat mit seinen kaum zwanzig Jahre auch nur eine Handvoll Gedichte geschrieben. Er ist Kommunist, kein besonders tatkräftiger zwar, aber als die Rote Armee Sofia befreit, werden überall verlässliche Leute gesucht, auch in den Gerichten. Und weil Emil die Partisanin Liljana kennt, heimlich sogar in sie verliebt ist, weil Liljana durch ihre Zeit im Untergrund wiederum Leute kennt, die jetzt die Entscheidungen treffen, wird Emil zum Ankläger bei einem der damaligen „Volksgerichte“ ernannt. Und er nimmt seine Aufgabe ernst, zu ernst vielleicht: Er beißt sich an einem unter der Monarchie arrivierten, wenn auch zweitklassigen Dichter fest, einem Mann in taubengrauem Anzug und mit Ahornstock, der aus unerfindlichen – oder eben äußerlichen, ästhetischen – Gründen Emils ganzen Zorn auf sich zieht.
Wie überhaupt die Volksgerichte zuweilen etwas von einer literarischen oder besser literaturbetrieblichen Racheaktion an sich haben. So sagt etwa Emils Vorgesetzter einmal: „Allein die Syntax, der Stil! So treibt man die Zögernden und Ungefestigten dem Faschismus in die Arme! (…) Man möchte sich die Gedärme auskotzen. Wenn man an all die Opfer denkt, all die Verbrechen – wären sie denkbar gewesen ohne die Propaganda? Und noch dazu so stümperhaft! Wenn sie wenigstens hätten schreiben können!“
Schreiben kann dieser Angel Igov, und wie!, möchte man rufen. Von dem Schwung dieser Prosa, ihrem Witz, dem Gespür auch fürs rechte Maß lässt sich allerdings nur schwärmen, weil Andreas Tretner „Die Sanftmütigen“ mit großer Erfindungsgabe und Liebe fürs semantische wie rhythmische Detail ins Deutsche gebracht hat. Kein Wort ist zu viel auf diesen gerade einmal zweihundert Seiten.
Dicht und kompakt rücken „Die Sanftmütigen“ einen wenig beachteten Aspekt der großen Machtverschiebung der Jahre 1944/45 in den Blick, und sie stellen mit diesem von seinen Jučbunarer Detektiven verfolgten, verwirrten und verliebten Emil die Frage, wie man selbst sich verhalten hätte angesichts der Möglichkeiten, die jeder Untergang mit sich bringt.
TOBIAS LEHMKUHL
Ein wenig beachteter Aspekt
der Machtverschiebung von
1944/45 kommt in den Blick
Angel Igov:
Die Sanftmütigen. Aus dem Bulgarischen von Andreas Tretner. eta Verlag, Berlin 2019. 216 Seiten, 17,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Schelmenroman über bulgarische Volksgerichte
Wie jemand in die Mühlen der Justiz gerät, wie ihm der Prozess gemacht wird, und sei es von einer anonymen, ungreifbaren Instanz, wurde schon so manches Mal beschrieben. Wie aber jemand selbst zum Ankläger wird, wie ein zarter, junger, vielversprechender Dichter Todesstrafen fordert, und zwar en bloc, das wurde in der Literatur wohl noch nicht erzählt – zumindest nicht auf eine solch lebhafte, schelmenhafte Art und Weise wie in „Die Sanftmütigen“ des 1981 geborenen Bulgaren Angel Igov.
In dem 2015 im Original erschienenen Roman berichtet ein Chor Jugendlicher aus dem Sofioter Arbeiter- und Armenviertel Jučbunar von einem der Ihren, dem zum Dichter berufenen Emil Strezov. Es handelt sich dabei nicht um einen steifen Chor aus antikem Geist, eher um eine namens- und gesichtslose Bande kleiner, beweglicher Straßenköter, die um jede Ecke lugen, die unauffällig und mit schmutzigen Füßen in Hauseingängen hocken oder eben jenem von der Muse geküssten Emil Strezov auf Schritt und Tritt folgen. Kundschafter und Taschendiebe, Spaßmacher und Schlauberger, die dort, wo sie einmal kein Gespräch belauschen, sich eines ausdenken.
Dichter, die es nach Macht gelüstet und die insbesondere den Verlockungen der dunklen Seite der Macht nicht widerstehen konnten, hat es in den Dreißiger- und Vierzigerjahren viele gegeben. Emil Strezov aber fällt aus dem Muster, er ist kein Céline, kein Ernst Jünger, er hat mit seinen kaum zwanzig Jahre auch nur eine Handvoll Gedichte geschrieben. Er ist Kommunist, kein besonders tatkräftiger zwar, aber als die Rote Armee Sofia befreit, werden überall verlässliche Leute gesucht, auch in den Gerichten. Und weil Emil die Partisanin Liljana kennt, heimlich sogar in sie verliebt ist, weil Liljana durch ihre Zeit im Untergrund wiederum Leute kennt, die jetzt die Entscheidungen treffen, wird Emil zum Ankläger bei einem der damaligen „Volksgerichte“ ernannt. Und er nimmt seine Aufgabe ernst, zu ernst vielleicht: Er beißt sich an einem unter der Monarchie arrivierten, wenn auch zweitklassigen Dichter fest, einem Mann in taubengrauem Anzug und mit Ahornstock, der aus unerfindlichen – oder eben äußerlichen, ästhetischen – Gründen Emils ganzen Zorn auf sich zieht.
Wie überhaupt die Volksgerichte zuweilen etwas von einer literarischen oder besser literaturbetrieblichen Racheaktion an sich haben. So sagt etwa Emils Vorgesetzter einmal: „Allein die Syntax, der Stil! So treibt man die Zögernden und Ungefestigten dem Faschismus in die Arme! (…) Man möchte sich die Gedärme auskotzen. Wenn man an all die Opfer denkt, all die Verbrechen – wären sie denkbar gewesen ohne die Propaganda? Und noch dazu so stümperhaft! Wenn sie wenigstens hätten schreiben können!“
Schreiben kann dieser Angel Igov, und wie!, möchte man rufen. Von dem Schwung dieser Prosa, ihrem Witz, dem Gespür auch fürs rechte Maß lässt sich allerdings nur schwärmen, weil Andreas Tretner „Die Sanftmütigen“ mit großer Erfindungsgabe und Liebe fürs semantische wie rhythmische Detail ins Deutsche gebracht hat. Kein Wort ist zu viel auf diesen gerade einmal zweihundert Seiten.
Dicht und kompakt rücken „Die Sanftmütigen“ einen wenig beachteten Aspekt der großen Machtverschiebung der Jahre 1944/45 in den Blick, und sie stellen mit diesem von seinen Jučbunarer Detektiven verfolgten, verwirrten und verliebten Emil die Frage, wie man selbst sich verhalten hätte angesichts der Möglichkeiten, die jeder Untergang mit sich bringt.
TOBIAS LEHMKUHL
Ein wenig beachteter Aspekt
der Machtverschiebung von
1944/45 kommt in den Blick
Angel Igov:
Die Sanftmütigen. Aus dem Bulgarischen von Andreas Tretner. eta Verlag, Berlin 2019. 216 Seiten, 17,95 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2020Im ideologischen Treibhaus
Schauprozesse gab es auch in Bulgarien: Angel Igovs Roman "Die Sanftmütigen" erzählt davon - und verletzt Tabus
Ausgerechnet den 9. September 1944, an dem die Rote Armee das mit Hitler verbündete Bulgarien besetzt, verschläft Emil Strezov. Die Eltern haben ihn nach Sofia geschickt, weil seine Schwester von der Tuberkulose hingerafft worden ist und sie bereits husten müssen. Er schlüpft bei einem Freund des Vaters unter und versäumt, so heißt es schon am nächsten Tag stolz, wie das Volk "die Macht übernimmt". Doch aus dem jungen, ziellos dahinlebenden Provinzdichter wird noch ein überzeugter Kämpfer für die gerecht erscheinende Sache: Strezov gerät zu den eilig von den Kommunisten eingerichteten Volksgerichten. Die Tribunale rechnen in den nächsten Monaten mit großen Teilen der politischen und wirtschaftlichen Elite Bulgariens ab. Kriegsverbrecher, politisch Missliebige und Unschuldige verschwinden als "braune Heuschrecken" und "faschistische Blutsauger" in Gefängnissen und Gräbern.
Die erstaunliche Karriere des Habenichts wird in Angel Igovs Roman "Die Sanftmütigen" von einem Chor beobachtet. Strezovs Altersgenossen in Sofias Armenviertel Jucbunar - "Hände in den Taschen, Mütze in die Stirn gezogen, das herausfordernde Jucbunarer Grinsen im Gesicht" - bekommen fast alles mit, vergessen nichts und halten seit jeher wohlweislich Abstand zu den jeweiligen Machthabern. Sie haben starke Zweifel, ob Strezov dereinst in seinen Memoiren die Wahrheit schreiben wird, und versuchen es selbst. Wie ein ehrlicher Bericht auszusehen hätte, wissen sie: widersprüchlich, bruchstückhaft und voller überraschender Kehrtwenden. Der junge Schriftsteller und Übersetzer Angel Igov, der 1981 in Sofia geboren wurde, stellt sich mit diesem ganz und gar nicht linientreuen, dafür selbstbewussten Kollektiverzähler einen unterhaltsamen Freifahrtschein aus. Ein traditioneller historischer Roman ist "Die Sanftmütigen" nicht.
Der Chor wechselt sich mit einem allwissenden Erzähler ab, wodurch Igov die von Kommunisten behauptete Einheit des Volkes en passant als Phrase beiseitewischt. Und an einer Stelle nutzt der Autor die ideologische Spaltung des Landes für ein Quiz: Der Chor liest aus Vorkriegszeitungen vor und rät, ob es sich bei den Blättern um Organe der imperialistischen Großbulgaren, der protofaschistischen Legionäre, der nationalistischen Ratniks oder der Kommunisten handelt. Die Entscheidung fällt nicht immer leicht. Bulgarien ist in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dank seiner Lage zwischen Ost und West ein ideologisches Treibhaus.
Die Gegenwart des Jahres 1944 ist deutlich übersichtlicher: Es gibt nur noch Kommunisten und ihre Feinde. Bei näherer Betrachtung lassen sich allerdings auch die Kommunisten differenzieren: Der Chor erkennt in Strezov einen fanatischen "Gummikopf" und lacht sich "scheckig" über ihn. Kein ungefährliches Vergnügen in Zeiten der Volksgerichte, aber ein amüsantes für den Leser, zumal der Übersetzer Andreas Tretner den Spott mit Rhythmusgefühl und hingetupften Anachronismen aus den Vierzigern und Fünfzigern einfärbt.
Emil Strezov, sein stotternder Freund Kosta und die schöne Liljana erhalten Pistolen und rote Armbinden, weil ein alter Kommunist ihre Brauchbarkeit erkennt. Strezov trägt die Abzeichen der Macht stolz und lechzt nach Bewährungsproben, zumal vor Liljana. Eine Zufallsbekanntschaft bietet sich dafür an: ein bürgerlicher Dichter, der eine Geliebte aushält. Strezov verspürt sofort einen belebenden moralischen Affekt - schließlich könnte sein Leben genauso aussehen, weshalb er diese in der neuen Zeit inopportune Variante ausschließen muss, zumindest ihre Verkörperung. Flugs wird der Bonvivant von Strezov, inzwischen zum Ankläger bei dem für Journalisten und Schriftsteller zuständigen Volksgericht befördert, des Todes angeklagt.
In Bulgarien hat "Die Sanftmütigen" einiges Aufsehen erregt, weil der Roman mit den Volksgerichten ein historisches Tabu aufgreift. Igov präsentiert die Schauprozesse nach Moskauer Vorbild allerdings ohne Empörung und Verbitterung. Sein junger Protagonist wird von menschlich-allzumenschlichen Motiven getrieben, die ein mit solchen Regungen durchaus vertrauter Kollektiverzähler - der Chor bereichert sich am Volksvermögen - zufrieden enthüllt. Die Sanftmütigkeit verdankt sich also dem Wissen, dass niemand frei von Schuld ist. Und einer will gleich gar keine Schuld mehr erkennen, zumindest beim Schriftstellern: Strezovs Bekannter Elias, ein gebildeter, die Literatur liebender Jude, verurteilt zwar Taten, zählt aber Artikel und Bücher nicht zu ihnen. Intellektuelle seien eben dumm, also unzurechnungsfähig, sie sollten der Selbstkritik, der Reue und dem Urteil der Geschichte überlassen werden. Zwischen Volksgerichten und Korruption, so muss man diese Reflexionen lesen, wird die Idee der Gerechtigkeit zerrieben. In Bulgarien waren alle Katzen grau.
Zur umfassenden Sanftmütigkeit passt auch, dass die zwei alten Kommunisten, die im Hintergrund die Strippen ziehen und denen die jungen Leute ihre Karriere verdanken, keine Fanatiker sind. Als Pragmatiker haben sie in Moskau schon Stalins Großen Terror überlebt, nun bremsen sie den jugendlichen Furor ihres Geschöpfes und lassen den Dichter leben. Zudem lässt der eine den anderen mit der schönen Liljana anbändeln.
Geschickt erzählt Angel Igov von großer und kleiner, politischer und alltäglicher Korruption. Leider verliert sein Roman im letzten Drittel an Witz und Tempo: Strezovs wenig abgefeimter Feldzug gegen den Dichter drängt den Chor zurück, so dass der Roman schwerfälliger in die Zielgerade einbiegt, als er begann. Allerdings wird, was ästhetisch als Verlust erscheint, deshalb noch kein Sieg der Ethik. Die Korruption bleibt, und man muss annehmen, dass Igov damit nicht nur vergangene Zeiten meint.
JÖRG PLATH
Angel Igov:
"Die Sanftmütigen".
Roman.
Aus dem Bulgarischen von Andreas Tretner. Eta Verlag. Berlin 2019. 216 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schauprozesse gab es auch in Bulgarien: Angel Igovs Roman "Die Sanftmütigen" erzählt davon - und verletzt Tabus
Ausgerechnet den 9. September 1944, an dem die Rote Armee das mit Hitler verbündete Bulgarien besetzt, verschläft Emil Strezov. Die Eltern haben ihn nach Sofia geschickt, weil seine Schwester von der Tuberkulose hingerafft worden ist und sie bereits husten müssen. Er schlüpft bei einem Freund des Vaters unter und versäumt, so heißt es schon am nächsten Tag stolz, wie das Volk "die Macht übernimmt". Doch aus dem jungen, ziellos dahinlebenden Provinzdichter wird noch ein überzeugter Kämpfer für die gerecht erscheinende Sache: Strezov gerät zu den eilig von den Kommunisten eingerichteten Volksgerichten. Die Tribunale rechnen in den nächsten Monaten mit großen Teilen der politischen und wirtschaftlichen Elite Bulgariens ab. Kriegsverbrecher, politisch Missliebige und Unschuldige verschwinden als "braune Heuschrecken" und "faschistische Blutsauger" in Gefängnissen und Gräbern.
Die erstaunliche Karriere des Habenichts wird in Angel Igovs Roman "Die Sanftmütigen" von einem Chor beobachtet. Strezovs Altersgenossen in Sofias Armenviertel Jucbunar - "Hände in den Taschen, Mütze in die Stirn gezogen, das herausfordernde Jucbunarer Grinsen im Gesicht" - bekommen fast alles mit, vergessen nichts und halten seit jeher wohlweislich Abstand zu den jeweiligen Machthabern. Sie haben starke Zweifel, ob Strezov dereinst in seinen Memoiren die Wahrheit schreiben wird, und versuchen es selbst. Wie ein ehrlicher Bericht auszusehen hätte, wissen sie: widersprüchlich, bruchstückhaft und voller überraschender Kehrtwenden. Der junge Schriftsteller und Übersetzer Angel Igov, der 1981 in Sofia geboren wurde, stellt sich mit diesem ganz und gar nicht linientreuen, dafür selbstbewussten Kollektiverzähler einen unterhaltsamen Freifahrtschein aus. Ein traditioneller historischer Roman ist "Die Sanftmütigen" nicht.
Der Chor wechselt sich mit einem allwissenden Erzähler ab, wodurch Igov die von Kommunisten behauptete Einheit des Volkes en passant als Phrase beiseitewischt. Und an einer Stelle nutzt der Autor die ideologische Spaltung des Landes für ein Quiz: Der Chor liest aus Vorkriegszeitungen vor und rät, ob es sich bei den Blättern um Organe der imperialistischen Großbulgaren, der protofaschistischen Legionäre, der nationalistischen Ratniks oder der Kommunisten handelt. Die Entscheidung fällt nicht immer leicht. Bulgarien ist in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dank seiner Lage zwischen Ost und West ein ideologisches Treibhaus.
Die Gegenwart des Jahres 1944 ist deutlich übersichtlicher: Es gibt nur noch Kommunisten und ihre Feinde. Bei näherer Betrachtung lassen sich allerdings auch die Kommunisten differenzieren: Der Chor erkennt in Strezov einen fanatischen "Gummikopf" und lacht sich "scheckig" über ihn. Kein ungefährliches Vergnügen in Zeiten der Volksgerichte, aber ein amüsantes für den Leser, zumal der Übersetzer Andreas Tretner den Spott mit Rhythmusgefühl und hingetupften Anachronismen aus den Vierzigern und Fünfzigern einfärbt.
Emil Strezov, sein stotternder Freund Kosta und die schöne Liljana erhalten Pistolen und rote Armbinden, weil ein alter Kommunist ihre Brauchbarkeit erkennt. Strezov trägt die Abzeichen der Macht stolz und lechzt nach Bewährungsproben, zumal vor Liljana. Eine Zufallsbekanntschaft bietet sich dafür an: ein bürgerlicher Dichter, der eine Geliebte aushält. Strezov verspürt sofort einen belebenden moralischen Affekt - schließlich könnte sein Leben genauso aussehen, weshalb er diese in der neuen Zeit inopportune Variante ausschließen muss, zumindest ihre Verkörperung. Flugs wird der Bonvivant von Strezov, inzwischen zum Ankläger bei dem für Journalisten und Schriftsteller zuständigen Volksgericht befördert, des Todes angeklagt.
In Bulgarien hat "Die Sanftmütigen" einiges Aufsehen erregt, weil der Roman mit den Volksgerichten ein historisches Tabu aufgreift. Igov präsentiert die Schauprozesse nach Moskauer Vorbild allerdings ohne Empörung und Verbitterung. Sein junger Protagonist wird von menschlich-allzumenschlichen Motiven getrieben, die ein mit solchen Regungen durchaus vertrauter Kollektiverzähler - der Chor bereichert sich am Volksvermögen - zufrieden enthüllt. Die Sanftmütigkeit verdankt sich also dem Wissen, dass niemand frei von Schuld ist. Und einer will gleich gar keine Schuld mehr erkennen, zumindest beim Schriftstellern: Strezovs Bekannter Elias, ein gebildeter, die Literatur liebender Jude, verurteilt zwar Taten, zählt aber Artikel und Bücher nicht zu ihnen. Intellektuelle seien eben dumm, also unzurechnungsfähig, sie sollten der Selbstkritik, der Reue und dem Urteil der Geschichte überlassen werden. Zwischen Volksgerichten und Korruption, so muss man diese Reflexionen lesen, wird die Idee der Gerechtigkeit zerrieben. In Bulgarien waren alle Katzen grau.
Zur umfassenden Sanftmütigkeit passt auch, dass die zwei alten Kommunisten, die im Hintergrund die Strippen ziehen und denen die jungen Leute ihre Karriere verdanken, keine Fanatiker sind. Als Pragmatiker haben sie in Moskau schon Stalins Großen Terror überlebt, nun bremsen sie den jugendlichen Furor ihres Geschöpfes und lassen den Dichter leben. Zudem lässt der eine den anderen mit der schönen Liljana anbändeln.
Geschickt erzählt Angel Igov von großer und kleiner, politischer und alltäglicher Korruption. Leider verliert sein Roman im letzten Drittel an Witz und Tempo: Strezovs wenig abgefeimter Feldzug gegen den Dichter drängt den Chor zurück, so dass der Roman schwerfälliger in die Zielgerade einbiegt, als er begann. Allerdings wird, was ästhetisch als Verlust erscheint, deshalb noch kein Sieg der Ethik. Die Korruption bleibt, und man muss annehmen, dass Igov damit nicht nur vergangene Zeiten meint.
JÖRG PLATH
Angel Igov:
"Die Sanftmütigen".
Roman.
Aus dem Bulgarischen von Andreas Tretner. Eta Verlag. Berlin 2019. 216 S., geb., 17,90 [Euro].
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