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Türkisches Wunder: Die Romanpoesie von Hasan Ali Toptas
Nach dem Nobelpreis für Orhan Pamuk sagte Michael Krüger, sein deutscher Verleger, dieser Preis sei ein Signal an die Verlage, sich endlich der vielversprechenden türkischen Literatur der Gegenwart anzunehmen. Was aber erwartet uns jenseits von Orhan Pamuk und Yasar Kemal? Machen wir die Probe und lesen den Roman "Die Schattenlosen" von Hasan Ali Toptas, erschienen in der im vergangenen Jahr aus der Taufe gehobenen "Türkischen Bibliothek", einer Initiative der Bosch-Stiftung und des Züricher Unionsverlags.
Geboren 1958, zählt Toptas schon zu den Großen der neueren türkischen Literatur - und ist doch spät erst entdeckt worden. Bevor er 1994 mit seinen "Schattenlosen" einen Romanwettbewerb gewann, war er nicht einmal Spezialisten bekannt. Mittlerweile wird er mit Pamuk, den er zu seinen Vorbildern zählt, in einem Atemzug genannt. Zu Recht! Unabhängig davon, ob man sich für die Türkei im speziellen oder den Orient im allgemeinen interessiert, ist dies ein Buch für jeden wahren Leser, ein poetisches Meisterwerk, Weltliteratur, die gleichwohl ihre Herkunft nicht zu verleugnen braucht.
Ein Dorf, irgendwo in Anatolien. Und einer, der sich als Autor zu erkennen gibt, wartend im Friseursalon einer türkischen Großstadt. Der Friseur fordert ihn auf zu erzählen, woran er gerade schreibe. Der Autor ziert sich, nur um dann den Friseur und seinen Lehrling in Gedanken in jenes anatolische Dorf zu versetzen und sich den neuen Roman - ebenden, den wir gerade lesen - auszudenken. Die Figuren verselbständigen sich, und dem Sog der einmal in Gang gesetzten literarischen Phantasie erliegt bald auch der Autor im Friseursalon. Die verkehrte Welt des imaginierten Dorfs greift auf das Bewußtsein seines Schöpfers über, Innenwelt und Außenwelt, Wirklichkeit und Phantasie verschwimmen, auf nichts mehr ist Verlaß - willkommen im Wunderland der Literatur.
So instabil die Welten scheinen, in die uns Toptas entführt, sie sind wohldurchdacht, von unbestechlicher Eigenlogik, welthaltig wie der wirklichkeitsgläubigste Realismus. Der für die moderne orientalische Literatur so charakteristische Gegensatz von Stadt und Land wird thematisiert, von Aberglaube und Vernunft, von moderner, zentralisierter Staatsmacht und der davon wie abgekoppelten dörflichen Traditionalität. Güverçin, das schönste Mädchen des Dorfes, verschwindet. Der erneut wiedergewählte Bürgermeister, tragischer Held der Geschichte, fühlt sich verpflichtet, den Skandal aufzuklären, und tappt doch völlig im dunkeln. Da hilft nur die Phantasie. Der Bürgermeister sieht allabendlich Cennets Sohn im hellerleuchteten Zimmer über Schreibarbeiten sitzen. Dabei könne es sich, schließt er, nur um Liebesbriefe an die von ihm entführte und in den Bergen versteckte Güverçin handeln. Der Bürgermeister läßt ihn verhaften. Dessen Unschuldsbeteuerungen machen ihn und seinen Gehilfen, den "Wächter", so wütend, daß sie den Jungen zusammenschlagen. Der Junge, der immer nur "Cennets Sohn" genannt wird ("Sohn des Paradieses", "Cennet" heißt "Paradies" und ist ein Frauenname), verliert den Verstand und versucht als Schlangenbändiger seinem Namen gerecht zu werden. Als er später tatsächlich Güverçin ins Dorf zurückbringt, zieht er erneut den Verdacht auf sich, zumal Güverçin schwanger ist und kein Wort mehr redet. Dennoch, er war es nicht. Die großartig schaurige Auflösung dieses Entführungsplots sei hier nicht verraten.
Doch die äußere Handlung macht nur den geringsten Teil der Faszination dieses Buches aus. Der eigentliche Reiz besteht im Verschwimmen und Ineinanderübergehen von Zeiten und Orten, sei es in der Rahmenhandlung vom Friseursalon ins Dorf, sei es im Gedächtnis der Personen, die zunehmend ihrer selbstverständlichen Orientierung in der Welt verlustig gehen. Indem Raum und Zeit verwischen, tut sich für die Figuren der Bereich einer unbewußten, rein seelischen Wirklichkeit auf, die mit der äußeren nicht viel zu tun hat. Diese Verschiebung ins Innere ist die Quelle der ungeheuren Poesie dieses Buchs, eine echte Wiederverzauberung der Welt.
Es gelingt Toptas, bei aller Genauigkeit des Blicks stets das surreale Element so zu betonen, daß sich die Wirklichkeit auch im Auge des Lesers verschiebt, so, als spielte das Buch in einer Welt, in der tatsächlich andere Gesetze gelten. Und doch ist es immer nur diese leise Verschiebung: "Auf den Dorfplatz kamen die zwei Reiter gesprengt. Während man im Dunkeln weiße Pferdefesseln wie Schmetterlinge schnell herumflattern sah, wurden die Hufschläge immer wieder vom Wind davongetragen, so daß die Reiter zwischen dem näher rückenden Bild und dem sich entfernenden Ton gespenstisch steckenblieben."
Die Präzision solcher Beschreibungen entführt und befreit aus gewohnten Wahrnehmungsmustern. Toptas straft den literarischen Realismus Lügen, ohne dabei weltfremd zu werden. Als der Bürgermeister in der Kreisstadt das Verschwinden Güverçins meldet, wollen die Beamten ihm zeigen, welchen Platz das Mädchen im Staat einnimmt. "Schließlich waren Hunderte von spitzgesichtigen Männern damit beschäftigt, ohne Unterlaß Bücher und Hefte zu durchstöbern, bis ihre glänzenden Brillengläser von einer fingerdicken Staubschicht bedeckt waren." Was sie am Ende finden, ist nichts als ein winziges, undefinierbares Zeichen: "Das also ist der Platz, den in den Augen des Staates das schönste Mädchen des Dorfes einnimmt?" fragt sich der Bürgermeister voller Entsetzen. Toptas ist auch ein orientalischer, um die literarischen Errungenschaften der islamischen Mystik bereicherter Kafka.
Damit ist klar: Michael Krüger hat recht gehabt! Nach Pamuk haben wir den Eintritt eines weiteren jungen türkischen Autors in die Weltliteratur zu vermelden. Und wenn wir diese türkische Bibliothek nicht hätten - allein für Hasan Ali Toptas würde es sich lohnen, Türkisch zu lernen.
STEFAN WEIDNER
Hasan Ali Toptas: "Die Schattenlosen". Roman. Aus dem Türkischen übersetzt von Gerhard Meier. Unionsverlag, Zürich 2006. 247 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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