Feministische Dystopie
Obwohl ich keine Biologin bin, habe ich einmal aufgeschnappt, dass Männer Mangelwesen seien und dass das ihnen eigene Y-Chromosom quasi nur ein kaputtes X sei. Die weitaus geringere Lebenserwartung von Männern und die höhere Sterblichkeit männlicher Säuglinge
unterstreichen diese These. Dass es einmal keine Männer mehr geben könnte, weil sie quasi einer biologischen…mehrFeministische Dystopie
Obwohl ich keine Biologin bin, habe ich einmal aufgeschnappt, dass Männer Mangelwesen seien und dass das ihnen eigene Y-Chromosom quasi nur ein kaputtes X sei. Die weitaus geringere Lebenserwartung von Männern und die höhere Sterblichkeit männlicher Säuglinge unterstreichen diese These. Dass es einmal keine Männer mehr geben könnte, weil sie quasi einer biologischen Auslese zum Opfer gefallen sind, ist dennoch eine seltsam groteske Überlegung - aber ist sie wirklich so weit hergeholt? Genau ein solches Szenario - eine Welt, die nur noch aus weiblichen Wesen besteht - entwirft Lilly Gollackner in ihrem Roman “Die Schattenmacherin”, erschienen im März 2024.
Die Welt im Jahr 2068 ist eine andere, wie wir sie heute kennen. Männer gibt es schon lange nicht mehr, im Jahr 2034 wurden alle “androtoken Homo Sapiens” von einer mysteriösen Seuche hinweggerafft. Eine Welt, die durch Klimawandel, Verdichtungskriege und Umweltzerstörung ziemlich klein und fast unbewohnbar geworden ist, in der Pflanzen ein Vermögen kosten und man sich ohne “Protektionscreme” und Schutzmaßnahmen keinesfalls der unbarmherzig brennenden Sonne aussetzen darf - ein Horrorszenario. Eine Welt, in der nur noch 283 469 Menschen leben…
Im Mittelpunkt der Handlung steht zum einen Ruth, seit 2036 “die Präsidentin” der noch bewohnbaren Welt, die mit ihren 70 Jahren von einer Jüngeren, Ania, abgelöst werden soll. Die Präsidentin hat in dieser potenziellen Zukunftswelt die Entscheidungsgewalt über “die fünf Bereiche, auf denen unsere Gemeinschaft fußt: Versorgung, Technologie, Wasser, Fortpflanzung und Sicherheit” (S. 66). Ruth hat Probleme mit ihrer Absetzung, mit ihrem “zukunftslosen” Dasein: “Was sie nicht akzeptieren kann, ist der emotionale Kontrollverlust. Dieses Fallen, Stürzen in die Erinnerung, ausgelöst durch Blicke und Gerüche. Als würde sich das Hier und Jetzt zersetzen in den Nebelgranaten des gelebten Lebens.” (S. 42)
Mir hat diese Klima-Dystopie literarisch sehr gefallen und mich thematisch gleichzeitig schockiert. Sie holt uns aus unserer gedanklichen Komfortzone und führt uns mit erschreckend nüchterner Präzision die möglichen Folgen eines menschengemachten Klimawandels vor Augen. Natürlich können nicht mal Zukunftsforscher:innen voraussagen, wie genau die Zukunft tatsächlich wird, aber Gollackner zeichnet in ihrem Roman eine mögliche Version derselben: Die freie Natur ist aufgrund der unbarmherzigen Sonneneinstrahlung ohne Schutzmaßnahmen unbetretbar geworden, die verbliebenen (weiblichen) Menschen leben unter gläsernen Kuppeln, Wälder sind absolute Schutzzonen, Wasser ein seltenes Gut. Ruth erinnert sich wie sie vor 40 Jahren (also etwa in unserer Gegenwart) Pola kennenlernte und diese damals schon vor der Wasserknappheit gewarnt hatte: “Versiegelung, trockene Böden, ausbleibende Regenphasen. Leergepumpte Grundwasserreservoirs.” (S. 48) Außerdem wird der Menschheit in dieser Phase klar, dass das “Patriarchat als Mittäter an der Vernichtung der Lebensgrundlagen” (S. 48) anzusehen ist: “Eine Frau zu sein, war das schon ein politischer Akt?” (S. 48)
“Die Schattenmacherin” ist ein feministisches Manifest, das für Vielfalt - auch menschliche - plädiert. Außerdem werden moralisch-ethische Fragen und der menschliche Umgang mit schweren Verlusten anhand der Protagonistin Ruth thematisiert. Das Buch macht außerdem mehr als deutlich, dass wir unsere Zukunft letztlich selbst in der Hand haben. Wir dürfen nicht zulassen, dass es eine solche Horror-Zukunft wie in “Die Schattenmacherin” sein wird und deswegen sollten wir sofort alles dafür tun, unseren Planeten zu retten. Wenn das nur so einfach getan wäre wie gesagt und nicht die größte Kollektivaufgabe, vor der die Menschheit vermutlich jemals gestanden ist…
Ich muss die Lektüre dieses Romans wohl etwas länger sacken lassen. Wenn einem eine solch erschreckende Zukunftsvision in so klaren und eindrücklichen Bilder vorgezeichnet wird, dann macht das etwas mit einem. Auch bin ich mir sicher, dass der Terminus “Androtoke” niemals mehr aus meinem passiven Wortschatz verschwinden wird. Schwere Themen auf relativ wenig Seiten sehr gekonnt umgesetzt - ich bin begeistert, bedrückt und bezaubert von diesem Buch. Letzteres vor allem von seinem Ende, das Hoffnung macht, Hoffnung auf eine bessere Zukunft!