Hermann Brochs Werk 'Die Schlafwandler' ist ein Meisterwerk der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In diesem epischen Roman werden die Geschicke von drei Familien im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg miteinander verwoben. Broch zeichnet ein genaues Bild der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit und wirft gleichzeitig einen kritischen Blick auf die moralischen Abgründe, die sich unter der Oberfläche des scheinbaren Fortschritts verbergen. Sein literarischer Stil ist von einer beeindruckenden Vielschichtigkeit geprägt, der es dem Leser ermöglicht, tief in die Gedankenwelt der Protagonisten einzutauchen und die historischen Ereignisse hautnah mitzuerleben. Brochs Roman steht in der Tradition großer europäischer Erzählkunst und gehört zu den bedeutendsten Werken seiner Zeit.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2010Eine grauenhafte Müdigkeit bringe ich stets heim
Übermächtig ist die Zeit: Hermann Brochs Hauptwerk „Die Schlafwandler” entfaltet ein handlungssattes Panorama der Jahre 1888, 1903 und 1918
Gegenwartstauglichkeit ist kein Qualitätsmerkmal. Manche Romane sind derart voll mit Gegenwart, dass kein Raum für die Kunst bleibt. Bedenklich ist auch die Behauptung, eine Dichtung aus vergangener Zeit offenbare nun ihre Aktualität. Prophetie muss ebenso wenig einnehmen für ein Buch, das als gelungen zu bezeichnen ist, wenn es das Gewesene anschaulich, schöpferisch, symbolisch weiterdenkt. Insofern irren jene Lektüren, die sich von Hermann Brochs funkelndem Hauptwerk „Die Schlafwandler”, entstanden 1928 bis 1931, eine Deutung der heutigen Wirtschaftskrise, des heutigen Wertewandels versprechen. Brochs Mahnung gilt: „Übermächtig ist die Zeit, wir können sie nicht begreifen.”
Hanns Zischler, Primus inter pares der wieder unter der Regie Klaus Buhlerts versammelten Sprecherelite, spricht den Satz mit angemessener Kälte, als wäre es ein Krankheitsbild. Der Satz entstammt dem Essay „Zerfall der Werte”, der eingebettet ist in den letzten Teil der Romantrilogie, betitelt „1918 – Huguenau oder die Sachlichkeit.” Das Sachliche wird begriffen als das Tödliche, das Menschenabgewandte, das Zweckmäßige, das sich in der Architektur des Bauhauses und seiner Vorläufer verkörpere: „Eine grauenhafte Müdigkeit bringe ich stets heim, wenn ich durch die Straßen gewandert bin.” Anders als Siegfried Kracauer sieht Broch in der „Unfähigkeit zum Ornament” die Unfreiheit vorgebildet. Die zum Baustil gewordene Logik entspreche dem – wie es mit einem Begriff Ludwik Flecks heißt – „Denkstil dieser Zeit”.
Kein Thesengerippe sind „Die Schlafwandler”, sondern das handlungssatte Panorama dreier Intermezzi. Held des Zweckmäßigen ist der elsässische Deserteur und Geschäftsmann Huguenau, „ein wertfreier Mensch”. Samuel Finzi verleiht ihm ein hartes, kehliges Idiom. Lüge und Wahrheit rasseln unterschiedslos dahin. Huguenau ergaunert sich in einem Moselstädtchen den „Kurtrierischen Boten”, erdolcht schließlich dessen Vorbesitzer, einen gewissen August Esch. Bitter bilanziert Broch: „Dass er Esch umgebracht hatte, fiel zwar nicht in den kaufmännischen Pflichtenkreis, widersprach aber auch nicht dessen Usancen.”
Bei „Huguenau” übernimmt den erzählenden Part Peter Kurth und damit der größte Gegensatz zu Manfred Zapatka und Jürgen Hentsch, die in den ersten beiden Romanteilen die Hauptlast schultern. Kurth ist lässig, unterspannt, am Rande des Nuschelns, schlurft durch die Silben, betont gern die jeweils ersten am Wortanfang, liest sozusagen mit halb geöffneten Augen und eingezogenem Kopf, ein Improvisator, kein Dompteur der Laute. Zapatka formuliert schneidend scharf, Peitschenhiebe werden die Silben. Für den burlesken Mittelteil „1903 – Esch oder die Anarchie” mit seinen Skizzen aus dem Zirkus- und Dirnenleben ist Zapatka ideal. Esch ist hier ein Buchhalter, der Ordnung in die Welt bringen will durch Betrug und Gegenbetrug, vor allem aber „ein Mensch impetuoser Haltungen”. Bernhard Schütz verleiht Eschs blindem „Zorn gegen die Unentwirrbarkeit der Welt” einen großmäuligen Zug.
Am Beginn dieser unbedingt wieder zu entdeckenden Weltliteratur steht die Geschichte des Majors Joachims von Pasenow. Broch schildert in „1888 - Pasenow oder die Romantik” die Atmosphäre in Jägercasinos und Musikzimmern, zwischen Hirschgeweih und „braunpoliertem sechseckigen Spucknapf”. Ein Frack erscheint als schamlos, nur die Uniform macht den Menschen. Im kostbaren, seinerseits aus Noblesse anachronistischen Gestus des olympischen Betrachters, ruhend ganz in sich, belehrt uns Jürgen Hentsch, dass der Uniform die „bare Aufgabe” zukam, „die Ordnung in der Welt zu zeigen und zu statuieren und das Verschwimmende und Verfließende des Lebens aufzuheben.”
Es misslang ebenso wie die zornige Ordnungssuche Eschs und die Verherrlichung des Zweckmäßigen, um eine neue Weltordnung aufzurichten im Zeichen des „Führers” – so Broch 1931. Huguenau und die Unmoral triumphieren. Broch hofft, das letzte Wort möge nicht er haben, sondern „die Stimme des Menschen und der Völker, die Stimme des Trostes und der Hoffnung und der unmittelbaren Güte.” ALEXANDER KISSLER
Hermann Broch
Die Schlafwandler
Der Hörverlag, München 2010. 10 CDs, 660 Minuten, ca. 49 Euro.
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Übermächtig ist die Zeit: Hermann Brochs Hauptwerk „Die Schlafwandler” entfaltet ein handlungssattes Panorama der Jahre 1888, 1903 und 1918
Gegenwartstauglichkeit ist kein Qualitätsmerkmal. Manche Romane sind derart voll mit Gegenwart, dass kein Raum für die Kunst bleibt. Bedenklich ist auch die Behauptung, eine Dichtung aus vergangener Zeit offenbare nun ihre Aktualität. Prophetie muss ebenso wenig einnehmen für ein Buch, das als gelungen zu bezeichnen ist, wenn es das Gewesene anschaulich, schöpferisch, symbolisch weiterdenkt. Insofern irren jene Lektüren, die sich von Hermann Brochs funkelndem Hauptwerk „Die Schlafwandler”, entstanden 1928 bis 1931, eine Deutung der heutigen Wirtschaftskrise, des heutigen Wertewandels versprechen. Brochs Mahnung gilt: „Übermächtig ist die Zeit, wir können sie nicht begreifen.”
Hanns Zischler, Primus inter pares der wieder unter der Regie Klaus Buhlerts versammelten Sprecherelite, spricht den Satz mit angemessener Kälte, als wäre es ein Krankheitsbild. Der Satz entstammt dem Essay „Zerfall der Werte”, der eingebettet ist in den letzten Teil der Romantrilogie, betitelt „1918 – Huguenau oder die Sachlichkeit.” Das Sachliche wird begriffen als das Tödliche, das Menschenabgewandte, das Zweckmäßige, das sich in der Architektur des Bauhauses und seiner Vorläufer verkörpere: „Eine grauenhafte Müdigkeit bringe ich stets heim, wenn ich durch die Straßen gewandert bin.” Anders als Siegfried Kracauer sieht Broch in der „Unfähigkeit zum Ornament” die Unfreiheit vorgebildet. Die zum Baustil gewordene Logik entspreche dem – wie es mit einem Begriff Ludwik Flecks heißt – „Denkstil dieser Zeit”.
Kein Thesengerippe sind „Die Schlafwandler”, sondern das handlungssatte Panorama dreier Intermezzi. Held des Zweckmäßigen ist der elsässische Deserteur und Geschäftsmann Huguenau, „ein wertfreier Mensch”. Samuel Finzi verleiht ihm ein hartes, kehliges Idiom. Lüge und Wahrheit rasseln unterschiedslos dahin. Huguenau ergaunert sich in einem Moselstädtchen den „Kurtrierischen Boten”, erdolcht schließlich dessen Vorbesitzer, einen gewissen August Esch. Bitter bilanziert Broch: „Dass er Esch umgebracht hatte, fiel zwar nicht in den kaufmännischen Pflichtenkreis, widersprach aber auch nicht dessen Usancen.”
Bei „Huguenau” übernimmt den erzählenden Part Peter Kurth und damit der größte Gegensatz zu Manfred Zapatka und Jürgen Hentsch, die in den ersten beiden Romanteilen die Hauptlast schultern. Kurth ist lässig, unterspannt, am Rande des Nuschelns, schlurft durch die Silben, betont gern die jeweils ersten am Wortanfang, liest sozusagen mit halb geöffneten Augen und eingezogenem Kopf, ein Improvisator, kein Dompteur der Laute. Zapatka formuliert schneidend scharf, Peitschenhiebe werden die Silben. Für den burlesken Mittelteil „1903 – Esch oder die Anarchie” mit seinen Skizzen aus dem Zirkus- und Dirnenleben ist Zapatka ideal. Esch ist hier ein Buchhalter, der Ordnung in die Welt bringen will durch Betrug und Gegenbetrug, vor allem aber „ein Mensch impetuoser Haltungen”. Bernhard Schütz verleiht Eschs blindem „Zorn gegen die Unentwirrbarkeit der Welt” einen großmäuligen Zug.
Am Beginn dieser unbedingt wieder zu entdeckenden Weltliteratur steht die Geschichte des Majors Joachims von Pasenow. Broch schildert in „1888 - Pasenow oder die Romantik” die Atmosphäre in Jägercasinos und Musikzimmern, zwischen Hirschgeweih und „braunpoliertem sechseckigen Spucknapf”. Ein Frack erscheint als schamlos, nur die Uniform macht den Menschen. Im kostbaren, seinerseits aus Noblesse anachronistischen Gestus des olympischen Betrachters, ruhend ganz in sich, belehrt uns Jürgen Hentsch, dass der Uniform die „bare Aufgabe” zukam, „die Ordnung in der Welt zu zeigen und zu statuieren und das Verschwimmende und Verfließende des Lebens aufzuheben.”
Es misslang ebenso wie die zornige Ordnungssuche Eschs und die Verherrlichung des Zweckmäßigen, um eine neue Weltordnung aufzurichten im Zeichen des „Führers” – so Broch 1931. Huguenau und die Unmoral triumphieren. Broch hofft, das letzte Wort möge nicht er haben, sondern „die Stimme des Menschen und der Völker, die Stimme des Trostes und der Hoffnung und der unmittelbaren Güte.” ALEXANDER KISSLER
Hermann Broch
Die Schlafwandler
Der Hörverlag, München 2010. 10 CDs, 660 Minuten, ca. 49 Euro.
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