Was ist das Geheimnis des guten Stils, wie wird aus Sprache Literatur? Dieser Frage geht Michael Maar in seinem Haupt- und Lebenswerk nach, für das er vierzig Jahre lang gelesen hat. Was ist Manier, was ist Jargon, und in welche Fehlerfallen tappen fast alle? Wie müssen die Elementarteilchen zusammenspielen für den perfekten Prosasatz? Maar zeigt, wer Dialoge kann und wer nicht, warum Hölderlin über- und Rahel Varnhagen unterschätzt wird, warum ohne die österreichischen Juden ein Kontinent des Stils wegbräche, warum Kafka ein Alien ist und warum nur Heimito von Doderer an Thomas Mann heranreicht. In fünfzig Porträts, von Goethe bis Gernhardt, von Kleist bis Kronauer, entfaltet er en passant eine Geschichte der deutschen Literatur.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jan-Frederik Bandel lässt sich von Michael Maar durch dessen ganz private Literaturgeschichte führen und erklären, was Stil ist. Dass sich der Autor bei letzterem nicht wirklich festlegt, sondern lieber seine eher klassischen Helden sprechen lässt (von Benjamin bis Varnhagen), gefällt Bandel gut. Besser jedenfalls, als wenn Maar mahnend (be-)urteilt. Richtig groß ist der Autor laut Bandel darin, einen Stil mit wenigen Worten zu kennzeichnen. Dann ist für den Rezensenten auch Maars Liebe zu seinem Material spürbar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2021Keine Liebe ohne Pathos
In guten wie in schlechten Sätzen: Der Literaturkritiker Michael Maar fragt nach dem Geheimnis guten Stils und nimmt die großen Werke der Weltliteratur in seine Lektorenhand.
Ist es wirklich ein Abenteuerbuch, das der Literaturkritiker und -wissenschaftler Michael Maar da geschrieben hat? Die Geschichte einer Schatzsuche? Vom Einband blickt einem eine elegante junge Frau entgegen, ihr Blick, selbstbewusst, aber verträumt, trifft einen nicht direkt, die Linke liegt auf einem aufgeschlagenen Buch, das seltsam unscharf scheint (sind das verschwommene Zeilen, Bilder hinter Pergamentpapier?), die Rechte stützt nicht, wie man bei flüchtigem Blick vermuten könnte, den leseschwer gewordenen Kopf, sondern deutet eine Faust an - eine Drohgebärde? Dazu, farblich vornehm abgestimmt, der Titel: "Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur". Ein nur leicht aufdringlich mysteriöses Gemälde, ein kurios verrutschtes Sprachbild und ein Versprechen, so hochgegriffen, dass man dem Autor sofort zutraut, auf seine Einlösung souverän zu verzichten, zumindest diesen Schatz nicht jagen zu müssen. Welchen aber dann?
Den Begriff, um den das ganze Buch - immerhin 656 Seiten - aufgebaut ist, sucht man in dessen Titel vergebens: Stil. Ein altmodisches Wort, allerdings ist gewaltig Spannung drauf. Stil, das meint das höchst Individuelle eines (in diesem Falle: literarischen) Ausdrucks. Stil behauptet einen Gleichklang von Persönlichkeit und Form, was ziemlich vertrackt ist, nicht nur weil Gleichklang nicht leicht zu haben ist, sondern weil so eine Persönlichkeit ohnehin eine reichlich dissonante Angelegenheit darstellt. Stil bildet die Persönlichkeit nicht ab, er müht sich, sie zusammenzuhalten. Allerdings meint Stil zugleich gerade das Überindividuelle: den Stil einer Schule, einer Zeit (sozusagen den Form gewordenen Zeitgeist) oder eben den "guten" Stil (also das unterliegende Regelwerk, das angeblich nur missachten darf, wer es in- und auswendig kennt). Stil ist individuelle Haltung, die sich nicht nur den Anforderungen einer Gegenwart entgegenwirft, sondern, unverfroren genug, dabei auch die einer komplizierten Vergangenheit und einer offenen Zukunft in Anspruch nimmt. Von da ist man natürlich schnell auf den sprach- und identitätspolitischen Schlacht- und Minenfeldern dieser Tage.
Maar, der sich hütet, sich festzulegen auf eine Definition, was "Stil" sein könnte, hat all das im Blick - das Sozial-Historische, zumal das Politische eher halbherzig. Er ist so frei, ein wenig aus der Zeit zu fallen und sich an die "Großen" zu halten, denn eine Abenteuergeschichte braucht Helden, auch fragwürdige, auch komische, strauchelnde. Maars Helden heißen unter anderem: Walter Benjamin, Rudolf Borchardt, Heimito von Doderer, Johann Wolfgang von Goethe, Franz Kafka, Thomas Mann, Martin Mosebach, Robert Musil, Friedrich Nietzsche, Marcel Proust, Joseph Roth, Arthur Schopenhauer, Rahel Varnhagen - eine ziemliche Männerriege, zumindest in prominenten Nebenrollen gibt es schillernde Frauengestalten: Marie von Ebner-Eschenbach, Marieluise Fleißer, Brigitte Kronauer, Christine Lavant. In regelmäßigen Slapstick-Einlagen: Stefan Zweig. Irgendwie schwierig, zwielichtig, doch das gehört ja auch zu einer guten Story: Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt. Die Namensreihe gibt bereits einen guten Eindruck vom literarischen Kosmos, in dem Maars Schatzsuche stattfindet. Es geht klassisch-modern zu. Die Grenzen sind, da es um Sprache geht, ziemlich dicht, immerhin Proust hat ein Schlupfloch gefunden.
Auch die Erzählerfigur, die unter anderem unter dem Titel "Stilkritiker" firmiert, ist dadurch schon recht gut konturiert, stellt sich aber vor allem im ersten Drittel des Buches bereitwillig vor. Auch wenn Maar ausdrücklich kein normatives Regelwerk eines literarisch "guten Stils" aufstellen will (so altmodisch mag er es dann doch nicht haben), schon gar keine literaturtheoretische oder -historische Ableitung von Stilbegriffen, führt er in den ersten drei Kapiteln doch eine ganze Reihe von "Instrumenten" des Stils vor, die zugleich dazu herhalten sollen, die zahlreich ausgebreiteten Beispiele kritisch abzuwägen und zu beurteilen. Und beurteilt wird viel in diesem Buch - in diversen Tonlagen, kollegial-anteilnehmend an guten "Einfällen", unvermeidlichen "Schrullen" und "stilistischen Missgriffen", mit zuckender "Lektorenhand" die "Fehler" unterkringelnd, streng-lehrerhaft, dann wieder amüsiert-gütig die "Kunstfehler" scannend.
So arbeitet er sich vor, vom Einzelwort, das sitzen muss, bis hin zur Figurenrede, die stilisiert, aber, bitte schön, dennoch lebendig und glaubwürdig sein soll. Maars Lieblingsbegriff stammt aus der klassischen Rhetorik - "Aptum", das Angemessene. Nichts gegen Extravaganz, aber bitte mit Maß. Nichts gegen Lautstärke, aber bitte nicht dauerhaft. Nichts gegen ausgefallene Worte, aber bitte nur, wenn es keine schlichten gibt, die dasselbe unaufdringlicher sagen. Nichts gegen überraschende Metaphern, nur ins Grübeln sollte man nicht kommen darüber. Natürlich nichts gegen Adjektive, aber doch bitte nur, wenn sie etwas erzählen, das man nicht eh schon wusste. Nichts - und so weiter. Wobei man angesichts solcher Mahnungen zusammenzucken mag, bei den Beispielen (ob abschreckend oder neidenswert) nickt man dann doch des Öfteren. Sie sind auch suggestiv aufbereitet.
Tatsächlich ist das die größte Stärke des Buchs: Maar versteht es, den Stil einer Autorin, eines Autors, eines Textes, eines Zitats mit wenigen Worten, ohne akademische Herleitungen, ohne Jargon zu charakterisieren. Das klingt dann zum Beispiel so: "Grünbein-typisch ist die Kreuzung des Bildungsschweren - Nymphen, Hesperiden-Saft und Sibyllen - mit der saloppen Formel ,Okay'; indirekt also die Schule Gottfried Benns. Rätselhaft das Namen-Zurückziehen, aber Gedichte dürfen enigmatisch sein. Die Adjektive sind etwas erwartbar; die Nymphe scheu, die Boutique kühl. Der Wald, den man vor schlanken Beinen nicht sieht, leuchtet ein; das Wild mit Gürteln, die den Blick doch kaum ablenken, schon weniger." Das sitzt, weil der Stilkritiker sein Material liebt, in guten wie in schlechten Sätzen. Dass er neben präzisen Skizzen dann und wann in mystifizierende Metaphorik abgleitet ("In der Chemie des Stils kommt es auf jedes Element an"), mag nur konsequent sein. Keine Liebesrede ohne Pathos.
Ebenso verständlich, doch auffällig ist, dass das Material zunehmend jedes so nachdrucksvoll eingeforderte Maß sprengt. Formal hat Maars Wälzer sechs Kapitel, inhaltlich besteht er aus drei Teilen: einer kleinen Stillehre, einer langen (zu langen?) Folge zitatreich angelegter Porträts von Prosastilisten mit einem knappen Nachklapp zur Lyrik, schließlich einer thematischen Beispielreihung, in der sich verschiedene Stilisten an einem denkbar schwierigen Thema beweisen sollen: Sex.
Tatsächlich aber gerät das Buch ab etwa Seite 170 zum Florilegium. Mal traut Maar seinem Material zu, seine stilistische Kraft ganz allein zu entfalten, und begnügt sich mit Connaisseur-Einwürfen ("stark", "stilistisch reizvoll"), mal pointiert er es sehr genau, dann wieder flicht er Anekdötchen und Literaturquizze ein, verwandelt sich stilistisch seinem jeweiligen Gegenstand an und versteckt das eine oder andere abgefeimte Easter Egg in der eignen Prosa ("Es ist ein Gedicht mit der Komik-Energie eines durchdrehenden Dynamos"). Unterhaltsam ist das zweifellos, aber auch ein bisschen ausufernd, additiv in seiner Begeisterung.
Die dann allerdings - und das ist keine schlechte Pointe - eine vorläufige Antwort liefern soll auf die vollmundig gestellte, dann links liegen gelassene Titelfrage nach dem "Geheimnis großer Literatur". Die Beispiele gelungenen Stils sollen gegen schlechten empfindlich, am besten überempfindlich machen (meinethalben, Empfindlichkeiten kann man nie genug haben). Aber das Straucheln, das Ungelenke auch "großer Stilisten" zu beobachten könne dann doch etwa vom Geheimnis offenlegen: dass nämlich Literatur nicht mehr ist als Wirklichkeit, sondern immer ein bisschen weniger. Stil ist eine Frage des Scheiterns und Scheitern eine Frage des Stils.
JAN-FREDERIK BANDEL
Michael Maar: "Die Schlange im Wolfspelz". Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 656 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In guten wie in schlechten Sätzen: Der Literaturkritiker Michael Maar fragt nach dem Geheimnis guten Stils und nimmt die großen Werke der Weltliteratur in seine Lektorenhand.
Ist es wirklich ein Abenteuerbuch, das der Literaturkritiker und -wissenschaftler Michael Maar da geschrieben hat? Die Geschichte einer Schatzsuche? Vom Einband blickt einem eine elegante junge Frau entgegen, ihr Blick, selbstbewusst, aber verträumt, trifft einen nicht direkt, die Linke liegt auf einem aufgeschlagenen Buch, das seltsam unscharf scheint (sind das verschwommene Zeilen, Bilder hinter Pergamentpapier?), die Rechte stützt nicht, wie man bei flüchtigem Blick vermuten könnte, den leseschwer gewordenen Kopf, sondern deutet eine Faust an - eine Drohgebärde? Dazu, farblich vornehm abgestimmt, der Titel: "Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur". Ein nur leicht aufdringlich mysteriöses Gemälde, ein kurios verrutschtes Sprachbild und ein Versprechen, so hochgegriffen, dass man dem Autor sofort zutraut, auf seine Einlösung souverän zu verzichten, zumindest diesen Schatz nicht jagen zu müssen. Welchen aber dann?
Den Begriff, um den das ganze Buch - immerhin 656 Seiten - aufgebaut ist, sucht man in dessen Titel vergebens: Stil. Ein altmodisches Wort, allerdings ist gewaltig Spannung drauf. Stil, das meint das höchst Individuelle eines (in diesem Falle: literarischen) Ausdrucks. Stil behauptet einen Gleichklang von Persönlichkeit und Form, was ziemlich vertrackt ist, nicht nur weil Gleichklang nicht leicht zu haben ist, sondern weil so eine Persönlichkeit ohnehin eine reichlich dissonante Angelegenheit darstellt. Stil bildet die Persönlichkeit nicht ab, er müht sich, sie zusammenzuhalten. Allerdings meint Stil zugleich gerade das Überindividuelle: den Stil einer Schule, einer Zeit (sozusagen den Form gewordenen Zeitgeist) oder eben den "guten" Stil (also das unterliegende Regelwerk, das angeblich nur missachten darf, wer es in- und auswendig kennt). Stil ist individuelle Haltung, die sich nicht nur den Anforderungen einer Gegenwart entgegenwirft, sondern, unverfroren genug, dabei auch die einer komplizierten Vergangenheit und einer offenen Zukunft in Anspruch nimmt. Von da ist man natürlich schnell auf den sprach- und identitätspolitischen Schlacht- und Minenfeldern dieser Tage.
Maar, der sich hütet, sich festzulegen auf eine Definition, was "Stil" sein könnte, hat all das im Blick - das Sozial-Historische, zumal das Politische eher halbherzig. Er ist so frei, ein wenig aus der Zeit zu fallen und sich an die "Großen" zu halten, denn eine Abenteuergeschichte braucht Helden, auch fragwürdige, auch komische, strauchelnde. Maars Helden heißen unter anderem: Walter Benjamin, Rudolf Borchardt, Heimito von Doderer, Johann Wolfgang von Goethe, Franz Kafka, Thomas Mann, Martin Mosebach, Robert Musil, Friedrich Nietzsche, Marcel Proust, Joseph Roth, Arthur Schopenhauer, Rahel Varnhagen - eine ziemliche Männerriege, zumindest in prominenten Nebenrollen gibt es schillernde Frauengestalten: Marie von Ebner-Eschenbach, Marieluise Fleißer, Brigitte Kronauer, Christine Lavant. In regelmäßigen Slapstick-Einlagen: Stefan Zweig. Irgendwie schwierig, zwielichtig, doch das gehört ja auch zu einer guten Story: Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt. Die Namensreihe gibt bereits einen guten Eindruck vom literarischen Kosmos, in dem Maars Schatzsuche stattfindet. Es geht klassisch-modern zu. Die Grenzen sind, da es um Sprache geht, ziemlich dicht, immerhin Proust hat ein Schlupfloch gefunden.
Auch die Erzählerfigur, die unter anderem unter dem Titel "Stilkritiker" firmiert, ist dadurch schon recht gut konturiert, stellt sich aber vor allem im ersten Drittel des Buches bereitwillig vor. Auch wenn Maar ausdrücklich kein normatives Regelwerk eines literarisch "guten Stils" aufstellen will (so altmodisch mag er es dann doch nicht haben), schon gar keine literaturtheoretische oder -historische Ableitung von Stilbegriffen, führt er in den ersten drei Kapiteln doch eine ganze Reihe von "Instrumenten" des Stils vor, die zugleich dazu herhalten sollen, die zahlreich ausgebreiteten Beispiele kritisch abzuwägen und zu beurteilen. Und beurteilt wird viel in diesem Buch - in diversen Tonlagen, kollegial-anteilnehmend an guten "Einfällen", unvermeidlichen "Schrullen" und "stilistischen Missgriffen", mit zuckender "Lektorenhand" die "Fehler" unterkringelnd, streng-lehrerhaft, dann wieder amüsiert-gütig die "Kunstfehler" scannend.
So arbeitet er sich vor, vom Einzelwort, das sitzen muss, bis hin zur Figurenrede, die stilisiert, aber, bitte schön, dennoch lebendig und glaubwürdig sein soll. Maars Lieblingsbegriff stammt aus der klassischen Rhetorik - "Aptum", das Angemessene. Nichts gegen Extravaganz, aber bitte mit Maß. Nichts gegen Lautstärke, aber bitte nicht dauerhaft. Nichts gegen ausgefallene Worte, aber bitte nur, wenn es keine schlichten gibt, die dasselbe unaufdringlicher sagen. Nichts gegen überraschende Metaphern, nur ins Grübeln sollte man nicht kommen darüber. Natürlich nichts gegen Adjektive, aber doch bitte nur, wenn sie etwas erzählen, das man nicht eh schon wusste. Nichts - und so weiter. Wobei man angesichts solcher Mahnungen zusammenzucken mag, bei den Beispielen (ob abschreckend oder neidenswert) nickt man dann doch des Öfteren. Sie sind auch suggestiv aufbereitet.
Tatsächlich ist das die größte Stärke des Buchs: Maar versteht es, den Stil einer Autorin, eines Autors, eines Textes, eines Zitats mit wenigen Worten, ohne akademische Herleitungen, ohne Jargon zu charakterisieren. Das klingt dann zum Beispiel so: "Grünbein-typisch ist die Kreuzung des Bildungsschweren - Nymphen, Hesperiden-Saft und Sibyllen - mit der saloppen Formel ,Okay'; indirekt also die Schule Gottfried Benns. Rätselhaft das Namen-Zurückziehen, aber Gedichte dürfen enigmatisch sein. Die Adjektive sind etwas erwartbar; die Nymphe scheu, die Boutique kühl. Der Wald, den man vor schlanken Beinen nicht sieht, leuchtet ein; das Wild mit Gürteln, die den Blick doch kaum ablenken, schon weniger." Das sitzt, weil der Stilkritiker sein Material liebt, in guten wie in schlechten Sätzen. Dass er neben präzisen Skizzen dann und wann in mystifizierende Metaphorik abgleitet ("In der Chemie des Stils kommt es auf jedes Element an"), mag nur konsequent sein. Keine Liebesrede ohne Pathos.
Ebenso verständlich, doch auffällig ist, dass das Material zunehmend jedes so nachdrucksvoll eingeforderte Maß sprengt. Formal hat Maars Wälzer sechs Kapitel, inhaltlich besteht er aus drei Teilen: einer kleinen Stillehre, einer langen (zu langen?) Folge zitatreich angelegter Porträts von Prosastilisten mit einem knappen Nachklapp zur Lyrik, schließlich einer thematischen Beispielreihung, in der sich verschiedene Stilisten an einem denkbar schwierigen Thema beweisen sollen: Sex.
Tatsächlich aber gerät das Buch ab etwa Seite 170 zum Florilegium. Mal traut Maar seinem Material zu, seine stilistische Kraft ganz allein zu entfalten, und begnügt sich mit Connaisseur-Einwürfen ("stark", "stilistisch reizvoll"), mal pointiert er es sehr genau, dann wieder flicht er Anekdötchen und Literaturquizze ein, verwandelt sich stilistisch seinem jeweiligen Gegenstand an und versteckt das eine oder andere abgefeimte Easter Egg in der eignen Prosa ("Es ist ein Gedicht mit der Komik-Energie eines durchdrehenden Dynamos"). Unterhaltsam ist das zweifellos, aber auch ein bisschen ausufernd, additiv in seiner Begeisterung.
Die dann allerdings - und das ist keine schlechte Pointe - eine vorläufige Antwort liefern soll auf die vollmundig gestellte, dann links liegen gelassene Titelfrage nach dem "Geheimnis großer Literatur". Die Beispiele gelungenen Stils sollen gegen schlechten empfindlich, am besten überempfindlich machen (meinethalben, Empfindlichkeiten kann man nie genug haben). Aber das Straucheln, das Ungelenke auch "großer Stilisten" zu beobachten könne dann doch etwa vom Geheimnis offenlegen: dass nämlich Literatur nicht mehr ist als Wirklichkeit, sondern immer ein bisschen weniger. Stil ist eine Frage des Scheiterns und Scheitern eine Frage des Stils.
JAN-FREDERIK BANDEL
Michael Maar: "Die Schlange im Wolfspelz". Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 656 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wirklich toll ... eine Art von spielerischer, vergnüglicher und bildender Literaturgeschichte. Axel Hacke Brief aus dem Büro (Axel Hacke) 20230301
Flache Hierarchie auf dem Olymp
Wie ein Schreibworkshop mit den ganz Großen: Michael Maars Essayband
„Die Schlange im Wolfspelz“ zeigt ihn als passionierten Stilkritiker
VON HILMAR KLUTE
Wenn spätere Epochen einmal das Phantombild des nahezu vollkommenen Lesers zusammenpixeln sollen, dann wird dieses Porträt dem Schriftsteller und Literaturkenner Michael Maar täuschend ähnlich sein. Michael Maar ist der Mann, der die Tiefen des „Zauberbergs“, die Verstrebungen der „Strudlhofstiege“ und die Erinnerungsräume der Proust’schen Recherche immer wieder neu besichtigt und ausgemessen hat. Für Maar bedeutet Lektüre nicht, einen Roman zu lesen und diesen auf seine Tauglichkeit hin zu prüfen. Maar beobachtet Bücher, wie ein Zoologe eine Tierart beobachtet. Er weiß nämlich, dass ein Roman aus Organen und Nerven besteht, aus genetischem Material, das sich möglicherweise, so oder verändert, in früheren oder späteren Arbeiten dieses oder eines anderen Autors wiederfinden lässt.
Eine Reihe von Textsammlungen und größeren Essaybänden zu Marcel Proust, Vladimir Nabokov und Thomas Mann begründet den Ruhm des Literaturforschers Michael Maar. Mag sein, dass der nun erschienene umfangreiche Versuch über das Geheimnis großer Literatur die anderen Maar-Bücher überragt, weil in ihm das gelungen ist, was clevere Verlage immer wieder von originellen Romanverführern behaupten, nämlich den Roman zum Roman geschrieben zu haben. „Die Schlange im Wolfspelz“ nennt Maar seinen Versuch über das Geheimnis des literarischen Stils nach einer Wendung aus einem Roman der Schriftstellerin Eva Menasse.
Es wird darin fein säuberlich mit dem blitzenden Besteck des Humors und der Ironie gearbeitet, das ist bei einem philologischen Großunternehmen wie diesem hier auch notwendig. Denn die Schlange in der Studienratcordjacke lauert ja immer dort, wo Texte auf Fehler und Unsauberkeiten hin abgeklopft werden. Aber Maar lässt auf keiner Seite, in keinem seiner peniblen Kommentare die Großmut des Liebhabers vermissen, dem in Brigitte Kronauers Satz „Mir, die man ins Bett gesperrt hatte, entgeht kein Wort“ natürlich der Bezugsfehler nicht entgeht. Klingt der Satz nicht trotzdem schön? Selbstverständlich tut er das, und Maar, der Essayist mit dem Talent des Aphoristikers, weiß und gibt an den Leser weiter: „Überhaupt sind Fehler nicht schlimm. Phrasen sind schlimm.“
Dieses Buch lebt von einer besonderen Gabe, Michael Maar versteht es nämlich, Autoren lebendig zu porträtieren, ohne große biografische Bögen zu beschreiben. Was für ein kluger, gewitzter Aufklärer Johann Peter Hebel gewesen ist, zeigt Maar mit ein paar Proben aus einem wunderschönen Text des alemannischen Miniaturisten über Vogelarten. Die ganze kindliche Verzweiflung des armen Karl Philipp Moritz bricht an der Stelle auf, wo sein tapferer Anton Reiser das „blinde Verhängnis“ herbeiführt, indem er mit dem Hammer ein Massaker unter soldatisch aufgestellten Kirschkernen anrichtet.
In dieser Literaturgeschichte kann man großen Autoren bei der Arbeit zuschauen. Die Idee ist fabelhaft, einen freundlichen Schreibworkshop aufzumachen, an dem zum Glück keine Bachmannpreis-Anwärterinnen teilnehmen, sondern Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, Jean Paul, Regina Ullmann. Und man staunt, wie Robert Walser seine zunächst konventionelle Naturbeschreibung im nächsten Moment ins leicht Schräge dreht und vom Summen schreibt, das sich „beinahe“ blau anhört oder ansieht.
Wir begegnen bei Michael Maar allen großen und mittelgroßen Gestalten der deutschen Literatur von Goethe und Herder bis Eckhard Henscheid und Ulrich Becher. Maar setzt auf eine flache Hierarchie in seinem literarischen Olymp, denn es gelten hier vor allem die Gesetze des Stils und der erzählerischen Geschicklichkeit. Und es geht darum, stilistische Qualitäten ins Verhältnis zu setzen: Wie lässt Heimito von Doderer seinen Helden Donald Clayton in den „Dämonen“ zum Wasserfall gelangen, und wie macht es Thomas Manns Peeperkorn im „Zauberberg“? Maar stellt den Dichtern Aufgaben, und lesend schaut man zu, wie sie diese lösen. Und was für ein kühner und zauberhafter Einfall ist es, sich auszumalen, wie Hemingway eine Stelle aus Josephs Roths Roman „Hiob“ lektorieren würde: alle Adjektive raus! Und, liest es sich besser? Nein, Maar gibt Entwarnung: Roth hat alles richtig gemacht. Manchmal zittert man regelrecht mit den Prüflingen, mögen sie Roth, Doderer, Lernet-Holenia oder Goethe heißen, der mit der Figurenrede seiner „Wahlverwandtschaften“ dann leider doch durchfällt.
Ja, die Schadenfreude vermag der unbestechliche Michael Maar beim Leser durchaus zu wecken, wenn er zeigt, was schlechte Autorinnen (Marlene Streeruwitz) von guten (Anna Seghers) unterscheidet, nämlich die Unfähigkeit, Stil und Inhalt zusammenzuhalten. Gedanke, Klang, Rhythmus und Begriff sind die Bausteine einer guten Prosa. Wenn alles zusammengeht, entsteht bedeutende Literatur. Deshalb lässt Michael Maar auch die „künstliche Trennung“ von Inhalt und Stil nicht zu. Das eine, sagt er, ist ohne das andere nicht zu haben.
Natürlich starrt man einem philologischen Zucht- und Zaubermeister wie Maar allzu genau auf die Finger und mäkelt beflissen: Nein, Rilke ist nicht wie Kafka „furchtbar jung an Tuberkulose gestorben“, sondern mit 51 an Leukämie. Und wenn Maar Penthesilea „ein geheimnisvoll-zugespitztestes Drama Kleists“ nennt oder von „manchen Autoren wie Martin Amis“ schreibt, dann fällt die eine und andere Ungeschicklichkeit nur deshalb auf, weil ansonsten alles so tadellos sitzt an diesem flüssigen, unterhaltsamen Essay-Stil. In seiner aphoristischen Kunst kann Maar mit Karl Kraus Schritt halten, es gelingt ihm mit manchem Bonmot sogar ein Zugewinn an philologischer Erkenntnis: „Adorno-Schüler erkennt man stilistisch auf den ersten Blick, nicht anders als die durch den Nieselregen Lacans Gestapften.“
Michael Maar ist mit seinem erstaunlichen Buch durch den Ozean der deutschsprachigen Literatur gesegelt und lässt keinen Zweifel daran, dass es Wale, Haie, aber auch ganz reizvollen Beifang gibt. Und wenn es auf dem Kreuzfahrtschiff der Weltliteraten einen Topmodel-Wettbewerb geben sollte, hat ihn wohl Thomas Mann, knapp vor Kafka, gewonnen. Oder ist Heimito von Doderer der heimliche Favorit, weil ihm, anders als Mann, die Neigung zum Kunstgewerbe völlig abgeht? Natürlich atmet man erleichtert aus, wenn Maar bekennt, „daß es ihm unmöglich ist, das Werk Hanns Henny Jahns in toto oder auch nur in längeren Kapiteln zu lesen“.
Und ja, warum nicht zur Abwechslung auch Thomas Bernhard, der so vielen eine verpasst hat, eine verpassen und seine Sätze „als die letztlich verhockten und vermufften Bösartigkeits-Sermone“ zu verabschieden? Wie bitte, für die Prosa Hildegard Knefs gibt Maar Christa Wolfs „Kassandra“ her? Die Textstellen über die Wucht des Krieges im „Geschenkten Gaul“ rechtfertigen das Sakrileg. Michael Maars Essay ist eine Feier des literarischen Tons und eine heimliche Kriegserklärung an die bräsige Kanon-Kultur. Die literarische Größe eines Romans behaupten – das kann jeder Bücherschwätzer. Der redliche Leser Michael Maar beweist oder verneint sie am jeweiligen Text. Wer sein Buch liest und danach etwas anderes vorhat im Leben, als nur zu lesen, der ist wirklich verloren.
„Überhaupt sind Fehler
nicht schlimm. Phrasen
sind schlimm.“
Warum nicht auch
mal Thomas Bernhard
eine verpassen?
Der Literaturkritiker und Essayist Michael Maar, geboren 1960 als Sohn des Kinderbuchautors Paul und der Familientherapeutin Nele Maar.
Foto: Isolde Ohlbaum
Michael Maar:
Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer
Literatur. Rowohlt Verlag,
Hamburg 2020.
655 Seiten, 34 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie ein Schreibworkshop mit den ganz Großen: Michael Maars Essayband
„Die Schlange im Wolfspelz“ zeigt ihn als passionierten Stilkritiker
VON HILMAR KLUTE
Wenn spätere Epochen einmal das Phantombild des nahezu vollkommenen Lesers zusammenpixeln sollen, dann wird dieses Porträt dem Schriftsteller und Literaturkenner Michael Maar täuschend ähnlich sein. Michael Maar ist der Mann, der die Tiefen des „Zauberbergs“, die Verstrebungen der „Strudlhofstiege“ und die Erinnerungsräume der Proust’schen Recherche immer wieder neu besichtigt und ausgemessen hat. Für Maar bedeutet Lektüre nicht, einen Roman zu lesen und diesen auf seine Tauglichkeit hin zu prüfen. Maar beobachtet Bücher, wie ein Zoologe eine Tierart beobachtet. Er weiß nämlich, dass ein Roman aus Organen und Nerven besteht, aus genetischem Material, das sich möglicherweise, so oder verändert, in früheren oder späteren Arbeiten dieses oder eines anderen Autors wiederfinden lässt.
Eine Reihe von Textsammlungen und größeren Essaybänden zu Marcel Proust, Vladimir Nabokov und Thomas Mann begründet den Ruhm des Literaturforschers Michael Maar. Mag sein, dass der nun erschienene umfangreiche Versuch über das Geheimnis großer Literatur die anderen Maar-Bücher überragt, weil in ihm das gelungen ist, was clevere Verlage immer wieder von originellen Romanverführern behaupten, nämlich den Roman zum Roman geschrieben zu haben. „Die Schlange im Wolfspelz“ nennt Maar seinen Versuch über das Geheimnis des literarischen Stils nach einer Wendung aus einem Roman der Schriftstellerin Eva Menasse.
Es wird darin fein säuberlich mit dem blitzenden Besteck des Humors und der Ironie gearbeitet, das ist bei einem philologischen Großunternehmen wie diesem hier auch notwendig. Denn die Schlange in der Studienratcordjacke lauert ja immer dort, wo Texte auf Fehler und Unsauberkeiten hin abgeklopft werden. Aber Maar lässt auf keiner Seite, in keinem seiner peniblen Kommentare die Großmut des Liebhabers vermissen, dem in Brigitte Kronauers Satz „Mir, die man ins Bett gesperrt hatte, entgeht kein Wort“ natürlich der Bezugsfehler nicht entgeht. Klingt der Satz nicht trotzdem schön? Selbstverständlich tut er das, und Maar, der Essayist mit dem Talent des Aphoristikers, weiß und gibt an den Leser weiter: „Überhaupt sind Fehler nicht schlimm. Phrasen sind schlimm.“
Dieses Buch lebt von einer besonderen Gabe, Michael Maar versteht es nämlich, Autoren lebendig zu porträtieren, ohne große biografische Bögen zu beschreiben. Was für ein kluger, gewitzter Aufklärer Johann Peter Hebel gewesen ist, zeigt Maar mit ein paar Proben aus einem wunderschönen Text des alemannischen Miniaturisten über Vogelarten. Die ganze kindliche Verzweiflung des armen Karl Philipp Moritz bricht an der Stelle auf, wo sein tapferer Anton Reiser das „blinde Verhängnis“ herbeiführt, indem er mit dem Hammer ein Massaker unter soldatisch aufgestellten Kirschkernen anrichtet.
In dieser Literaturgeschichte kann man großen Autoren bei der Arbeit zuschauen. Die Idee ist fabelhaft, einen freundlichen Schreibworkshop aufzumachen, an dem zum Glück keine Bachmannpreis-Anwärterinnen teilnehmen, sondern Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, Jean Paul, Regina Ullmann. Und man staunt, wie Robert Walser seine zunächst konventionelle Naturbeschreibung im nächsten Moment ins leicht Schräge dreht und vom Summen schreibt, das sich „beinahe“ blau anhört oder ansieht.
Wir begegnen bei Michael Maar allen großen und mittelgroßen Gestalten der deutschen Literatur von Goethe und Herder bis Eckhard Henscheid und Ulrich Becher. Maar setzt auf eine flache Hierarchie in seinem literarischen Olymp, denn es gelten hier vor allem die Gesetze des Stils und der erzählerischen Geschicklichkeit. Und es geht darum, stilistische Qualitäten ins Verhältnis zu setzen: Wie lässt Heimito von Doderer seinen Helden Donald Clayton in den „Dämonen“ zum Wasserfall gelangen, und wie macht es Thomas Manns Peeperkorn im „Zauberberg“? Maar stellt den Dichtern Aufgaben, und lesend schaut man zu, wie sie diese lösen. Und was für ein kühner und zauberhafter Einfall ist es, sich auszumalen, wie Hemingway eine Stelle aus Josephs Roths Roman „Hiob“ lektorieren würde: alle Adjektive raus! Und, liest es sich besser? Nein, Maar gibt Entwarnung: Roth hat alles richtig gemacht. Manchmal zittert man regelrecht mit den Prüflingen, mögen sie Roth, Doderer, Lernet-Holenia oder Goethe heißen, der mit der Figurenrede seiner „Wahlverwandtschaften“ dann leider doch durchfällt.
Ja, die Schadenfreude vermag der unbestechliche Michael Maar beim Leser durchaus zu wecken, wenn er zeigt, was schlechte Autorinnen (Marlene Streeruwitz) von guten (Anna Seghers) unterscheidet, nämlich die Unfähigkeit, Stil und Inhalt zusammenzuhalten. Gedanke, Klang, Rhythmus und Begriff sind die Bausteine einer guten Prosa. Wenn alles zusammengeht, entsteht bedeutende Literatur. Deshalb lässt Michael Maar auch die „künstliche Trennung“ von Inhalt und Stil nicht zu. Das eine, sagt er, ist ohne das andere nicht zu haben.
Natürlich starrt man einem philologischen Zucht- und Zaubermeister wie Maar allzu genau auf die Finger und mäkelt beflissen: Nein, Rilke ist nicht wie Kafka „furchtbar jung an Tuberkulose gestorben“, sondern mit 51 an Leukämie. Und wenn Maar Penthesilea „ein geheimnisvoll-zugespitztestes Drama Kleists“ nennt oder von „manchen Autoren wie Martin Amis“ schreibt, dann fällt die eine und andere Ungeschicklichkeit nur deshalb auf, weil ansonsten alles so tadellos sitzt an diesem flüssigen, unterhaltsamen Essay-Stil. In seiner aphoristischen Kunst kann Maar mit Karl Kraus Schritt halten, es gelingt ihm mit manchem Bonmot sogar ein Zugewinn an philologischer Erkenntnis: „Adorno-Schüler erkennt man stilistisch auf den ersten Blick, nicht anders als die durch den Nieselregen Lacans Gestapften.“
Michael Maar ist mit seinem erstaunlichen Buch durch den Ozean der deutschsprachigen Literatur gesegelt und lässt keinen Zweifel daran, dass es Wale, Haie, aber auch ganz reizvollen Beifang gibt. Und wenn es auf dem Kreuzfahrtschiff der Weltliteraten einen Topmodel-Wettbewerb geben sollte, hat ihn wohl Thomas Mann, knapp vor Kafka, gewonnen. Oder ist Heimito von Doderer der heimliche Favorit, weil ihm, anders als Mann, die Neigung zum Kunstgewerbe völlig abgeht? Natürlich atmet man erleichtert aus, wenn Maar bekennt, „daß es ihm unmöglich ist, das Werk Hanns Henny Jahns in toto oder auch nur in längeren Kapiteln zu lesen“.
Und ja, warum nicht zur Abwechslung auch Thomas Bernhard, der so vielen eine verpasst hat, eine verpassen und seine Sätze „als die letztlich verhockten und vermufften Bösartigkeits-Sermone“ zu verabschieden? Wie bitte, für die Prosa Hildegard Knefs gibt Maar Christa Wolfs „Kassandra“ her? Die Textstellen über die Wucht des Krieges im „Geschenkten Gaul“ rechtfertigen das Sakrileg. Michael Maars Essay ist eine Feier des literarischen Tons und eine heimliche Kriegserklärung an die bräsige Kanon-Kultur. Die literarische Größe eines Romans behaupten – das kann jeder Bücherschwätzer. Der redliche Leser Michael Maar beweist oder verneint sie am jeweiligen Text. Wer sein Buch liest und danach etwas anderes vorhat im Leben, als nur zu lesen, der ist wirklich verloren.
„Überhaupt sind Fehler
nicht schlimm. Phrasen
sind schlimm.“
Warum nicht auch
mal Thomas Bernhard
eine verpassen?
Der Literaturkritiker und Essayist Michael Maar, geboren 1960 als Sohn des Kinderbuchautors Paul und der Familientherapeutin Nele Maar.
Foto: Isolde Ohlbaum
Michael Maar:
Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer
Literatur. Rowohlt Verlag,
Hamburg 2020.
655 Seiten, 34 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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