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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Auch ein Weg, die Erbsünde auf Distanz zu bringen: Peter Schäfer vergleicht Erzählungen von der Weltschöpfung und folgt ihren Wirkungsgeschichten
Die Frage nach dem Ende bewegt manche in diesen Zeitläuften. Protestbewegungen wie "Extinction Rebellion" oder die "Letzte Generation" artikulieren, was auch wissenschaftliche Studien, Romane und Filme nahelegen: die Angst vor dem finalen Untergang der Menschengattung, ja sogar vor dem Ende des Lebens auf diesem Planeten. Die Frage nach dem Ende inspiriert allerdings auch Untersuchungen der Anfänge. In den vergangenen Jahren sind einige Bücher über die Anfänge menschlicher Kulturen erschienen, und nun hat der Judaist und ehemalige Direktor des Jüdischen Museums Berlin eine vergleichende Darstellung von Mythen der Weltschöpfung vorgelegt.
Der Vergleich bezieht sich allerdings, wie der Untertitel klarmacht, auf die westlichen Traditionen, also auf die Schöpfungsgeschichten der Torah, der altorientalischen Epen, der antiken griechischen und römischen Philosophie sowie auf die rabbinischen Auslegungen der Schöpfungstheologie. Das Buch wendet sich an ein breites Publikum, und insofern ist nicht verwunderlich, dass manche Details bereits gut bekannt sind, etwa die unkommentierte Aneinanderreihung von zwei Schöpfungserzählungen im Buch Genesis, die auf verschiedene Traditionen und Verfasser zurückgeführt werden: Der erste Bericht schildert die einzelnen, in sechs Tage gegliederten Etappen der Schöpfung, der zweite das Paradies und die Erschaffung des Menschen, den Rat der Schlange, "klüger ('arum) als alles Getier des Feldes", und die Vertreibung aus dem Garten Eden. Schäfer betont, dass in der hebräischen Bibel keine "creatio ex nihilo", keine Schöpfung aus dem Nichts, imaginiert wird.
Mithilfe ausgewählter Übersetzungen, die ausführlich zitiert werden, verknüpft der Autor die jeweiligen Schöpfungsgeschichten mit ihrer Rezeptionsgeschichte. So wird die Brücke zu den altorientalischen Texten, insbesondere den Sintflut- Erzählungen im Atrachasis- und Gilgamesch-Epos, auch durch die Erinnerung an den Babel-Bibel-Streit im Wilhelminischen Kaiserreich geschlagen. Dieser Streit ging aus von einem Vortrag, den der Assyriologe Friedrich Delitzsch 1902 vor der Deutschen Orient-Gesellschaft in Berlin gehalten hatte; er mündete in antijüdische und zunehmend antisemitische Debatten. Vermutlich war es dieser Zusammenhang, der Schäfer zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den altorientalischen Epen und zum Vergleich mit der hebräischen Bibel bewegte, während er auf eine Darstellung der altägyptischen Schöpfungsmythen ganz verzichtet, und zwar mit dem Argument, dass sie keine prägenden Einflüsse auf das "westliche" Denken ausgeübt haben. Dasselbe Argument könnte jedoch gegen die Deutungen des Gilgamesch-Epos zur Geltung gebracht werden, dessen erste Fragmente ja erst 1853 entdeckt und 1872 übersetzt wurden.
Das folgende Kapitel befasst sich mit der platonischen Kosmologie des "Timaios" und der Figur des Demiurgen. Kritisch resümiert werden darin die Schwierigkeiten und Widersprüche, in die sich Platon bei seinem Versuch verstrickt, Philosophie und Mythos zu vereinen. Ein kürzeres Kapitel widmet sich danach der Philosophie des Aristoteles vom "unbewegten Beweger"; allerdings habe der Stagirit keine eigene Kosmologie verfasst, sondern vielmehr - so Schäfer - die platonische Kosmotheologie dekonstruiert. Im fünften Kapitel steht der "jüdische Platoniker" Philon im Mittelpunkt, vor allem dessen Traktat "Über die Weltschöpfung" und die Einwände gegen die aristotelische Behauptung der Ewigkeit der Welt: Erschaffen wurde nach Philon sowohl die Welt der Ideen (kosmos noetos) als auch die sinnlich wahrnehmbare, irdische Welt (kosmos aisthetos).
Das folgende Kapitel thematisiert die "Natur ohne Götter", die materialistischen Welterklärungen von Demokrit, Epikur und Lukrez, die einen endlosen Reigen der Konfiguration von Urelementen, Atomen und Formen postulieren, doch weder einen Schöpfungsakt noch die Unsterblichkeit der menschlichen Seele.
Die wesentlichen Pointen seiner instruktiven Untersuchung entfaltet Peter Schäfer in den letzten beiden Kapiteln und in einem Epilog. Darin geht es um die jüdisch-rabbinische und christliche Auslegung der zweiten Schöpfungserzählung im Buch Genesis. Während die christliche Tradition auf den "Sündenfall" fokussierte und - spätestens seit Augustinus und dessen Streit mit dem Mönch Pelagius - die "Erbsünde", betonten die rabbinischen Schriften stets die Klugheit der Schlange, der die Menschen nicht nur die Erkenntnis des Guten und Bösen verdanken, sondern auch die Willensfreiheit, die Entscheidung für Gut oder Böse.
Es falle schwer, so Schäfer, "den eigensinnigen Gedankengängen" des Kirchenlehrers Augustinus zu folgen, "ohne versucht zu sein, Partei für Pelagius zu ergreifen", der die "tödliche Lawine" einer sich stets weiter akkumulierenden "Sündenlast" vergangener Generationen ablehnte, die "mit aller Wucht auch die neugeborenen Kinder" treffe. Wie lebendig die Erbsündenlehre noch in der Philosophie der Aufklärung - bei Kant, Schiller oder Fichte - war, schildert der Epilog, der zu einer luziden Kritik an Carl Schmitts "politischer Theologie" führt.
Die theologische Bewertung des "Sündenfalls" und der "Erbschuld" Adams bildet nach Peter Schäfer einen Paradigmenwechsel, eine wesentliche Bruchlinie zwischen jüdischer und christlicher Tradition. Noch im nachbiblischen Judentum, so argumentiert Schäfer bereits in seiner Einleitung, "spielt die angebliche Ursünde keineswegs die Rolle, die christliche Exegeten ihr zugestehen wollen", denn sowohl "die jüdische Weisheitsliteratur als auch die jüdische Apokalyptik führen die biblische Linie der von Gott gewollten und wesentlich zum Menschen gehörenden Wahlfreiheit zwischen gut und böse, richtig und falsch fort und betonen, dass auch die falsche Entscheidung Teil des Menschseins ist, ohne den die Menschen Engel wären, was weder Gott noch die Menschen für erstrebenswert halten". Erst Kant habe - in seiner kleinen Abhandlung "Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" (1786) - eine Lektüre der Erzählung von der Erbsünde und der Vertreibung aus dem Paradies vorgelegt, die "mit einer bis dahin ganz undenkbaren Kühnheit" die augustinische Wende kritisiert, zugunsten einer "felix culpa", die nur mehr "felix" und nicht mehr "culpa" sei. THOMAS MACHO
Peter Schäfer: "Die Schlange war klug". Antike Schöpfungsmythen und die Grundlagen des westlichen Denkens.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 448 S., Abb., geb., 34,- Euro.
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