Eine »Zäsur in der Kirchengeschichte« – so bewertet der Historiker Thomas Großbölting den weltweiten sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. In diesem Buch zeichnet er die Geschichte von Betroffenen, Tätern und Vertuschern des Missbrauchsskandals nach und analysiert die fatalen kirchlichen Strukturen, die die Taten ermöglichten. Das Buch ist damit zweierlei: das Gesamtbild eines der erschütterndsten Kapitel der Kirchengeschichte und ein Anstoß für die Zukunft.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Schrörs hält das Buch des Zeithistorikers Thomas Großbölting nicht für das große Standardwerk zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Eine gut lesbare, informative Einführung in die Thematik aber bietet der Autor dennoch, versichert der Rezensent. Indem der Autor die Entwicklungen seit den Enthüllungen am Canisius-Kolleg 2010 aufzeigt, wenngleich "in Siebenmeilenstiefeln" vermag er Dynamiken und Formen des Missbrauchs in der katholischen Kirche zu analysieren und Chancen für die Aufarbeitung zu diskutieren, so Schrörs. Dass das Buch mit seinen vielen Beispielen aus Münster mitunter zur Regionalgeschichte wird, sieht der Rezensent kritisch. Das System des "Verschweigens und Vertuschens" in der katholischen Kirche aber wird für den Leser erschreckend deutlich, erklärt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2022„Seelenführung“
in den Abgrund
Thomas Großböltings scharfsinnige Analyse
über den Missbrauch in der katholischen Kirche
VON ANNETTE ZOCH
Es ist ein kleines laminiertes Stück Papier, das die Gemeinde erschüttert: „Auch wenn euer Pastor/ bei Euch viel gemacht hat, so ist und/Bleibt er ein Kinderschänder!!! Und ich bin ganz sicher nicht der einzige.“ Im Juni 2019 liegt plötzlich dieses Kärtchen auf dem Grabstein des 2011 verstorbenen Pfarrers Theodor Wehren in der Gemeinde Bocholt-Barlo im Westmünsterland. Wehren war ein allseits beliebter Priester, der eine Jugendfußballmannschaft trainierte, sich duzen ließ, nach dem sogar ein Spielplatz benannt wurde – und der ein verurteilter Missbrauchs-Intensivtäter war.
Als „Exempel“ für das Vertuschungssystem in der katholischen Kirche schildert Thomas Großbölting den Fall Wehren in seinem Buch „Die schuldigen Hirten“, das an diesem Montag veröffentlicht wird. Großbölting ist Historiker an der Universität Hamburg und zugleich Leiter eines fünfköpfigen Forschungsteams an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, das an diesem Montag die Missbrauchsstudie für das Bistum Münster vorstellt.
Anders als in München, Aachen, Köln und Berlin haben diesmal nicht Juristen das Gutachten geschrieben, sondern vier Neuzeithistoriker und eine Ethnologin. Während juristische Gutachten vor allem dazu dienen, die individuelle Verantwortlichkeit von Leitungspersonen festzuhalten, wollen die Historiker einen Schritt weiter gehen: Sie erforschen auch den sozialen, kulturellen und systemischen Kontext, der Missbrauch erst möglich machte. Diesen größeren historischen Rahmen spannt Großbölting begleitend zu der konkreten Studie für das Bistum Münster nun auch in seinem zeitgleich erscheinenden Buch auf.
Um Einzelfälle soll es nicht gehen, Priester Wehren ist deshalb konsequent der einzige, dessen Geschichte auch ausführlich analysiert wird. Nicht mit Blick auf persönliche Schuld von Leitungsverantwortlichen, sondern mit Blick auf die Lehren, die man daraus ziehen kann. Eine lautet: Missbrauch findet in Systemen statt, „die ihn entweder behindern oder begünstigen. Es gibt ebenso Mitwissende wie passive und aktiv Unterstützende“. „Bystanders“ nennt Großbölting diese Menschen an der Seitenlinie.
Im Fall Wehren lässt auch die Justiz erstaunliche Milde walten: Angeklagt wegen 17-fachen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger kommt der Priester im Jahr 1976 nur mit einem Jahr Freiheitsstrafe davon, dieses wird auf Bewährung ausgesetzt. Anschließend, so schreibt Großbölting unter Berufung auf Bistumsakten, bedankt sich der Generalvikar zu Weihnachten herzlich auch im Namen des damaligen Bischofs Tenhumberg beim Staatsanwalt für die „große Mühe“, die er sich mit Wehren gemacht habe.
Den Bistumsverantwortlichen ist die Verurteilung bekannt, nicht aber den Gemeinden, in denen Wehren nach dem Urteil weiterhin ganz ohne Auflagen tätig ist. Gleichwohl gibt es schon früh auch unter Gemeindemitgliedern Gerüchte und
Mutmaßungen. Man wundert sich über eigens eingerichtete Zimmer im Dachgeschoss des Pfarrhauses, man hört Gespräche mit. Und doch bedurfte es erst eines kleinen Zettels auf dem Friedhof,
Jahrzehnte später dort abgelegt, um eine breitere Diskussion über den Priester anzustoßen.
Wie sich die Sprechfähigkeit in der Gesellschaft zum sexuellen Missbrauch langsam geändert hat, das zeichnet Großbölting auf eindrückliche Weise nach. Nüchtern, aber zugleich schonungslos und mit großer Klarheit analysiert er, was den „katholischen Geschmack“ des Missbrauchs ausmacht: „Missbrauch war und ist keine Störung am Rande oder gar von außen, derer man sich leicht entledigen könnte, beispielsweise durch Prävention, Überwachungsmaßnahmen und Strafverschärfung“, schreibt der Historiker. „Missbrauch und das Potenzial dazu sind im Katholischen und seiner jetzigen Sozialgestalt tief verankert – theologisch, moralisch und praktisch-pastoral.“
Steckt der Missbrauch also wirklich in der DNA der katholischen Kirche, wie der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer einmal gesagt hat? Großbölting bringt den 1978 von Michel Foucault geprägten Begriff der Pastoralmacht ins Spiel, die Macht des Pastors also über seine Herde. In der katholischen Kirche äußert sich die Pastoralmacht spezifisch in der „Seelenführung“. Sie ist mehr als die geistliche Begleitung des Gläubigen auf seinem religiösen Weg durch den Priester. Sie setzt voraus, dass der Gläubige dem Priester sein Innerstes vollständig öffnet. Dies hat zwangsläufig ein Machtgefälle zur Folge, so Großbölting: „Während der eine jeglicher persönlichen Autonomie beraubt ist, wird der andere daraus resultierend in seiner Position signifikant überhöht.“ Dies ist der ideale Nährboden für spirituellen und auch sexuellen Missbrauch. Nicht selten geht dem sexuellen ein spiritueller Missbrauch voraus – erst langsam wird auch dieses Thema einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Seelenführung oder Pastoralmacht addiert mit Klerikalismus – diese Mischung ergibt offensichtlich die perfekte „Täterideologie“, wie Großbölting es nennt. Für ihn ist Klerikalismus weit mehr als ein von Standesdünkel geprägtes priesterliches Closed-Shop-System. Das Weihesakrament werde schließlich als Handeln Gottes selbst verstanden. Gott selbst versehe bei der Weihe den Priester mit einem Prägemal, das durch den Menschen nicht wieder ausgelöscht werden könne – nicht einmal durch eine schwere Sünde. Großbölting erklärt, wie es kirchenhistorisch zu dieser Rolle des Priesters kam, die nach Ansicht zahlreicher Exegeten vom biblisch überlieferten Jesus überhaupt nicht vorgesehen war. Und warum diese spezielle Rolle die besondere Dimension des katholischen Missbrauchs bedingt.
Denn im katholischen Verständnis fungiere der Priester als zentraler Mittler zwischen Gott und den Menschen. Anders als die Kirchen der Reformation, die die Verkündung des Wortes in den Mittelpunkt stellen, verstehe sich die katholische Kirche als eine sakramentale Kirche – sprich, zentral sind die Heilszeichen, in denen sich Gott vermittelt. Nicht nur Taufe, Firmung, Eucharistie, Beichte und Ehe seien Sakramente – nein, die gesamte Kirche werde als Sakrament verstanden, die wiederum vom Priester selbst personifiziert wird. Auch von jenen Hirten also, die in so vielen tausend Fällen schuldig geworden sind.
Und deshalb ist der Missbrauch nicht nur eine weitere Verfehlung in der an Verfehlungen nicht armen Geschichte in der katholischen Kirche. Nein, der Missbrauch rührt viel tiefer, er rührt an die Fundamente. Er hat das Potenzial, „diese Weltdeutung und das von ihr getragene System von Grund auf in Frage zu stellen“.
Der Historiker sieht das Übel
in der Pastoralmacht der Pfarrer
über ihre Gläubigen
Die spezielle Rolle des Priesters
bedingt die besondere Dimension
des Missbrauchs
Thomas Großbölting:
Die schuldigen Hirten.
Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der
katholischen Kirche.
Herder-Verlag, Freiburg 2022. 288 Seiten, 24 Euro.
Es geht um mehr als nichts sehen, nichts hören und nichts sagen: Demo auf dem Münchner Marienplatz.
Foto: Catherina Hess
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in den Abgrund
Thomas Großböltings scharfsinnige Analyse
über den Missbrauch in der katholischen Kirche
VON ANNETTE ZOCH
Es ist ein kleines laminiertes Stück Papier, das die Gemeinde erschüttert: „Auch wenn euer Pastor/ bei Euch viel gemacht hat, so ist und/Bleibt er ein Kinderschänder!!! Und ich bin ganz sicher nicht der einzige.“ Im Juni 2019 liegt plötzlich dieses Kärtchen auf dem Grabstein des 2011 verstorbenen Pfarrers Theodor Wehren in der Gemeinde Bocholt-Barlo im Westmünsterland. Wehren war ein allseits beliebter Priester, der eine Jugendfußballmannschaft trainierte, sich duzen ließ, nach dem sogar ein Spielplatz benannt wurde – und der ein verurteilter Missbrauchs-Intensivtäter war.
Als „Exempel“ für das Vertuschungssystem in der katholischen Kirche schildert Thomas Großbölting den Fall Wehren in seinem Buch „Die schuldigen Hirten“, das an diesem Montag veröffentlicht wird. Großbölting ist Historiker an der Universität Hamburg und zugleich Leiter eines fünfköpfigen Forschungsteams an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, das an diesem Montag die Missbrauchsstudie für das Bistum Münster vorstellt.
Anders als in München, Aachen, Köln und Berlin haben diesmal nicht Juristen das Gutachten geschrieben, sondern vier Neuzeithistoriker und eine Ethnologin. Während juristische Gutachten vor allem dazu dienen, die individuelle Verantwortlichkeit von Leitungspersonen festzuhalten, wollen die Historiker einen Schritt weiter gehen: Sie erforschen auch den sozialen, kulturellen und systemischen Kontext, der Missbrauch erst möglich machte. Diesen größeren historischen Rahmen spannt Großbölting begleitend zu der konkreten Studie für das Bistum Münster nun auch in seinem zeitgleich erscheinenden Buch auf.
Um Einzelfälle soll es nicht gehen, Priester Wehren ist deshalb konsequent der einzige, dessen Geschichte auch ausführlich analysiert wird. Nicht mit Blick auf persönliche Schuld von Leitungsverantwortlichen, sondern mit Blick auf die Lehren, die man daraus ziehen kann. Eine lautet: Missbrauch findet in Systemen statt, „die ihn entweder behindern oder begünstigen. Es gibt ebenso Mitwissende wie passive und aktiv Unterstützende“. „Bystanders“ nennt Großbölting diese Menschen an der Seitenlinie.
Im Fall Wehren lässt auch die Justiz erstaunliche Milde walten: Angeklagt wegen 17-fachen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger kommt der Priester im Jahr 1976 nur mit einem Jahr Freiheitsstrafe davon, dieses wird auf Bewährung ausgesetzt. Anschließend, so schreibt Großbölting unter Berufung auf Bistumsakten, bedankt sich der Generalvikar zu Weihnachten herzlich auch im Namen des damaligen Bischofs Tenhumberg beim Staatsanwalt für die „große Mühe“, die er sich mit Wehren gemacht habe.
Den Bistumsverantwortlichen ist die Verurteilung bekannt, nicht aber den Gemeinden, in denen Wehren nach dem Urteil weiterhin ganz ohne Auflagen tätig ist. Gleichwohl gibt es schon früh auch unter Gemeindemitgliedern Gerüchte und
Mutmaßungen. Man wundert sich über eigens eingerichtete Zimmer im Dachgeschoss des Pfarrhauses, man hört Gespräche mit. Und doch bedurfte es erst eines kleinen Zettels auf dem Friedhof,
Jahrzehnte später dort abgelegt, um eine breitere Diskussion über den Priester anzustoßen.
Wie sich die Sprechfähigkeit in der Gesellschaft zum sexuellen Missbrauch langsam geändert hat, das zeichnet Großbölting auf eindrückliche Weise nach. Nüchtern, aber zugleich schonungslos und mit großer Klarheit analysiert er, was den „katholischen Geschmack“ des Missbrauchs ausmacht: „Missbrauch war und ist keine Störung am Rande oder gar von außen, derer man sich leicht entledigen könnte, beispielsweise durch Prävention, Überwachungsmaßnahmen und Strafverschärfung“, schreibt der Historiker. „Missbrauch und das Potenzial dazu sind im Katholischen und seiner jetzigen Sozialgestalt tief verankert – theologisch, moralisch und praktisch-pastoral.“
Steckt der Missbrauch also wirklich in der DNA der katholischen Kirche, wie der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer einmal gesagt hat? Großbölting bringt den 1978 von Michel Foucault geprägten Begriff der Pastoralmacht ins Spiel, die Macht des Pastors also über seine Herde. In der katholischen Kirche äußert sich die Pastoralmacht spezifisch in der „Seelenführung“. Sie ist mehr als die geistliche Begleitung des Gläubigen auf seinem religiösen Weg durch den Priester. Sie setzt voraus, dass der Gläubige dem Priester sein Innerstes vollständig öffnet. Dies hat zwangsläufig ein Machtgefälle zur Folge, so Großbölting: „Während der eine jeglicher persönlichen Autonomie beraubt ist, wird der andere daraus resultierend in seiner Position signifikant überhöht.“ Dies ist der ideale Nährboden für spirituellen und auch sexuellen Missbrauch. Nicht selten geht dem sexuellen ein spiritueller Missbrauch voraus – erst langsam wird auch dieses Thema einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Seelenführung oder Pastoralmacht addiert mit Klerikalismus – diese Mischung ergibt offensichtlich die perfekte „Täterideologie“, wie Großbölting es nennt. Für ihn ist Klerikalismus weit mehr als ein von Standesdünkel geprägtes priesterliches Closed-Shop-System. Das Weihesakrament werde schließlich als Handeln Gottes selbst verstanden. Gott selbst versehe bei der Weihe den Priester mit einem Prägemal, das durch den Menschen nicht wieder ausgelöscht werden könne – nicht einmal durch eine schwere Sünde. Großbölting erklärt, wie es kirchenhistorisch zu dieser Rolle des Priesters kam, die nach Ansicht zahlreicher Exegeten vom biblisch überlieferten Jesus überhaupt nicht vorgesehen war. Und warum diese spezielle Rolle die besondere Dimension des katholischen Missbrauchs bedingt.
Denn im katholischen Verständnis fungiere der Priester als zentraler Mittler zwischen Gott und den Menschen. Anders als die Kirchen der Reformation, die die Verkündung des Wortes in den Mittelpunkt stellen, verstehe sich die katholische Kirche als eine sakramentale Kirche – sprich, zentral sind die Heilszeichen, in denen sich Gott vermittelt. Nicht nur Taufe, Firmung, Eucharistie, Beichte und Ehe seien Sakramente – nein, die gesamte Kirche werde als Sakrament verstanden, die wiederum vom Priester selbst personifiziert wird. Auch von jenen Hirten also, die in so vielen tausend Fällen schuldig geworden sind.
Und deshalb ist der Missbrauch nicht nur eine weitere Verfehlung in der an Verfehlungen nicht armen Geschichte in der katholischen Kirche. Nein, der Missbrauch rührt viel tiefer, er rührt an die Fundamente. Er hat das Potenzial, „diese Weltdeutung und das von ihr getragene System von Grund auf in Frage zu stellen“.
Der Historiker sieht das Übel
in der Pastoralmacht der Pfarrer
über ihre Gläubigen
Die spezielle Rolle des Priesters
bedingt die besondere Dimension
des Missbrauchs
Thomas Großbölting:
Die schuldigen Hirten.
Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der
katholischen Kirche.
Herder-Verlag, Freiburg 2022. 288 Seiten, 24 Euro.
Es geht um mehr als nichts sehen, nichts hören und nichts sagen: Demo auf dem Münchner Marienplatz.
Foto: Catherina Hess
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2022Das große, erschütternde Ganze
Für den Zeithistoriker Thomas Großbölting ist der Missbrauch tief im Katholischen verankert.
Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche gleicht einem nicht enden wollenden Strom erschütternder Nachrichten. Seit mehr als zehn Jahren wächst die Zahl der Enthüllungen, Studien und auch der misslungenen Versuche der Aufarbeitung. Der Zeithistoriker Thomas Großbölting setzt alles in einen Zusammenhang - in seinem Buch "Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche" erinnert er an die relevanten Entwicklungen und führt den Leser in das katholische Soziotop ein, in dem der Missbrauch möglich wurde. Er trägt Erkenntnisse aus zahlreichen Zeitungsartikeln, Berichten Betroffener, eigener Forschung sowie medizinischen, psychotherapeutischen, kriminalistischen und theologischen Studien zusammen.
Grundsätzlich nimmt Großbölting, der die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg leitet und an der dortigen Universität Professor für Zeitgeschichte ist, eine zeithistorische Perspektive ein. "Wer mit dem Blick in die Vergangenheit herleitet, was seit 2010 öffentlich diskutiert wird, der kann leicht erkennen, dass Missbrauch weder als eine Momentaufnahme noch allein als eine Tat einer kleinen, sich verfehlenden Minderheit abgetan werden kann", schreibt er. Missbrauch und das Potential dazu sind ihm zufolge im Katholischen und seiner jetzigen Sozialgestalt tief verankert - theologisch, politisch und praktisch-pastoral.
Der Begründungspflicht, die ein solches Urteil nach sich zieht, will Großbölting in den nachfolgenden Kapiteln nachkommen. Zunächst nimmt er eine Begriffsbestimmung sexuellen Missbrauchs vor und geht auf den Täterschutz durch Verschweigen ein. Das nächste Kapitel verspricht einen Überblick über Qualität und Chronologie des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Was allerdings folgt, ist ein Gang durch die Geschichte in Siebenmeilenstiefeln, nicht eine minutiöse Chronologie. Ausgangspunkt ist die Enthüllung am Canisius-Kolleg 2010, der Blick zurück reicht bis zur Antike. So alt das Phänomen ist, so jung ist die öffentliche Debatte darüber, dass es sich bei der Vertuschung sexuellen Missbrauchs um ein Strukturproblem der katholischen Kirche handelt. Zuerst stellte sich diese Einsicht in Irland und den Vereinigten Staaten ein, wo der Missbrauch viel früher als in Deutschland ans Licht kam.
Im dritten und mit gut 70 Seiten längsten Kapitel beschreibt Großbölting Formen und Dynamiken des Missbrauchs in der katholischen Kirche und geht auf die Schuld der Bischöfe ein. Die Analyse der Bedeutung des katholischen Kontextes mündet im vierten Kapitel in der Frage nach der Kirche als Tätersystem, wobei die Abgrenzung der beiden Kapitel nicht deutlich wird. Abschließend entwickelt Großbölting Perspektiven für die Aufarbeitung. Er zeichnet zwar die großen Linien nach, macht zugleich aber auch das Abstrakte immer wieder konkret, oft an Beispielen aus dem Bistum Münster. Das ist einerseits verdienstvoll, weil so die Schicksale hinter den Zahlen deutlich werden. Andererseits gibt das dem Buch ein regionalgeschichtliches Kolorit, das den Anspruch, eine Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche vorzulegen, konterkariert. Das Buch steht in engem Zusammenhang mit einer im Juni vorgelegten Studie zum Missbrauch im Bistum Münster, die Großbölting geleitet hat.
Eingehend schildert Großbölting etwa den Fall Theo Wehren. Der 2011 verstorbene Priester war in Bocholt-Barlo über seinen Tod hinaus hoch angesehen. Erst durch einen anonymen Hinweis aus dem Jahr 2019, in dem er als Kinderschänder bezeichnet wurde, erfuhr die Öffentlichkeit von einer anderen Seite des Priesters. Aus einem Gerichtsurteil von 1976 geht hervor, dass Wehren in mindestens 17 Fällen minderjährige Kinder und in drei Fällen ihm anvertraute Schutzbefohlene sexuell missbraucht hatte. Dennoch wurde er nach dem Urteil weiter in der Pfarrseelsorge eingesetzt. In der Gemeinde wurde das nie offiziell thematisiert. Die weiteren Wendungen und offenen Fragen schildert Großbölting ausführlich. Den Umgang des Bistums mit Wehren bringt ein Zitat aus einem Brief des Personalchefs an Wehren auf den Punkt, der in den Siebzigern kurz vor der Erhebung der Anklage verfasst wurde: "Bitte gehen Sie fest davon aus, daß wir Sie auf keinen Fall im Stich lassen."
Nach Großbölting zeigt sich an der historischen Rekonstruktion dieses Falls, wie schwierig eine exakte Ermittlung von Zusammenhängen und Zahlen ist, wie wenig Aufmerksamkeit den Betroffenen damals zuteil wurde und dass es sich bei Missbrauch um ein "äußerst dynamisches und sozial weitreichendes Phänomen handelt". Missbrauch finde in einem breiteren sozialen Kontext statt. Das Fragmentarische mag auch seinen Teil dazu beitragen, dass Schilderungen Großböltings stellenweise nicht stringent wirken.
Ein bemerkenswerter Zusammenhang, auf den Großbölting hinweist, ist dieser: Der grundlegende Mechanismus, der Missbrauch möglich macht, sei das Verheimlichen und Beschweigen. Wenn ein Fünftel bis ein Drittel des Klerus wegen homosexueller Neigung die sexualmoralischen Vorgaben der Kirche nicht erfülle, wenn zusätzlich eine kaum einschätzbare, aber nicht kleine Zahl von Zölibatären in anderen Beziehungen lebe und liebe, entstehe "ein katholisches Soziotop des Verschweigens und Vertuschens". Dass in den engen Kreisen der Priester alle voneinander wissen, schaffe ein Band der Verlässlichkeit, aber auch der Abhängigkeit und der Prekarität dieser sozialen Verhältnisse. Jederzeit sei es möglich, den missliebigen Mitbruder zu denunzieren. "Es entsteht eine Parallelwelt aus Verschwiegenheit, Verlogenheit und Verdrängung", schreibt Großbölting. "Es ist diese Bigotterie und Doppelbödigkeit, die dann pädosexuellen Tätern zustattenkommt: In diesem Spiel des Verheimlichens und des Druckaufbauens können sie in besonderer und besonders effektiver Weise agieren."
Ein Standardwerk über die Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche muss erst noch geschrieben werden. Zumindest liegt nun aber eine hilfreiche Einführung in grundlegende Fragen und Zusammenhänge vor und ein gefälliges Repetitorium für jene, die die Wendungen und Weiterungen der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche verfolgen. TOBIAS SCHRÖRS
Thomas Großbölting: Die schuldigen Hirten.
Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche.
Herder-Verlag, Freiburg 2022. 288 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für den Zeithistoriker Thomas Großbölting ist der Missbrauch tief im Katholischen verankert.
Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche gleicht einem nicht enden wollenden Strom erschütternder Nachrichten. Seit mehr als zehn Jahren wächst die Zahl der Enthüllungen, Studien und auch der misslungenen Versuche der Aufarbeitung. Der Zeithistoriker Thomas Großbölting setzt alles in einen Zusammenhang - in seinem Buch "Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche" erinnert er an die relevanten Entwicklungen und führt den Leser in das katholische Soziotop ein, in dem der Missbrauch möglich wurde. Er trägt Erkenntnisse aus zahlreichen Zeitungsartikeln, Berichten Betroffener, eigener Forschung sowie medizinischen, psychotherapeutischen, kriminalistischen und theologischen Studien zusammen.
Grundsätzlich nimmt Großbölting, der die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg leitet und an der dortigen Universität Professor für Zeitgeschichte ist, eine zeithistorische Perspektive ein. "Wer mit dem Blick in die Vergangenheit herleitet, was seit 2010 öffentlich diskutiert wird, der kann leicht erkennen, dass Missbrauch weder als eine Momentaufnahme noch allein als eine Tat einer kleinen, sich verfehlenden Minderheit abgetan werden kann", schreibt er. Missbrauch und das Potential dazu sind ihm zufolge im Katholischen und seiner jetzigen Sozialgestalt tief verankert - theologisch, politisch und praktisch-pastoral.
Der Begründungspflicht, die ein solches Urteil nach sich zieht, will Großbölting in den nachfolgenden Kapiteln nachkommen. Zunächst nimmt er eine Begriffsbestimmung sexuellen Missbrauchs vor und geht auf den Täterschutz durch Verschweigen ein. Das nächste Kapitel verspricht einen Überblick über Qualität und Chronologie des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Was allerdings folgt, ist ein Gang durch die Geschichte in Siebenmeilenstiefeln, nicht eine minutiöse Chronologie. Ausgangspunkt ist die Enthüllung am Canisius-Kolleg 2010, der Blick zurück reicht bis zur Antike. So alt das Phänomen ist, so jung ist die öffentliche Debatte darüber, dass es sich bei der Vertuschung sexuellen Missbrauchs um ein Strukturproblem der katholischen Kirche handelt. Zuerst stellte sich diese Einsicht in Irland und den Vereinigten Staaten ein, wo der Missbrauch viel früher als in Deutschland ans Licht kam.
Im dritten und mit gut 70 Seiten längsten Kapitel beschreibt Großbölting Formen und Dynamiken des Missbrauchs in der katholischen Kirche und geht auf die Schuld der Bischöfe ein. Die Analyse der Bedeutung des katholischen Kontextes mündet im vierten Kapitel in der Frage nach der Kirche als Tätersystem, wobei die Abgrenzung der beiden Kapitel nicht deutlich wird. Abschließend entwickelt Großbölting Perspektiven für die Aufarbeitung. Er zeichnet zwar die großen Linien nach, macht zugleich aber auch das Abstrakte immer wieder konkret, oft an Beispielen aus dem Bistum Münster. Das ist einerseits verdienstvoll, weil so die Schicksale hinter den Zahlen deutlich werden. Andererseits gibt das dem Buch ein regionalgeschichtliches Kolorit, das den Anspruch, eine Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche vorzulegen, konterkariert. Das Buch steht in engem Zusammenhang mit einer im Juni vorgelegten Studie zum Missbrauch im Bistum Münster, die Großbölting geleitet hat.
Eingehend schildert Großbölting etwa den Fall Theo Wehren. Der 2011 verstorbene Priester war in Bocholt-Barlo über seinen Tod hinaus hoch angesehen. Erst durch einen anonymen Hinweis aus dem Jahr 2019, in dem er als Kinderschänder bezeichnet wurde, erfuhr die Öffentlichkeit von einer anderen Seite des Priesters. Aus einem Gerichtsurteil von 1976 geht hervor, dass Wehren in mindestens 17 Fällen minderjährige Kinder und in drei Fällen ihm anvertraute Schutzbefohlene sexuell missbraucht hatte. Dennoch wurde er nach dem Urteil weiter in der Pfarrseelsorge eingesetzt. In der Gemeinde wurde das nie offiziell thematisiert. Die weiteren Wendungen und offenen Fragen schildert Großbölting ausführlich. Den Umgang des Bistums mit Wehren bringt ein Zitat aus einem Brief des Personalchefs an Wehren auf den Punkt, der in den Siebzigern kurz vor der Erhebung der Anklage verfasst wurde: "Bitte gehen Sie fest davon aus, daß wir Sie auf keinen Fall im Stich lassen."
Nach Großbölting zeigt sich an der historischen Rekonstruktion dieses Falls, wie schwierig eine exakte Ermittlung von Zusammenhängen und Zahlen ist, wie wenig Aufmerksamkeit den Betroffenen damals zuteil wurde und dass es sich bei Missbrauch um ein "äußerst dynamisches und sozial weitreichendes Phänomen handelt". Missbrauch finde in einem breiteren sozialen Kontext statt. Das Fragmentarische mag auch seinen Teil dazu beitragen, dass Schilderungen Großböltings stellenweise nicht stringent wirken.
Ein bemerkenswerter Zusammenhang, auf den Großbölting hinweist, ist dieser: Der grundlegende Mechanismus, der Missbrauch möglich macht, sei das Verheimlichen und Beschweigen. Wenn ein Fünftel bis ein Drittel des Klerus wegen homosexueller Neigung die sexualmoralischen Vorgaben der Kirche nicht erfülle, wenn zusätzlich eine kaum einschätzbare, aber nicht kleine Zahl von Zölibatären in anderen Beziehungen lebe und liebe, entstehe "ein katholisches Soziotop des Verschweigens und Vertuschens". Dass in den engen Kreisen der Priester alle voneinander wissen, schaffe ein Band der Verlässlichkeit, aber auch der Abhängigkeit und der Prekarität dieser sozialen Verhältnisse. Jederzeit sei es möglich, den missliebigen Mitbruder zu denunzieren. "Es entsteht eine Parallelwelt aus Verschwiegenheit, Verlogenheit und Verdrängung", schreibt Großbölting. "Es ist diese Bigotterie und Doppelbödigkeit, die dann pädosexuellen Tätern zustattenkommt: In diesem Spiel des Verheimlichens und des Druckaufbauens können sie in besonderer und besonders effektiver Weise agieren."
Ein Standardwerk über die Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche muss erst noch geschrieben werden. Zumindest liegt nun aber eine hilfreiche Einführung in grundlegende Fragen und Zusammenhänge vor und ein gefälliges Repetitorium für jene, die die Wendungen und Weiterungen der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche verfolgen. TOBIAS SCHRÖRS
Thomas Großbölting: Die schuldigen Hirten.
Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche.
Herder-Verlag, Freiburg 2022. 288 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
[...] eine hilfreiche Einführung in grundlegende Fragen und Zusammenhänge [...] Tobias Schrörs FAZ 20220920