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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Für den Zeithistoriker Thomas Großbölting ist der Missbrauch tief im Katholischen verankert.
Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche gleicht einem nicht enden wollenden Strom erschütternder Nachrichten. Seit mehr als zehn Jahren wächst die Zahl der Enthüllungen, Studien und auch der misslungenen Versuche der Aufarbeitung. Der Zeithistoriker Thomas Großbölting setzt alles in einen Zusammenhang - in seinem Buch "Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche" erinnert er an die relevanten Entwicklungen und führt den Leser in das katholische Soziotop ein, in dem der Missbrauch möglich wurde. Er trägt Erkenntnisse aus zahlreichen Zeitungsartikeln, Berichten Betroffener, eigener Forschung sowie medizinischen, psychotherapeutischen, kriminalistischen und theologischen Studien zusammen.
Grundsätzlich nimmt Großbölting, der die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg leitet und an der dortigen Universität Professor für Zeitgeschichte ist, eine zeithistorische Perspektive ein. "Wer mit dem Blick in die Vergangenheit herleitet, was seit 2010 öffentlich diskutiert wird, der kann leicht erkennen, dass Missbrauch weder als eine Momentaufnahme noch allein als eine Tat einer kleinen, sich verfehlenden Minderheit abgetan werden kann", schreibt er. Missbrauch und das Potential dazu sind ihm zufolge im Katholischen und seiner jetzigen Sozialgestalt tief verankert - theologisch, politisch und praktisch-pastoral.
Der Begründungspflicht, die ein solches Urteil nach sich zieht, will Großbölting in den nachfolgenden Kapiteln nachkommen. Zunächst nimmt er eine Begriffsbestimmung sexuellen Missbrauchs vor und geht auf den Täterschutz durch Verschweigen ein. Das nächste Kapitel verspricht einen Überblick über Qualität und Chronologie des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Was allerdings folgt, ist ein Gang durch die Geschichte in Siebenmeilenstiefeln, nicht eine minutiöse Chronologie. Ausgangspunkt ist die Enthüllung am Canisius-Kolleg 2010, der Blick zurück reicht bis zur Antike. So alt das Phänomen ist, so jung ist die öffentliche Debatte darüber, dass es sich bei der Vertuschung sexuellen Missbrauchs um ein Strukturproblem der katholischen Kirche handelt. Zuerst stellte sich diese Einsicht in Irland und den Vereinigten Staaten ein, wo der Missbrauch viel früher als in Deutschland ans Licht kam.
Im dritten und mit gut 70 Seiten längsten Kapitel beschreibt Großbölting Formen und Dynamiken des Missbrauchs in der katholischen Kirche und geht auf die Schuld der Bischöfe ein. Die Analyse der Bedeutung des katholischen Kontextes mündet im vierten Kapitel in der Frage nach der Kirche als Tätersystem, wobei die Abgrenzung der beiden Kapitel nicht deutlich wird. Abschließend entwickelt Großbölting Perspektiven für die Aufarbeitung. Er zeichnet zwar die großen Linien nach, macht zugleich aber auch das Abstrakte immer wieder konkret, oft an Beispielen aus dem Bistum Münster. Das ist einerseits verdienstvoll, weil so die Schicksale hinter den Zahlen deutlich werden. Andererseits gibt das dem Buch ein regionalgeschichtliches Kolorit, das den Anspruch, eine Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche vorzulegen, konterkariert. Das Buch steht in engem Zusammenhang mit einer im Juni vorgelegten Studie zum Missbrauch im Bistum Münster, die Großbölting geleitet hat.
Eingehend schildert Großbölting etwa den Fall Theo Wehren. Der 2011 verstorbene Priester war in Bocholt-Barlo über seinen Tod hinaus hoch angesehen. Erst durch einen anonymen Hinweis aus dem Jahr 2019, in dem er als Kinderschänder bezeichnet wurde, erfuhr die Öffentlichkeit von einer anderen Seite des Priesters. Aus einem Gerichtsurteil von 1976 geht hervor, dass Wehren in mindestens 17 Fällen minderjährige Kinder und in drei Fällen ihm anvertraute Schutzbefohlene sexuell missbraucht hatte. Dennoch wurde er nach dem Urteil weiter in der Pfarrseelsorge eingesetzt. In der Gemeinde wurde das nie offiziell thematisiert. Die weiteren Wendungen und offenen Fragen schildert Großbölting ausführlich. Den Umgang des Bistums mit Wehren bringt ein Zitat aus einem Brief des Personalchefs an Wehren auf den Punkt, der in den Siebzigern kurz vor der Erhebung der Anklage verfasst wurde: "Bitte gehen Sie fest davon aus, daß wir Sie auf keinen Fall im Stich lassen."
Nach Großbölting zeigt sich an der historischen Rekonstruktion dieses Falls, wie schwierig eine exakte Ermittlung von Zusammenhängen und Zahlen ist, wie wenig Aufmerksamkeit den Betroffenen damals zuteil wurde und dass es sich bei Missbrauch um ein "äußerst dynamisches und sozial weitreichendes Phänomen handelt". Missbrauch finde in einem breiteren sozialen Kontext statt. Das Fragmentarische mag auch seinen Teil dazu beitragen, dass Schilderungen Großböltings stellenweise nicht stringent wirken.
Ein bemerkenswerter Zusammenhang, auf den Großbölting hinweist, ist dieser: Der grundlegende Mechanismus, der Missbrauch möglich macht, sei das Verheimlichen und Beschweigen. Wenn ein Fünftel bis ein Drittel des Klerus wegen homosexueller Neigung die sexualmoralischen Vorgaben der Kirche nicht erfülle, wenn zusätzlich eine kaum einschätzbare, aber nicht kleine Zahl von Zölibatären in anderen Beziehungen lebe und liebe, entstehe "ein katholisches Soziotop des Verschweigens und Vertuschens". Dass in den engen Kreisen der Priester alle voneinander wissen, schaffe ein Band der Verlässlichkeit, aber auch der Abhängigkeit und der Prekarität dieser sozialen Verhältnisse. Jederzeit sei es möglich, den missliebigen Mitbruder zu denunzieren. "Es entsteht eine Parallelwelt aus Verschwiegenheit, Verlogenheit und Verdrängung", schreibt Großbölting. "Es ist diese Bigotterie und Doppelbödigkeit, die dann pädosexuellen Tätern zustattenkommt: In diesem Spiel des Verheimlichens und des Druckaufbauens können sie in besonderer und besonders effektiver Weise agieren."
Ein Standardwerk über die Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche muss erst noch geschrieben werden. Zumindest liegt nun aber eine hilfreiche Einführung in grundlegende Fragen und Zusammenhänge vor und ein gefälliges Repetitorium für jene, die die Wendungen und Weiterungen der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche verfolgen. TOBIAS SCHRÖRS
Thomas Großbölting: Die schuldigen Hirten.
Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche.
Herder-Verlag, Freiburg 2022. 288 S., 24,- Euro.
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