Die Schweiz sucht ihre Rolle in Europa und der Welt nicht erst seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Mit dem schrittweisen Aufbau der Europäischen Union und dem Ende des Kalten Krieges (1989) hat sich die internationale Lage unseres Landes von Grund auf geändert. Die Schweiz muss sich überlegen, welche Haltung sie als Staat mitten in Europa einnimmt und wie sie sich nach dem Untergang der bipolaren Welt positioniert. In diesen Diskussionen spielt die Neutralität eine zentrale Rolle. Aus der Staatsmaxime ist ein nationales Identitätsmerkmal geworden. Woher kommt diese tiefe Verankerung in der Bevölkerung? Wie konnte die Neutralität die Identität des Landes dermassen prägen? Wie, wann und warum entstand sie? Und können aus der Vergangenheit Perspektiven für die Zukunft aufgezeigt werden? Der Blick auf 400 Jahre Neutralitätsgeschichte gibt Antworten auf diese Fragen. 50 Jahre nach dem monumentalen Werk von Edgar Bonjour (1965–1970) legt der Historiker Marco Jorio eine neue Gesamtdarstellung zum Thema auf der Basis der Forschungen der letzten Jahrzehnte vor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2023Helvetische Werte auf dem Prüfstand
Mit Blick auf aktuelle Debatten: Marco Jorio rollt die lange Geschichte der Schweizer Neutralität auf
Seit Russland die Ukraine überfallen hat, streitet die neutrale Schweiz um die Neutralität. Politexperten und Realpolitikerinnen fordern den Bundesrat auf, für die Ukraine Partei zu ergreifen und sie militärisch zu unterstützen; wer jetzt neutral bleibe, sei gerade nicht mehr neutral. Die Nationalkonservativen um ihren Übervater Christoph Blocher dagegen verlangen, dass die Schweiz sich aus dem Krieg heraushalte. Sie lancieren eine Volksinitiative, welche die strikte Neutralität in der Verfassung verankern soll. Die pazifistische Linke wiederum will die Neutralität mit dem Ausbau von humanitärer Hilfe und Vermittlungsdiplomatie stärken.
Mit perfektem Timing erscheint nun Marco Jorios große Geschichte der Schweizer Neutralität - die erste seit über einem halben Jahrhundert. Die Studie des ehemaligen Chefredakteurs des "Historischen Lexikons der Schweiz" zeigt zunächst vor allem eines: Das Land streitet immer wieder und schon lange um die Neutralität. Allein in den letzten hundert Jahren war abwechselnd von aktiver, passiver, integraler, differenzieller und kooperativer Neutralität die Rede.
Am Anfang aber war die Schweiz alles andere als neutral. Im fünfzehnten Jahrhundert fällt die republikanische Eidgenossenschaft durch ihre Aggressivität auf. Die kriegslustigen Soldaten und Söldner sind in ganz Europa gefürchtet. Zu Fuß schlagen sie mit ihren Langspießen wiederholt Ritterheere in die Flucht, was schließlich zu überheblichen Phantasien führt: Warum soll die kleine Republik nicht mitmischen im Konzert der Großen? Doch die mit neuen Feuerwaffen ausgerüsteten Heere der Monarchen erweisen sich zunehmend als überlegen, die Expansion ist bald keine Option mehr.
Die Katastrophe des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648) übersteht die Schweiz unbeschadet, weil sie sich aus den wechselnden Koalitionen heraushält. Nicht zuletzt verhindert sie so die Spaltung ihres Bundes, der inzwischen aus konkurrierenden Städten und Länderorten sowie verfeindeten Katholiken und Reformierten besteht. Noch während des Kriegs beschließt die Tagsatzung, das Leitungsorgan der Eidgenossen, dass keine Kriegspartei durch ihr Gebiet marschieren dürfe. Sie negiert die mittelalterliche Lehre des "gerechten Kriegs", wonach die neutrale Haltung unmoralisch ist. Die gerechte Sache ist selbstredend immer die eigene.
Damit datiert Jorio den Beginn der "immerwährenden und bewaffneten Neutralität" der Schweiz um rund fünfzig Jahre zurück. Am Ende des siebzehnten Jahrhunderts respektieren die Höfe von Wien und Paris die Neutralität offiziell. Sie liegt auch im Interesse der Großmächte. Der Neutrale schlägt sich nicht auf die Seite des Feindes, und die helvetische Pufferzone schützt die eigenen Grenzen. Auch dies zeigt das Buch: Die Neutralität funktioniert nur so lange, wie die anderen Staaten sie als gültig ansehen. Und nie verstummen die Stimmen, die dem Neutralen Trittbrettfahren und Profitmaximierung vorwerfen.
Um 1800 wäre die Schweiz unter der Eroberung durch Napoleons Revolutionsarmee und dem Druck innerer Konflikte fast zerfallen, doch die Großmächte planen am Wiener Kongress 1815 weiterhin mit dem nützlichen Staatenbund. Dieser erhält sogar die völkerrechtliche Anerkennung seiner Neutralität. Jorio betont, die Schweiz habe ihre Neutralität selbst gewählt, sie sei ihr nicht auferlegt worden.
1848 schafft die Eidgenossenschaft als einzige Nation Europas den Sprung in die Moderne, indem sie sich nach kurzem Bürgerkrieg in einen demokratischen Bundesstaat verwandelt, der umgeben ist von argwöhnischen Monarchien. In der Verfassung findet die Neutralität nur am Rand Erwähnung, sie wird jedoch umso eifriger proklamiert und praktiziert. Die dominanten Wirtschaftsliberalen realisieren schnell, dass die Neutralität guten Geschäften dienlich ist. Die Radikalliberalen dagegen wollen die Neutralität aufgeben und den revoltierenden Völkern in Oberitalien und Süddeutschland bewaffnet zu Hilfe eilen.
Seither ist die Schweiz mit ihrer Neutralität ziemlich gut gefahren, auch weil sie immer wieder nicht neutrale Geschäftspolitik betreibt. In der Frühneuzeit verdienen Unternehmer an den Söldnern, im Zweiten Weltkrieg profitiert das Land von Waffenverkäufen an Nazideutschland, während es den Juden die Tür vor der Nase zuschlägt - im offenen Widerspruch zum Selbstverständnis, eine neutrale und erst noch humanitäre Nation zu sein. Die Vereinigten Staaten nennen die Schweiz den "aggressivsten Neutralen" in Europa. Umso mehr rührt sie nach dem Krieg die Werbetrommel für ihre "guten Dienste". Die Neutralität wird zur mittelalterlichen Tradition (Schlacht bei Marignano 1515) und zum Nationalmythos stilisiert, wie Jorio analysiert.
Heute steht die Schweiz wieder unter Druck. In Europa schwindet das Verständnis für eine Haltung, die als egoistisch angesehen wird. Dass die Neutralität mit dem modernen Völkerrecht und den Vereinten Nationen obsolet geworden sei, findet auch Jorio. Bissig mischt er im helvetischen Streit mit: Er zöge wohl den NATO-Beitritt vor, weiß jedoch, dass dieser am Volksmehr scheitern würde. Also fordert er die weitere Aufrüstung der Armee und die erleichterte Waffenausfuhr an Staaten, welche die "Werte" der Schweiz teilten; im Kriegsfall wären auch international anerkannte Opfer mit Waffen zu beliefern.
Etwas mehr Distanz zur Gegenwart hätten dem gut lesbaren, zuweilen etwas gar didaktischen Buch nicht geschadet, das den Neutralitätsfreunden aller Couleur die Leviten liest. Dieses Manko schmälert indes die Leistung des Autors nicht: So schnell, diese Lektion lässt sich aus der Geschichte ziehen, dürfte die Schweiz ihre wie auch immer geartete Neutralität nicht loswerden. URS HAFNER
Marco Jorio: "Die Schweiz und ihre Neutralität". Eine 400-jährige Geschichte.
Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2023. 480 S., Abb., geb., 49,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Blick auf aktuelle Debatten: Marco Jorio rollt die lange Geschichte der Schweizer Neutralität auf
Seit Russland die Ukraine überfallen hat, streitet die neutrale Schweiz um die Neutralität. Politexperten und Realpolitikerinnen fordern den Bundesrat auf, für die Ukraine Partei zu ergreifen und sie militärisch zu unterstützen; wer jetzt neutral bleibe, sei gerade nicht mehr neutral. Die Nationalkonservativen um ihren Übervater Christoph Blocher dagegen verlangen, dass die Schweiz sich aus dem Krieg heraushalte. Sie lancieren eine Volksinitiative, welche die strikte Neutralität in der Verfassung verankern soll. Die pazifistische Linke wiederum will die Neutralität mit dem Ausbau von humanitärer Hilfe und Vermittlungsdiplomatie stärken.
Mit perfektem Timing erscheint nun Marco Jorios große Geschichte der Schweizer Neutralität - die erste seit über einem halben Jahrhundert. Die Studie des ehemaligen Chefredakteurs des "Historischen Lexikons der Schweiz" zeigt zunächst vor allem eines: Das Land streitet immer wieder und schon lange um die Neutralität. Allein in den letzten hundert Jahren war abwechselnd von aktiver, passiver, integraler, differenzieller und kooperativer Neutralität die Rede.
Am Anfang aber war die Schweiz alles andere als neutral. Im fünfzehnten Jahrhundert fällt die republikanische Eidgenossenschaft durch ihre Aggressivität auf. Die kriegslustigen Soldaten und Söldner sind in ganz Europa gefürchtet. Zu Fuß schlagen sie mit ihren Langspießen wiederholt Ritterheere in die Flucht, was schließlich zu überheblichen Phantasien führt: Warum soll die kleine Republik nicht mitmischen im Konzert der Großen? Doch die mit neuen Feuerwaffen ausgerüsteten Heere der Monarchen erweisen sich zunehmend als überlegen, die Expansion ist bald keine Option mehr.
Die Katastrophe des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648) übersteht die Schweiz unbeschadet, weil sie sich aus den wechselnden Koalitionen heraushält. Nicht zuletzt verhindert sie so die Spaltung ihres Bundes, der inzwischen aus konkurrierenden Städten und Länderorten sowie verfeindeten Katholiken und Reformierten besteht. Noch während des Kriegs beschließt die Tagsatzung, das Leitungsorgan der Eidgenossen, dass keine Kriegspartei durch ihr Gebiet marschieren dürfe. Sie negiert die mittelalterliche Lehre des "gerechten Kriegs", wonach die neutrale Haltung unmoralisch ist. Die gerechte Sache ist selbstredend immer die eigene.
Damit datiert Jorio den Beginn der "immerwährenden und bewaffneten Neutralität" der Schweiz um rund fünfzig Jahre zurück. Am Ende des siebzehnten Jahrhunderts respektieren die Höfe von Wien und Paris die Neutralität offiziell. Sie liegt auch im Interesse der Großmächte. Der Neutrale schlägt sich nicht auf die Seite des Feindes, und die helvetische Pufferzone schützt die eigenen Grenzen. Auch dies zeigt das Buch: Die Neutralität funktioniert nur so lange, wie die anderen Staaten sie als gültig ansehen. Und nie verstummen die Stimmen, die dem Neutralen Trittbrettfahren und Profitmaximierung vorwerfen.
Um 1800 wäre die Schweiz unter der Eroberung durch Napoleons Revolutionsarmee und dem Druck innerer Konflikte fast zerfallen, doch die Großmächte planen am Wiener Kongress 1815 weiterhin mit dem nützlichen Staatenbund. Dieser erhält sogar die völkerrechtliche Anerkennung seiner Neutralität. Jorio betont, die Schweiz habe ihre Neutralität selbst gewählt, sie sei ihr nicht auferlegt worden.
1848 schafft die Eidgenossenschaft als einzige Nation Europas den Sprung in die Moderne, indem sie sich nach kurzem Bürgerkrieg in einen demokratischen Bundesstaat verwandelt, der umgeben ist von argwöhnischen Monarchien. In der Verfassung findet die Neutralität nur am Rand Erwähnung, sie wird jedoch umso eifriger proklamiert und praktiziert. Die dominanten Wirtschaftsliberalen realisieren schnell, dass die Neutralität guten Geschäften dienlich ist. Die Radikalliberalen dagegen wollen die Neutralität aufgeben und den revoltierenden Völkern in Oberitalien und Süddeutschland bewaffnet zu Hilfe eilen.
Seither ist die Schweiz mit ihrer Neutralität ziemlich gut gefahren, auch weil sie immer wieder nicht neutrale Geschäftspolitik betreibt. In der Frühneuzeit verdienen Unternehmer an den Söldnern, im Zweiten Weltkrieg profitiert das Land von Waffenverkäufen an Nazideutschland, während es den Juden die Tür vor der Nase zuschlägt - im offenen Widerspruch zum Selbstverständnis, eine neutrale und erst noch humanitäre Nation zu sein. Die Vereinigten Staaten nennen die Schweiz den "aggressivsten Neutralen" in Europa. Umso mehr rührt sie nach dem Krieg die Werbetrommel für ihre "guten Dienste". Die Neutralität wird zur mittelalterlichen Tradition (Schlacht bei Marignano 1515) und zum Nationalmythos stilisiert, wie Jorio analysiert.
Heute steht die Schweiz wieder unter Druck. In Europa schwindet das Verständnis für eine Haltung, die als egoistisch angesehen wird. Dass die Neutralität mit dem modernen Völkerrecht und den Vereinten Nationen obsolet geworden sei, findet auch Jorio. Bissig mischt er im helvetischen Streit mit: Er zöge wohl den NATO-Beitritt vor, weiß jedoch, dass dieser am Volksmehr scheitern würde. Also fordert er die weitere Aufrüstung der Armee und die erleichterte Waffenausfuhr an Staaten, welche die "Werte" der Schweiz teilten; im Kriegsfall wären auch international anerkannte Opfer mit Waffen zu beliefern.
Etwas mehr Distanz zur Gegenwart hätten dem gut lesbaren, zuweilen etwas gar didaktischen Buch nicht geschadet, das den Neutralitätsfreunden aller Couleur die Leviten liest. Dieses Manko schmälert indes die Leistung des Autors nicht: So schnell, diese Lektion lässt sich aus der Geschichte ziehen, dürfte die Schweiz ihre wie auch immer geartete Neutralität nicht loswerden. URS HAFNER
Marco Jorio: "Die Schweiz und ihre Neutralität". Eine 400-jährige Geschichte.
Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2023. 480 S., Abb., geb., 49,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Urs Hafner anerkennt die Leistung des Autors Marco Jorio. Wie Jorio in seinem Geschichtsbuch dem Leser das Ringen um die Schweizer Neutralität historisch aufblättert und analysiert, erscheint Hafner gut lesbar und nur manchmal etwas allzu didaktisch. Wenn der Autor die Facetten der Neutralität, ihre durchaus nicht immer stichhaltige Moral und die Konflikte um sie seit dem Dreißigjährigen Krieg vorstellt, lernt Hafner allerhand. Und er fragt sich, was noch am "Nationalmythos" dran ist in diesen kriegerischen Zeiten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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