»Die Seilspringerin« ist ein Roman über Kunst und Liebe, Schaffen und Mutterschaft, und erzählt ein menschliches Leben in seiner ganzen Zerbrechlichkeit.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Anna Enquists Roman "Die Seilspringerin" über den Kinderwunsch einer erfolgreichen Komponistin
Klavierspiel und Klinische Psychologie studierte die Schriftstellerin Anna Enquist, die 1945 in Amsterdam geboren wurde. In ihrem Roman "Die Seilspringerin" bringt sie beide Interessen zusammen. Das Buch handelt von der verheirateten Komponistin Alice Augustus, deren großer Wunsch es ist, ein Kind zu bekommen. Um dieses Ziel zu realisieren, lässt sie sich in einer Klinik behandeln.
Erzählt wird der Roman aus personaler Perspektive, aber gelegentlich spricht die Protagonistin direkt von sich. Der Text besitzt einen episodischen Charakter. Geschildert wird das Leben der Musikerin von ihrer Jugend bis zum Alter von vierzig. Die Sprünge zwischen den Zeitebenen sind manchmal verwirrend, was auch mit den kurzen Kapiteln im Buch zusammenhängt. Weil der Roman den Gedanken und Gefühlen der Protagonistin folgt, ist die Sprache der mündlichen Redeweise angenähert. Der Ton der Erzählung resultiert also aus dem Wortschatz von Alice Augustus. Dieses Vokabular ist dem alltäglichen Gebrauch entnommen, die Sätze haben dienende Funktion und passen sich den emotionalen Zuständen der Personen an.
Gelungen ist das Buch von Anna Enquist, weil es konsequent zwei Seiten im Charakter der Hauptfigur nachzeichnet und damit Facetten im Wesen dieser Frau darstellt, die sich scheinbar widersprechen: "Auf dem Fahrrad denkt sie flüchtig an die Touren in die Klinik, wie anders sie sich dann fühlt und wie eigenartig das ist. Die Angst, der Zweifel und der Widerwillen, die sie überkommen, wenn sie zu einem Ultraschall oder einer Konsultation unterwegs ist, erscheinen ihr jetzt seltsam, als wäre das nicht sie, die zaghafte Frau. Die Frau, die jetzt zum Konzertsaal radelt, ist selbstbewusst und empfindet eine Art Vergnügen, eine entzückte Erwartung."
Die Welt der Kunst und die Realität der Kinderlosigkeit sind getrennte Bereiche. Die Beschäftigung mit Leben und Werk von Joseph Haydn ermöglicht es Alice Augustus allerdings, beide Situationen miteinander zu verbinden. Denn der Komponist hatte ebenfalls keine Nachkommen. Haydns Oratorium "Die Schöpfung" ist für die Musikerin einerseits inspirierend, andererseits stellt es eine biologische Mahnung dar, einen Hinweis auf die problematische Zeugung eines Kindes. Dieses Thema reflektiert die Komponistin dann auch in ihrem Werk: In einem Stück stellt sie den Herzschlag eines Babys mit dem Schlagzeug nach.
Mit der "Schöpfung" von Haydn stellt sich gleichzeitig die Frage nach der Kreativität in der Kunst. Alice Augustus zweifelt an ihrem Kinderwunsch beim Gedanken daran, dass die Beschäftigung mit dem kleinen Menschen ihr keine Zeit mehr lassen könnte fürs Komponieren. Ihre Schwägerin Floor, die als bildende Künstlerin arbeitet, berichtet davon, dass sie kaum mehr Interesse an ihrem Werk hatte, als sie sich um ihre Sprösslinge kümmerte. Und Duk van Dijk, der Lehrer von Alice Augustus am Konservatorium, sagt zu ihr: "Ein Kind frisst deine Willenskraft und deine Konzentration. Das sind Dinge, die du unbedingt brauchst, wenn du etwas erschaffen willst." Sie beginnt eine Beziehung mit ihrem Mentor, der vierzig Jahre älter ist als sie. Van Dijk aber trennt sich von ihr, als sie ein Kind von ihm erwartet. Sie will das Baby abtreiben lassen, aber vorher kommt es zu einer Fehlgeburt. Davon erzählt sie einem Mediziner in der Klinik, ihrem Ehemann aber nicht.
Anna Enquist hat einen psychologischen Roman geschrieben, in dem es um die Analyse von Gefühlen geht. Zentral dabei ist das Motiv des Kinderwunschs. Alice ist eifersüchtig auf ihre Freundin Svea, die fünf Kinder hat. Gleichzeitig findet sich im Buch häufiger der Ausdruck "Sehnsucht", den die Protagonistin einerseits auf den eigenen erhofften Nachwuchs, andererseits auch aufs Komponieren bezieht. Die Unfähigkeit zur biologischen Zeugung kontrastiert die Autorin geschickt mit dem kreativen Potential der Hauptfigur bei ihrer Musik. Am Schluss des Romans wird sie schwanger, aber es bleibt offen, wer der Vater des Kindes ist.
Im niederländischen Original heißt das Buch "Sloop", was so viel wie "Abriss" bedeutet. "Die Seilspringerin" des deutschen Titels verdankt sich der Skulptur eines Mädchens an einer Hauswand, die abgerissen wird. Als Alice den Auftrag bekommt, für das Jubiläum des Königlichen Symphonieorchesters ein Werk zu komponieren, nennt sie es "Abriss" und versucht das Seilspringen und dessen Zerstörung musikalisch nachzuahmen. Am Schluss nimmt sie den Applaus des Publikums entgegen, aber was sie denkt, ist: "Jesus Christus, ich bin schwanger. Ein Versehen. So war das doch nie gemeint. Nein. Was soll ich um Himmels willen tun, was soll ich tun? Hier stehe ich, hilf mir, schwanger, nein, nein. Nein!" THOMAS COMBRINK
Anna Enquist: "Die Seilspringerin". Roman.
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Luchterhand
Literaturverlag,
München 2024.
304 S., geb., 24,- Euro.
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