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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ist Sahra Wagenknecht noch eine Linke? Kritiker ihres Buchs halten ihr politische Fahnenflucht und Mangel an kultureller Sensibilität vor. Das Gegenteil ist richtig.
Kürzlich platzte Huschke Mau der Kragen. Die Ex-Prostituierte, die das Netzwerk Ella gegründet hat, um über die Realitäten der Prostitution aufzuklären, war auf einem Podium wieder einmal als Rassistin bezeichnet worden. Was hatte sie verbrochen? Sie hatte berichtet, dass Freier bestimmte Ethnien fetischisierten, wie die "devote Thai-Frau" oder die "tabulose Osteuropäerin". Das sei "problematisch", wurde ihr von einem kultursensiblen Publikum vorgehalten, weil es "nichtweiße" Frauen herabwürdige. Flugs wurde Mau die Betroffenheit abgesprochen, weil sie seit Jahren nicht mehr im Rotlichtmilieu arbeite - als könnte eine praktizierende Prostituierte ihr Arbeitsumfeld ohne Angst vor Schikanen schildern. Schließlich warf man ihr "Migrantenfeindlichkeit" vor, weil sie erwähnt hatte, dass Frauen aus armen Ländern hierzulande sexuell ausgebeutet würden, was zwar zutrifft, aber offensichtlich hätte beschwiegen werden sollen.
Auf ihrem Blog schrieb Mau, die sich weiter als Linke versteht, einen wütenden Abschiedsbrief an eine Linke, die in ihrer identitätspolitischen Variante nichts anderes als das Sprachrohr von Zuhältern sei. Welcher Bordellbesitzer freut sich nicht über wachsame Aktivisten, die für ihn die schmutzige Realität der Prostitution zur "selbstbestimmten Sexarbeit" verklären und allen ein Sprachverbot erteilen, die von Gewalt und Menschenhandel sprechen? "Ich stehe sprachlos vor einer linken Kultur, die vergessen hat, was strukturelle Kritik, politische Analyse und Kapitalismuskritik ist", schreibt Mau. Diese Leute mögen dort hingehen, wo sie eigentlich zu Hause seien - zur FDP.
Bleibt die Frage: Ist das Kalkül? Oder nur die unbeabsichtigte Nebenfolge einer narzisstischen Realitätsflucht? Sahra Wagenknecht, die ein ganzes Buch dazu geschrieben hat, erteilt all jenen eine Absage, die meinen, das linksliberale Spektrum, der Träger der Identitätspolitik, habe sich nur unbewusst vom Markt korrumpieren lassen. Es sei mehr als das, eine Liebesheirat mit beidseitiger Rendite, und im historischen Rückblick nur der vorläufige Endpunkt eines langen Gestaltwandels der Linken, für den tüchtige Liberalisierer des Finanzmarkts wie Gerhard Schröder, Tony Blair oder Bill Clinton stehen.
Die Lifestyle-Linken, wie Wagenknecht sie nennt, wollen gar keinen Kontakt zu den Leuten, mit denen sie sich vordergründig solidarisieren, im Gegenteil, sie wollen die Unterschicht, die sie verachten, mit moralischen Posen auf Abstand halten. Wagenknecht stellt sie als die neuen Besitzstandswahrer dar, die der globalen Marktwirtschaft den Weg frei machen, indem sie das kalte Vokabular des Neoliberalismus durch schön klingende Worthülsen ersetzen.
Aus Freihandel, Egoismus und Laisser-faire wurden Weltoffenheit, Vielfalt und Toleranz. Wer auf Widersprüche hinweist, wird als Nazi, Rassist oder Hinterwäldler niedergemacht.
Verrat an der Aufklärung
Nun ließe sich darüber diskutieren, wie weit dieser Politikwechsel die Linke (und das bürgerliche Lager) durchdringt und ob sich die von Wagenknecht beobachtete Spaltung nicht auch durch die Mittelschicht selbst zieht. Kritik richtete sich aber vor allem darauf, dass Wagenknecht die Sensibilität für die "neuen" kulturellen Ziele wie Feminismus und Antirassismus vermissen lasse (taz) und den Gegensatz zwischen einer identitätsverliebten Kulturlinken und einer Traditionslinken aufwärme, die ausschließlich an sozialer Gerechtigkeit interessiert sei. Am Ende stand die Frage, ob sie eigentlich noch eine Linke sei (Die Zeit).
Nun besteht die Pointe des Buchs aber gerade darin, dass Wagenknecht Punkt für Punkt nachweist, wie Identitätspolitik dem linksliberalen Milieu materiell nutzt und den kulturellen Minderheiten, die es moralisch mandatiert, schadet. Das geht schon auf das Prinzip der Identitätspolitik zurück, die nicht auf Emanzipation und Gleichheit, sondern auf Ungleichheit zielt, indem sie Menschen in ihre Herkunft verschließt und zu Interessengruppen verschweißt, die nicht miteinander in Dialog treten könnten, weil niemand die Perspektive eines Betroffenen nachvollziehen könne. Damit ist der aufklärerische Vernunftoptimismus ebenso aufgekündigt wie die Idee der Solidarität. Margaret Thatcher hätte es sich nicht besser wünschen können: There is no such thing as society.
Der Vorzug des Buchs liegt darin, dass es konsequent die Kehrseiten dieses schiefen Konzepts in der politischen und wirtschaftlichen Praxis zeigt. Die Freude an Vielfalt erweist sich hier als ziemlich exklusiv. In den Brennpunktvierteln leben eine deklassierte Unterschicht von ehemaligen Industriearbeitern und in kulturelle Sondergruppen aufgeteilte Migranten mehr oder weniger konfliktreich nebeneinander her. Das linksliberale Milieu bleibt in den schicken Vierteln unter sich, ein wirkungsvolles Instrument der Abschottung ist der Mietpreis. Auf dem Arbeitsmarkt macht sich besonders deutlich bemerkbar, wie sehr das Faible für offene Grenzen und uneingeschränkte Migration den Interessen der Unternehmenswelt nach billigen Arbeitskräften dient, die mangels gewerkschaftlicher Organisation keine Lohnforderungen stellen. Die linksliberale Schicht darf sich währenddessen über billigere Konsumprodukte freuen. Identitätspolitik kostet nicht viel, schon gar keine anstrengenden Auseinandersetzungen mit Wirtschaftslobbyisten.
Anwalt der Starken
Die Attacken des linksliberalen Lagers auf den Nationalstaat sind das deutlichste Zeichen seiner innigen Verbindung mit dem Weltmarkt. Wer anders als der Nationalstaat sollte global operierenden Firmen soziale und rechtliche, aber auch umweltpolitische Standards auferlegen? Hier zeigt sich am deutlichsten, wie die moralischen Forderungen des linksliberalen Lagers, würden sie erfüllt, in ihr Gegenteil umschlagen würden. Die geforderte Abkehr vom Nationalstaat würde ja nichts anderes als das Ende von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie bedeuten und jenen Gruppen den Schutz entziehen, die den Sozialstaat besonders brauchen. Dass davon auch jene kulturellen Minderheiten überproportional betroffen werden, die man zu schützen vorgibt, kann man sich denken. Es geht diesem Milieu nicht um Politik, folgert Wagenknecht, sondern um die Demonstration moralisch überlegener Haltungen, die in der Praxis ins Gegenteil umschlagen würden, weshalb man insgeheim und manchmal auch explizit darauf setzt, dass dies nicht geschehen möge.
Man kann sich beispielsweise fragen, wie die beschwichtigende Haltung zu radikalen Strömungen des Islams mit dem Ziel der Geschlechteremanzipation zusammengeht. Flüchtlinge und Migranten, die in den Westen flohen, um den Beschränkungen und der Gewalt ihrer Heimatkulturen zu entkommen, treibt dieser Widerspruch regelmäßig zur Verzweiflung. Man kann auch fragen, ob der dominierende Queerfeminismus, der Frauen wie Islamisten im Kampf gegen Rassismus trotz weit auseinanderliegender Interessen unterschiedslos zusammenspannt, überhaupt der Frauenemanzipation dient. Wo es keine Frauen, sondern nur noch Konstrukte gibt, kann auch nicht für ihre Interessen gekämpft werden. Wer an seinem biologischen Geschlecht als Frau festhält, sieht sich heute, wie Joanne K. Rowling, vernichtenden Attacken ausgesetzt. Lässt sich ein gemeinsames Interesse von inzwischen mehr als achthundert absolut gesetzten Geschlechtsidentitäten überhaupt formulieren?
Man hat Wagenknecht, die eine marxistisch inspirierte Analyse mit ordoliberalen Vorstellungen von einer juristisch eingehegten, in kleineren Einheiten wirtschaftenden Ökonomie verbindet, nun gefragt, was sie mit der Linken überhaupt noch zu tun habe und ihr verschiedene Parteien aus dem konservativen Spektrum als neue politische Heimat anempfohlen. Der Konservatismus hat die Auszehrung seiner Traditionswerte durch die Ökonomie, die heute die Linke ereilt, aber schon absolviert und präsentiert sich in erschöpfter Gestalt. Die AfD hat zwar die frustrierte Arbeiterschicht angezogen, lässt sie aber bei sozialpolitischen Forderungen konsequent auflaufen, weil ihr eigentliches Ziel ein national eingehegter Marktliberalismus ist.
Umgekehrt wäre zu fragen, ob sich nicht das identitätspolitische Lager vom Attribut links verabschieden sollte. In der ausgezehrten, zwischen alten und neuen Zielen irrlichternden Sozialdemokratie hat sich die Dahrendorf-Formel breitgemacht, man sei Opfer des eigenen Erfolgs: der erfüllten sozialen Ziele. Das ist nicht mehr als eine Legende, wie Wagenknecht mit Blick auf die Monopolbildung in der Digitalökonomie und die EZB-Schuldenpolitik nachweist, die Banken und Kapitalbesitzern ohne demokratische Grundlage Milliarden Euro zuschiebt - unter dem Applaus linker Parteien, die schon in der Finanzkrise hingenommen hatten, dass der Mittelstand für die Fehler von Investmentbankern geradestehen musste. Dass eine Linke, die an ihren Traditionswerten festhält, weiter gebraucht wird, ist die eigentliche Erkenntnis von Wagenknechts Buch.
THOMAS THIEL
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