Ein Märchen von Glocken, die ein altes Jahr aus- und ein neues Jahr einläuten Illustrierte Ausgabe Der arme Dienstbote Toby Veck lebt mit seiner Tochter Meg in London. Am Silvesterabend gesteht Meg ihrem Vater, den Tischler Richard Johnson heiraten zu wollen. Doch Armenrichter Alderman Cute malt Meg in düstersten Farben ihre Zukunft aus - in noch größerer Armut, mit zwei, drei Kindern und einem arbeitslosen, dem Alkohol ergebenen Mann. In der Silvesternacht wird Toby vom Glockenklang in den Glockenturm gelockt. Dort begegnet er Geistern, Elfen und Kobolden - und bekommt erschreckende Visionen, die die Prophezeiungen des Armenrichters zu bestätigen scheinen ...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2014Der letzte Atem
Charles Dickens: "Die Silvesterglocken"
Da ist jemand im Haus. Hört ihr ihn nicht? In der letzten Nacht des Jahres hat er sich herangeschlichen, hat das Gebäude stöhnend umkreist, um irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Nun ist er hier. Hört ihr nicht, wie sein Atem geht?
Was für ein unheimlicher Eindringling! Er winselt und heult, schleicht durch die Schiffe, huscht um die Pfeiler. Verstohlen drückt er sich an der Wand entlang, als wolle er dort die Inschriften lesen, die den Toten geweiht sind. Vor einigen bricht er in schrilles Gelächter aus, vor anderen ächzt und schluchzt er wie in großem Schmerz. Nun singt er in wilder Weise vor dem Altar. Hu, der Himmel bewahre uns, die wir so gemächlich ums Feuer sitzen!
Der unheimliche Eindringling ist der Nachtwind, den Charles Dickens zu Beginn seiner Erzählung "Die Silvesterglocken" in eine Kirche schickt, als wollte er seine Leser in ein schreckliches Geheimnis einweihen: Ihr seid nicht allein im Hause Gottes. Da sind noch andere Kräfte zugegen. In der letzten Nacht des Jahres sollt ihr sie kennenlernen.
Jeder kennt die Geschichte von Ebenezer Scrooge, dem Geizhals aus Dickens' berühmter Weihnachtserzählung. Aber wer kennt Toby Veck, den armen Dienstmann, der sich im Laufe seines mühseligen Lebens eine unterwürfige, eilfertig trabende Gangart angewöhnt hat, der den Spitznamen Trotty verdankt? Trotty ist eine geschundene Kreatur, ein Tagelöhner, der von morgens bis abends vor der Kirchentür auf kleine Aufträge wartet und dabei den Glocken über ihm lauscht. Ihr Klang gibt ihm Kraft und Zuversicht. Trotty ist der englische Vetter des hessischen Woyzeck, eine auf Zuruf lostrabende Kreatur, die nur eine Aufgabe im Leben kennt: dienstbar zu sein. Beide sind philosophische Köpfe, und die Frage, die Trotty quält, hätte auch Woyzeck stellen Ist da etwas Gutes in uns, oder wird der Mensch schlecht geboren, um sein Leben lang schlecht zu bleiben?
Büchner lässt seinen Woyzeck in den Wahnsinn gleiten, Dickens schickt Trotty Veck die Geister der Glocken. Sie begleiten den armen Dienstmann besuchsweise in jene Hölle, in der jeder auf Erden lebt, der aufgehört hat, an das Gute im Menschen zu glauben. "Die Silvesterglocken", 1913 in der Übersetzung von Leo Feld in der Insel-Bücherei erschienen und dort jetzt wieder aufgelegt, sind ein milieu- und moralpralles Schauermärchen, typisch Dickens, wie in Pudding gemeißelt. Aber unter der dicken Pathoszuckerkruste blitzt ab und an die kleine revolutionäre Silvesternachtsehnsucht auf: dass mit dem alten Jahr auch die alten Verhältnisse krachend und funkensprühend zu Ende gehen mögen.
igl
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Charles Dickens: "Die Silvesterglocken"
Da ist jemand im Haus. Hört ihr ihn nicht? In der letzten Nacht des Jahres hat er sich herangeschlichen, hat das Gebäude stöhnend umkreist, um irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Nun ist er hier. Hört ihr nicht, wie sein Atem geht?
Was für ein unheimlicher Eindringling! Er winselt und heult, schleicht durch die Schiffe, huscht um die Pfeiler. Verstohlen drückt er sich an der Wand entlang, als wolle er dort die Inschriften lesen, die den Toten geweiht sind. Vor einigen bricht er in schrilles Gelächter aus, vor anderen ächzt und schluchzt er wie in großem Schmerz. Nun singt er in wilder Weise vor dem Altar. Hu, der Himmel bewahre uns, die wir so gemächlich ums Feuer sitzen!
Der unheimliche Eindringling ist der Nachtwind, den Charles Dickens zu Beginn seiner Erzählung "Die Silvesterglocken" in eine Kirche schickt, als wollte er seine Leser in ein schreckliches Geheimnis einweihen: Ihr seid nicht allein im Hause Gottes. Da sind noch andere Kräfte zugegen. In der letzten Nacht des Jahres sollt ihr sie kennenlernen.
Jeder kennt die Geschichte von Ebenezer Scrooge, dem Geizhals aus Dickens' berühmter Weihnachtserzählung. Aber wer kennt Toby Veck, den armen Dienstmann, der sich im Laufe seines mühseligen Lebens eine unterwürfige, eilfertig trabende Gangart angewöhnt hat, der den Spitznamen Trotty verdankt? Trotty ist eine geschundene Kreatur, ein Tagelöhner, der von morgens bis abends vor der Kirchentür auf kleine Aufträge wartet und dabei den Glocken über ihm lauscht. Ihr Klang gibt ihm Kraft und Zuversicht. Trotty ist der englische Vetter des hessischen Woyzeck, eine auf Zuruf lostrabende Kreatur, die nur eine Aufgabe im Leben kennt: dienstbar zu sein. Beide sind philosophische Köpfe, und die Frage, die Trotty quält, hätte auch Woyzeck stellen Ist da etwas Gutes in uns, oder wird der Mensch schlecht geboren, um sein Leben lang schlecht zu bleiben?
Büchner lässt seinen Woyzeck in den Wahnsinn gleiten, Dickens schickt Trotty Veck die Geister der Glocken. Sie begleiten den armen Dienstmann besuchsweise in jene Hölle, in der jeder auf Erden lebt, der aufgehört hat, an das Gute im Menschen zu glauben. "Die Silvesterglocken", 1913 in der Übersetzung von Leo Feld in der Insel-Bücherei erschienen und dort jetzt wieder aufgelegt, sind ein milieu- und moralpralles Schauermärchen, typisch Dickens, wie in Pudding gemeißelt. Aber unter der dicken Pathoszuckerkruste blitzt ab und an die kleine revolutionäre Silvesternachtsehnsucht auf: dass mit dem alten Jahr auch die alten Verhältnisse krachend und funkensprühend zu Ende gehen mögen.
igl
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