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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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Günter de Bruyn erzählt von der letzten Liebe des Staatskanzlers Hardenberg
Was ist ein Roman? Eine lange Erzählung in Prosa, die sich, auch wo sie sich am Faktischen orientiert, im Fiktionalen erfüllt. Das kann man Günter de Bruyns schmalem Buch, in dem eine Episode aus der Geschichte Preußens "so wahrheitsgetreu wie möglich den spärlichen Überlieferungen nacherzählt wird", wie der Autor selbst sich ausdrückt, nicht nachsagen. Aber ein Roman steckt dennoch in diesem Buch, ein historischer Liebesroman voller Skandale, Dramen und Intrigen, all dem, was zu dem Genre dazugehört. Nur dass er nicht herauskommt, nicht herauskommen soll.
Günter de Bruyn hat sich diesen Roman versagt, aus wohlerwogener Abneigung dagegen, seiner Phantasie auf dem schlüpfrigen Boden, auf dem die Geschichte spielt, die Zügel schießen zu lassen. Und doch meint man beim Lesen bisweilen zu spüren, wie es ihn in den Fingern gejuckt hat, diesen Stoff in die Fiktion überfließen zu lassen. Dass er der Versuchung nicht erlegen ist, gibt seiner "Somnambulen" ihre besondere Form, ihre asketische Prägnanz. Aber es ist auch ein Verlust, den man immer deutlicher spürt, je näher das Buch seinem Ende kommt, der Auflösung der Fäden, die der historische Zufall so elegant und beziehungsreich geknüpft hat.
"Die Somnambule", die Hauptfigur des Buches, ist Friederike Hähnel, die letzte Geliebte des Staatskanzlers Karl August von Hardenberg, dem die Welt die preußischen Reformen und Schinkels klassizistisches Schloss in Neuhardenberg verdankt. Der Kanzler lernt die junge Frau im Jahr 1816 in einem "magnetischen Salon" kennen, in den ihn sein Leibarzt David Koreff geführt hat, um ihn von der Wirksamkeit der neuartigen Heilmethode des Mesmerismus zu überzeugen. Dieser damals von vielen Intellektuellen bewunderte Hokuspokus, bei dem die Patienten durch Handauflegen und allerlei phantastische Apparaturen in Trancezustände versetzt wurden, funktionierte besonders bei weiblichen Versuchskandidaten, die im "magnetischen Schlaf" Visionen und Prophezeiungen von sich gaben. Eine von ihnen ist die vierundzwanzigjährige Friederike, deren von Zeitgenossen beschriebene "frische Üppigkeit des Leibes" den alten, schon zweimal geschiedenen Hardenberg derart beeindruckt, dass er sie als Gesellschafterin seiner dritten Frau Charlotte in sein Haus aufnimmt und zur Tarnung mit einem Baron Kimsky verheiratet. Sechs Jahre später stirbt er auf einer Italien-Reise in ihren Armen.
Über diese Affäre, die Weltgeschichte hätte schreiben können, wenn der Staatskanzler in jenen Jahren nicht schrittweise aus der Gunst seines Königs verdrängt und zuletzt gänzlich entmachtet worden wäre, gibt es kaum verlässliche Quellen; die zuverlässigste, die Korrespondenz zwischen Hardenberg und Hähnel, hat die Geliebte nach dem Tod ihres Mentors anscheinend verbrannt. Was aber vorhanden ist, hat de Bruyn mit der ihm eigenen Gründlichkeit gesichtet: "Reminiscenzen" eines Arztes aus Hähnels Geburtsstadt Neubrandenburg, Erinnerungsblätter der gleichfalls dort geborenen, heute vergessenen Populärschriftstellerin Luise Mühlbach, Italien-Skizzen ihres Mannes, des Publizisten Theodor Mundt, der die "üppige Mecklenburgerin" an ihrem Lebensabend in Rom traf. Schließlich, neben den Mitteilungen Hardenbergs an seine betrogene und alsbald verstoßene Ehefrau, die Briefe, die sein Schwiegersohn, der als Parkschöpfer und Speiseeis-Namensgeber bekannte Fürst Hermann von Pückler-Muskau, zu Lebzeiten des Kanzlers mit dessen Bettschatz wechselte.
Unter diesen Stimmen ist die Pücklers die interessanteste, weil sie anders als alle anderen eine Entwicklung durchmacht. Zuerst biedert sich der Fürst bei der Mätresse seines Schwiegervaters, die er zärtlich "Huckkukkuk" nennt (sie antwortet mit "edler Pückler-Pücklerino"), mit allen Mitteln an. Dann aber, auf einer Bäderkur in Pyrmont, bei der "die Kimsky" ihre privilegierte Stellung allzu unverblümt genießt, hat er plötzlich genug von ihr. Zuletzt ist sie für ihn nur noch "der feindliche Dämon", dessen Launen den armen Staatskanzler in den Tod treiben. Allerdings hat Pückler inzwischen den Fürstentitel in der Tasche, den er mit Hardenbergs Protektion vom preußischen König erbeten hat. Auch bei ihm ist also Kalkül im Spiel, wie bei allen Beteiligten außer dem Kanzler selbst, der bis an sein Sterbebett auf die "nachtheilige körperliche Reizung" durch seine Geliebte einfach nicht verzichten will.
Man sieht den Autor schmunzeln bei solchen Zitaten, und man schmunzelt mit ihm. Aber viel mehr als solche milden Vergnügungen hat "Die Somnambule" leider nicht zu bieten. Seit langem, spätestens seit seiner 2001 erschienene Monographie über die Königin Luise, schreibt Günter de Bruyn an einer Geschichte der preußischen Umbruchszeit am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Mit den beiden Erzählbänden "Als Poesie gut" und "Die Zeit der schweren Not" hat er dieses Vorhaben in große Literatur verwandelt. Das Büchlein über die letzte Liebe des alten Staatskanzlers ist dagegen mehr eine Fußnote als eine Fortsetzung. Das Netz historischer Verweise, das bei de Bruyn sonst so dicht geknüpft ist, wirkt hier lose und löchrig, und von der Sympathie, mit der er jedes Mal auf seine Figuren schaut, ist beim Blick auf Hardenberg und seine Entourage wenig zu spüren. Vielleicht wollte der Autor auch einfach nicht mehr Aufhebens um die Affäre machen. Erzählen aber musste er sie doch.
ANDREAS KILB
Günter de Bruyn: "Die Somnambule oder Des Staatskanzlers Tod".
S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2015. 152 S., geb., 17,99 [Euro].
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