Die sophistische Bewegung setzte in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. ungefähr zeitgleich in ganz Griechenland ein, ihr Zentrum hatte sie in Athen. Die Anfänge philosophischen Denkens der Griechen lagen jedoch in der westkleinasiatischen Stadt Milet. Im 6. Jahrhundert förderten die weitreichenden Handelsbeziehungen der Polis den kulturellen Austausch und machten sie zu einer Metropole der Philosophie, Wissenschaft und Kunst. Nach der Zerstörung der Stadt im Jahre 494 und dem Sieg der Griechen über die Perser entwickelte sich Athen zum politischen und kulturellen Mittelpunkt
Griechenlands. Philosophen wie Anaxagoras, aber auch Sophisten wie Protagoras und Gorgias machten die Athener mit Vorstellungen vertraut, die weit von dem durch Mythos und Tradition bestimmten Denken abwichen.
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Helga Scholten tut wenig zur Verbesserung der Lage der Sophisten
Philosophiegeschichtlich stehen die Sophisten zwischen den Vorsokratikern mit ihren Spekulationen über die Anfänge und die Natur der Dinge und den Denksystemen von Platon und Aristoteles. Dabei waren sie Intellektuelle, die in eine breite Öffentlichkeit hineinwirken und - als bezahlte Lehrer - auch von dieser profitieren wollten; das unterschied sie von den genannten Schulgründern. Diese arbeiteten sich zwar auch an den Problemen ihrer Zeit ab, formulierten aber zugleich einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis.
Damit war die Philosophie als eigene Lebensform geboren, wie Peter Scholz in seiner Frankfurter althistorischen Dissertation unter dem Titel "Der Philosoph und die Politik" vor fünf Jahren gezeigt hat. Diese im Franz Steiner Verlag erschienene Arbeit läßt sich in der Tat auf den paradoxen Nenner bringen: Erst als die Philosophen die Öffentlichkeit mieden, waren sie auch als Politikberater gefragt (F.A.Z. vom 21. September 1998). Von "den Sophisten" oder gar "der Sophistik" hingegen kann nur in einem wissenssoziologischen Sinn gesprochen werden, da die Vorträge und Schriften der einzelnen Vertreter inhaltlich sehr verschieden waren. Es verband sie nichts als der Lehrberuf und die Bedingungen, unter denen sie diesen in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts vor Christus zumal in Athen ausübten.
Die langfristige Ruhmbilanz der Sophisten sieht schlecht aus. "Eine kurze Stunde rauschenden Erfolgs", so formulierte Theodor Gomperz einprägsam, "ward erkauft durch Jahrtausende des Unglimpfs." Die Gründe dafür sind benennbar. Im Wettbewerb um die Kundschaft versprachen manche der sich oft ausgiebig selbst inszenierenden Denker und Lehrer die Vermittlung überlegener Praxis- und Redefertigkeit, mit der sich - wie die klassische Selbstbeschreibung lautete - auch eine schwächere Sache zur stärkeren machen lasse; das konnte als Anschlag auf traditionelle Werte und Spielregeln verstanden werden.
Die Deutungshoheit über die Sophisten eroberte zudem Platon, der seinen verehrten Lehrer geradezu als das genaue Gegenteil der Sophisten aufzuweisen suchte, während der Zeitgenosse Aristophanes Sokrates als deren Archetyp vorstellte. Drittens fiel das Wirken der Sophisten zeitlich zusammen mit der überschießenden Macht- und Gewaltpolitik, welche die Epoche des Peloponnesischen Krieges prägte, und es war leicht, sie für die offenkundige Radikalisierung des Willens zur Macht verantwortlich zu machen, welche das Unterwerfungsgebot Athens an Melos ebenso kennzeichnete wie den Bürgerkrieg zwischen Oligarchen und Demokraten in den Jahren 404/03.
Doch solche Ereignisse stellten allenfalls im Ausmaß eine Neuheit dar. Siegeswille und Rücksichtslosigkeit im innen- wie außenpolitischen Verkehr prägten die Verhältnisse schon lange vor dem Auftreten der Sophisten, und die Verfahren zur Entscheidungsfindung in der athenischen Volksversammlung - zuspitzende Debatte, dann Abstimmung mit Mehrheitsbeschluß - begünstigten eine Form der öffentlichen Rede, in der unterschiedliche Standpunkte und Interessen scharf herausgearbeitet wurden.
Gomperz verglich die Stellung der Sophisten mit der von Fechtmeistern in einem Gemeinwesen, in dem der Zweikampf eine ständige Institution war. Diese Grundstruktur der Öffentlichkeit zumal in Athen förderte ohne Zweifel auch die intellektuelle Kreativität von Individuen und ihre Neigung, bestimmte Gedanken im Sinne des Denkmöglichen sehr weit zu treiben und Antithesen zuzuspitzen.
In ihrer öffentlichen Breitenwirkung blieben die Sophisten als Wanderlehrer aber auf die praktischen Bedürfnisse ihrer zahlungskräftigen Hörer angewiesen; in ihrer Abhängigkeit vom Publikum konnten sie bestehende Gegensätze allenfalls expliziter machen, vorhandene Verhaltensweisen rational begründen oder ethisch legitimieren.
Ihr Wirken sollte eher hypersozial als antisozial genannt werden; als ein den meisten Sophisten gemeinsamer Wert lassen sich die Eigenverantwortung des Menschen und seine Gestaltungskraft identifizieren. Doch auch wenn der eine oder andere Gedanke an traditionellen Ordnungen und Überzeugungen gerüttelt haben sollte, so ist es auf einer zweiten Ebene der Analyse gewiß auch sehr klug, die verbreitete Selbstüberschätzung von Intellektuellen zu vermeiden und den wirksamen Einfluß der Sophisten nicht allzu hoch anzusetzen. Die beiden einzigen Todesurteile gegen Sophisten - Antiphon und Kritias - bezogen sich eben nicht auf deren Lehren.
Der Gesamtkontext der griechischen Geschichte und Mentalität sowie die wissenssoziologischen Voraussetzungen sind in dem Versuch von Helga Scholten, das gängige Bild zu bekräftigen, leider fast vollständig ignoriert. Ihr im Akademie Verlag erschienenes Buch mit dem Titel "Die Sophistik. Eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis?" enttäuscht auf der ganzen Linie. Es ist schlicht unmöglich, die im Untertitel gestellte Frage allein aus der biographischen Überlieferung zu den einzelnen Sophisten und den Bezeugungen und Überresten ihrer Schriften zu beantworten. Die Autorin verharrt in den langatmigen Paraphrasen der Zeugnisse ganz bei den (möglichen) Intentionen der Autoren Protagoras, Gorgias, Prodikos, Thrasymachos, Hippias, Antiphon und Kritias. Aufschlußreiche Texte anonymer Autoren bleiben unberücksichtigt, mit der kuriosen Begründung, sie böten kaum Möglichkeiten der Einordnung in die jeweilige politische Situation.
Die nicht selten hypothetischen, im Detail kaum je weiterführenden Deutungen beherrscht eine Neigung zum Kurzschluß. Elementare Tatsachen werden eher widerwillig eingeräumt. So standen die Sophisten, wenn sie für ihre Heimatpolis politische Aufgaben übernahmen, natürlich auf dem Boden der angestammten Ordnung und vollzogen als gute Bürger auch weiterhin die Kulthandlungen. Den Mythos betrachtet Scholten als eine feste Größe, den man respektieren oder eben dem eigenen Beweisziel zuliebe umdeuten konnte. Tatsächlich taten alle besseren Tragiker letzteres, weil Mythen nur in wenigen Fällen durch Konsens der jeweiligen Gemeinschaft für diese kanonisch stillgestellt werden konnten.
Manche Schlußfolgerungen zeugen von Trotz: Obwohl es für eine Anklage gegen Gorgias keinen Beleg gibt, "gehörte er sicher zu den intellektuellen Wegbereitern des Umsturzes der Demokratie". Mißverständnisse und schiefe Formulierungen trüben den Gesamteindruck, formale Mängel kommen hinzu. "Die umfassende Thematik rechtfertigt eine eigene Studie und kann an dieser Stelle nicht geleistet werden." Für das Thema der Studie trifft der erste Teil des ungrammatischen Satzes zu. Der zweite Teil muß leider lauten: Diese steht noch aus.
UWE WALTER
Helga Scholten: "Die Sophistik". Eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis? Akademie Verlag, Berlin 2003. 358 S., geb., 69,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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