Der Zugriff der Soziologie auf die Geschichte erfolgte von Anfang an über die Prägung robuster Prozessbegriffe wie etwa »Differenzierung« oder »Individualisierung«, die in Zeitdiagnosen bis heute eine zentrale Rolle spielen. Thematisiert wurde dabei jedoch selten, welchen geschichtsphilosophischen Ballast diese Begriffe mit sich führen, weshalb in jüngster Zeit einige von ihnen stark kritisiert worden sind. Wolfgang Knöbl analysiert, wie in verschiedenen Phasen der Disziplingeschichte - zumeist erfolglos - versucht wurde, historische Prozesse zu theoretisieren, und arbeitet heraus, welche erzähltheoretischen Einsichten die Soziologie aufzunehmen hat, wenn ihre Diagnosen ernst genommen werden wollen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Achim Landwehr ist dem Soziologen Wolfgang Knöbl dankbar für alternative Erklärungsmodelle in den Sozialwissenschaften. Dass der Autor dafür auf den Dialog zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaften setzt und Standards wie Modernisierung, Rationalisierung und Globalisierung hinterfragt, scheint Landwehr wichtig und zielführend. Knöbls Skepsis gegenüber herkömmlichen Prozessbegriffen vermittelt sich im Buch laut Landwehr so eingängig wie überzeugend. Knöbels "verlorene" Geschichte der Sozialtheorie, chronologisch erzählt, weist für Landwehr allerdings auch wieder bekannte Muster auf. Für den Rezensenten ist sie konventionell, linear, westlich, männlich. Lesenswert ist sie aber auch, versichert er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2022Und was soll als Modernisierung gelten?
Große Begriffe auf dem Prüfstand : Wolfgang Knöbl nimmt Beschreibungen des Wandels ins Visier
Ein Buchtitel, der zunächst einmal irritiert: "Die Soziologie vor der Geschichte". Wie ist die Präposition "vor" zu verstehen? Ist die Soziologie hierarchisch der Geschichte übergeordnet? Soll sie ihr zeitlich vorgängig sein? Oder wird sie gar vor deren Richterstuhl zitiert?
Der produktiven Irritation, die in dem Titel steckt, ist das Buch von Wolfgang Knöbl - Soziologe und Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung - auf mehrerlei Weise verpflichtet. Beliebigkeit will er durch diese Verwirrung sicherlich nicht andeuten, aber Bescheidenheit und Offenheit in Theoriebildungen sowie eine kritische Haltung gegenüber Versuchen, die sich allzu schnellen Vereindeutigungen überlassen, dürfen es schon sein. Und dafür scheint ihm der Dialog zwischen den Sozial- und Geschichtswissenschaften hilfreich.
Knöbls Ausgangspunkt ist die Skepsis gegenüber standardisierten Erklärungsmodellen in den Sozialwissenschaften, wie sie vor allem durch Prozessbegriffe repräsentiert werden: Modernisierung, Rationalisierung, Säkularisierung, Globalisierung und wie die vielen weiteren '-ierungen' nicht alle heißen. Mit dieser Skepsis kommt eine Verunsicherung zum Ausdruck, wie sie seit mindestens vier Jahrzehnten, mindestens seit Lyotards "Das postmoderne Wissen" auf der Agenda der wissenschaftlichen Diskussion steht. Sie ist dem Unbehagen geschuldet, dass diese Erklärungsmodelle zwar als unpassend entlarvt, politisch aber weiterhin wirkmächtig sind.
Es geht in Knöbls Buch letztlich also um die Gretchenfrage sozialen und historischen Wandels: Wie hältst du es mit der Transformation - und mit ihrer Beschreibung? Bei seinem Misstrauen gegenüber etablierten Prozessbegriffen hat Knöbl insbesondere mit der Modernisierung ein Hühnchen zu rupfen. Und er führt in seiner nicht nur überzeugenden, sondern auch fernab vom hermetischen Fachjargon geschriebenen Darstellung gewissermaßen eine alternative Geschichte der Sozialtheorie vor: Was wäre gewesen, wenn nicht Talcott Parsons, sondern der geschichtsphilosophisch denkende Raymond Aron zur sozialwissenschaftlichen Überfigur geworden wäre? Was wäre gewesen, wenn nicht die normative soziale Ordnung als Maxime über der Soziologie schweben würde, sondern die historische Situiertheit handelnder Personen?
Knöbl will es sich nicht nehmen lassen, eine solche Entwicklung zumindest nachträglich noch möglich werden zu lassen. Deswegen erzählt er eine, wenn man so möchte, verlorene Geschichte, wie nämlich Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie aus der Sozialtheorie verschwunden sind, obwohl sie einst deren Bestandteile waren. Er geht chronologisch vom späten 18. bis ins frühe 21. Jahrhundert vor, lässt dazwischen alle Größen sozialwissenschaftlicher Debatten auftreten: Marx, Weber, Durkheim, Luhmann und viele mehr. Gleichwohl sind es andere Namen, die in seiner Darstellung die Hauptrollen übernehmen, diejenigen, die der Historizität des Sozialen größere Bedeutung zumessen, aber nicht in der ersten Reihe der Theorietradition stehen: Neben Raymond Aron sind Georges Gurvitch, Siegfried Landshut, Andrew Abbott oder Michel Dobry die eigentlichen Helden in Knöbls Buch.
Dass sie eher in der zweiten oder dritten Theoriereihe zu finden sind, mag am Wissenschaftsdogma der unmittelbaren Nutzanwendung liegen. In einer wissenschaftlichen Diskussionslage, in der kurzfristig wirksame Ergebnisse über langfristig einsichtige Erkenntnisse gesetzt werden, in der ein Relevanzprimat die Wertigkeit wissenschaftlicher Produktivität auf die Bedeutsamkeit für die jetzt Lebenden beschränkt, kann es kaum verwundern, dass Fragen langfristiger Transformationen unter den Tisch fallen. Wenn das auch noch mit einem Modernisierungsparadigma korreliert, das die eigene Gegenwart ohnehin für den Höhepunkt bisheriger historischer Entwicklung hält, wird alles bisher Gewesene flugs zur 'Vorgeschichte' eingedampft.
Knöbl zeigt diese Nutzanwendungsfokussierung anhand des Aufstiegs der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg, als es darum ging, Modelle für die 'Entwicklung' der Welt nach dem Vorbild eines normierten westlichen Standards zu entwerfen. Mit diesem Angebot konnte die Soziologie nach 1945 wissenschaftlich und politisch punkten - mit Auswirkungen bis heute.
Knöbl belässt es aber nicht bei einer kritischen Revue, sondern zeigt unter Zuhilfenahme erzähltheoretischer Erkenntnisse Auswege aus der modernisierungstheoretischen Sackgasse. Und das scheint auch bitter nötig. Denn angesichts von Klimakrise, Schuldenbergen oder Bevölkerungsverschiebungen ist zwar klar, dass wir weiterhin mit der Frage nach den großen Transformationen konfrontiert sind - viel weniger klar ist jedoch, wie sich davon sinnvoll erzählen lässt. Nicht, dass Wandel stattfindet, ist problematisch, sondern wie sich diese Wandlungen beschreiben lassen, ohne in die unilinearen und teleologischen Muster einer Fortschrittsgeschichte einzumünden, wie sie uns (in säkularisierter Fortsetzung christlicher Muster) seit der Aufklärung begleitet.
Dabei ist die Geschichte, die Knöbl in seinem Buch erzählt, selbst nach eher herkömmlichem Muster gestrickt. Sie ist durchaus linear und durchaus in der Tradition konventioneller Wissenschaftserzählungen aufgebaut, soll heißen: sehr europäisch-westlich, sehr männlich dominiert und sehr von der Aufklärung bis in die eigene Gegenwart organisiert. Aber ungemein lesenswert ist das Buch trotz alledem, weil es offen bleibt gegenüber Irritationen, weil Knöbl auf wichtige Anregungen aus der Ethnologie und der postkolonialen Theorie setzt und weil er Wege in ein anderes Erzählen eröffnet.
Um also die Präposition 'vor' im Buchtitel aufzulösen und auf die Partnerschaft hinzuweisen, die Soziologie und Geschichtswissenschaft laut Knöbl eingehen sollten, müssen auch ganz andere Sichtweisen einbezogen werden, die aus räumlichen und zeitlichen Kontexten stammen, die nicht dem Paradigma der Moderne verpflichtet sind. Wir brauchen, wie Ashis Nandy einmal festgestellt hat, nicht nur alternative Geschichten, wir benötigen eine Alternative zur 'Geschichte'. Wolfgang Knöbl weist dahin den Weg. ACHIM LANDWEHR
Wolfgang Knöbl: "Die Soziologie vor der Geschichte". Zur Kritik der Sozialtheorie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 316 S., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Große Begriffe auf dem Prüfstand : Wolfgang Knöbl nimmt Beschreibungen des Wandels ins Visier
Ein Buchtitel, der zunächst einmal irritiert: "Die Soziologie vor der Geschichte". Wie ist die Präposition "vor" zu verstehen? Ist die Soziologie hierarchisch der Geschichte übergeordnet? Soll sie ihr zeitlich vorgängig sein? Oder wird sie gar vor deren Richterstuhl zitiert?
Der produktiven Irritation, die in dem Titel steckt, ist das Buch von Wolfgang Knöbl - Soziologe und Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung - auf mehrerlei Weise verpflichtet. Beliebigkeit will er durch diese Verwirrung sicherlich nicht andeuten, aber Bescheidenheit und Offenheit in Theoriebildungen sowie eine kritische Haltung gegenüber Versuchen, die sich allzu schnellen Vereindeutigungen überlassen, dürfen es schon sein. Und dafür scheint ihm der Dialog zwischen den Sozial- und Geschichtswissenschaften hilfreich.
Knöbls Ausgangspunkt ist die Skepsis gegenüber standardisierten Erklärungsmodellen in den Sozialwissenschaften, wie sie vor allem durch Prozessbegriffe repräsentiert werden: Modernisierung, Rationalisierung, Säkularisierung, Globalisierung und wie die vielen weiteren '-ierungen' nicht alle heißen. Mit dieser Skepsis kommt eine Verunsicherung zum Ausdruck, wie sie seit mindestens vier Jahrzehnten, mindestens seit Lyotards "Das postmoderne Wissen" auf der Agenda der wissenschaftlichen Diskussion steht. Sie ist dem Unbehagen geschuldet, dass diese Erklärungsmodelle zwar als unpassend entlarvt, politisch aber weiterhin wirkmächtig sind.
Es geht in Knöbls Buch letztlich also um die Gretchenfrage sozialen und historischen Wandels: Wie hältst du es mit der Transformation - und mit ihrer Beschreibung? Bei seinem Misstrauen gegenüber etablierten Prozessbegriffen hat Knöbl insbesondere mit der Modernisierung ein Hühnchen zu rupfen. Und er führt in seiner nicht nur überzeugenden, sondern auch fernab vom hermetischen Fachjargon geschriebenen Darstellung gewissermaßen eine alternative Geschichte der Sozialtheorie vor: Was wäre gewesen, wenn nicht Talcott Parsons, sondern der geschichtsphilosophisch denkende Raymond Aron zur sozialwissenschaftlichen Überfigur geworden wäre? Was wäre gewesen, wenn nicht die normative soziale Ordnung als Maxime über der Soziologie schweben würde, sondern die historische Situiertheit handelnder Personen?
Knöbl will es sich nicht nehmen lassen, eine solche Entwicklung zumindest nachträglich noch möglich werden zu lassen. Deswegen erzählt er eine, wenn man so möchte, verlorene Geschichte, wie nämlich Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie aus der Sozialtheorie verschwunden sind, obwohl sie einst deren Bestandteile waren. Er geht chronologisch vom späten 18. bis ins frühe 21. Jahrhundert vor, lässt dazwischen alle Größen sozialwissenschaftlicher Debatten auftreten: Marx, Weber, Durkheim, Luhmann und viele mehr. Gleichwohl sind es andere Namen, die in seiner Darstellung die Hauptrollen übernehmen, diejenigen, die der Historizität des Sozialen größere Bedeutung zumessen, aber nicht in der ersten Reihe der Theorietradition stehen: Neben Raymond Aron sind Georges Gurvitch, Siegfried Landshut, Andrew Abbott oder Michel Dobry die eigentlichen Helden in Knöbls Buch.
Dass sie eher in der zweiten oder dritten Theoriereihe zu finden sind, mag am Wissenschaftsdogma der unmittelbaren Nutzanwendung liegen. In einer wissenschaftlichen Diskussionslage, in der kurzfristig wirksame Ergebnisse über langfristig einsichtige Erkenntnisse gesetzt werden, in der ein Relevanzprimat die Wertigkeit wissenschaftlicher Produktivität auf die Bedeutsamkeit für die jetzt Lebenden beschränkt, kann es kaum verwundern, dass Fragen langfristiger Transformationen unter den Tisch fallen. Wenn das auch noch mit einem Modernisierungsparadigma korreliert, das die eigene Gegenwart ohnehin für den Höhepunkt bisheriger historischer Entwicklung hält, wird alles bisher Gewesene flugs zur 'Vorgeschichte' eingedampft.
Knöbl zeigt diese Nutzanwendungsfokussierung anhand des Aufstiegs der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg, als es darum ging, Modelle für die 'Entwicklung' der Welt nach dem Vorbild eines normierten westlichen Standards zu entwerfen. Mit diesem Angebot konnte die Soziologie nach 1945 wissenschaftlich und politisch punkten - mit Auswirkungen bis heute.
Knöbl belässt es aber nicht bei einer kritischen Revue, sondern zeigt unter Zuhilfenahme erzähltheoretischer Erkenntnisse Auswege aus der modernisierungstheoretischen Sackgasse. Und das scheint auch bitter nötig. Denn angesichts von Klimakrise, Schuldenbergen oder Bevölkerungsverschiebungen ist zwar klar, dass wir weiterhin mit der Frage nach den großen Transformationen konfrontiert sind - viel weniger klar ist jedoch, wie sich davon sinnvoll erzählen lässt. Nicht, dass Wandel stattfindet, ist problematisch, sondern wie sich diese Wandlungen beschreiben lassen, ohne in die unilinearen und teleologischen Muster einer Fortschrittsgeschichte einzumünden, wie sie uns (in säkularisierter Fortsetzung christlicher Muster) seit der Aufklärung begleitet.
Dabei ist die Geschichte, die Knöbl in seinem Buch erzählt, selbst nach eher herkömmlichem Muster gestrickt. Sie ist durchaus linear und durchaus in der Tradition konventioneller Wissenschaftserzählungen aufgebaut, soll heißen: sehr europäisch-westlich, sehr männlich dominiert und sehr von der Aufklärung bis in die eigene Gegenwart organisiert. Aber ungemein lesenswert ist das Buch trotz alledem, weil es offen bleibt gegenüber Irritationen, weil Knöbl auf wichtige Anregungen aus der Ethnologie und der postkolonialen Theorie setzt und weil er Wege in ein anderes Erzählen eröffnet.
Um also die Präposition 'vor' im Buchtitel aufzulösen und auf die Partnerschaft hinzuweisen, die Soziologie und Geschichtswissenschaft laut Knöbl eingehen sollten, müssen auch ganz andere Sichtweisen einbezogen werden, die aus räumlichen und zeitlichen Kontexten stammen, die nicht dem Paradigma der Moderne verpflichtet sind. Wir brauchen, wie Ashis Nandy einmal festgestellt hat, nicht nur alternative Geschichten, wir benötigen eine Alternative zur 'Geschichte'. Wolfgang Knöbl weist dahin den Weg. ACHIM LANDWEHR
Wolfgang Knöbl: "Die Soziologie vor der Geschichte". Zur Kritik der Sozialtheorie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 316 S., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Wir brauchen, wie Ashis Nandy einmal festgestellt hat, nicht nur alternative Geschichten, wir benötigen eine Alternative zur 'Geschichte'. Wolfgang Knöbl weist dahin den Weg.« Achim Landwehr Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220824