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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Tomás González ist der große kolumbianische Erzähler nach Márquez: Sein neuer Geschichtenband beweist es.
Zur großen Kunst von Tomás González gehört es, dass er uns die Menschen, über die er schreibt, sinnlich vor Augen führt. Das machen auch andere Schriftsteller, entscheidend aber sind die Mittel, die sie dabei verwenden.
González macht die Menschen sichtbar, indem er sie isoliert. Schon sein erster Roman - "Am Anfang war das Meer" (1983) - zeigt ein Liebespaar auf einer Insel, das dort ein anderes Leben führen will und dabei scheitert. Immer wieder proben seine Menschen den Ausbruch, und auch in dem Erzählband "Die stachelige Schönheit der Welt" ist es so.
Der Herausgeber Peter Schultze-Kraft legt eine gut komponierte und vorzüglich übersetzte Auswahl von Texten vor, die zwischen 1993 und 2019 entstanden sind. Neben den oft autobiographisch grundierten Romanen, die ihn in Deutschland bekannt gemacht haben, wird in diesem Band der weite Horizont sichtbar, den González in seinem Werk aufspannt. In manchen der Erzählungen spürt man einen epischen Atem, der einen ganzen Roman tragen könnte, und oft umfassen sie das gesamte Leben des Protagonisten oder eine entscheidende Phase, in der sein Leben eingekapselt ist.
Die erste Erzählung, "Ein unwahrscheinliches Grün" (1993), beginnt mit dem Satz: "Nach der Tragödie blieben sie noch eine Zeit lang in Bogotá." Ein naher Mensch scheint gestorben zu sein, aber darüber erfahren wir nichts, denn nicht von der Tragödie erzählt González, sondern von ihren Folgen im Leben des Mannes, den sie getroffen hat. Er ist ein erfolgreicher Maler, der - völlig aus der Bahn geworfen - eine Weile als Obdachloser lebt und nur mühsam wieder Fuß fasst. In den Bars, in denen er sich betrinkt, zeichnet er die Kunden, um Geld für Alkohol zu verdienen. "Die Zeichnungen waren so dunkel wie die Bars, und die Porträtierten, obwohl zu erkennen, waren halb von der Dunkelheit verschluckt. Doch das Dunkel kam nicht von den Orten, sondern aus einem bodenlosen Abgrund."
Dann steigt der Maler noch tiefer in die Unterwelt hinab, übernachtet in U-Bahn-Stationen, hängt "seine Zeichnungen an das Eisengitter einer Tür, die am Ende eines Gangs den Weg zu einer mit Unrat übersäten, in tiefes Dunkel führenden Treppe versperrte". Die Bilder "waren immer schwerer zu verstehen, sie schienen abstrakt zu sein", doch sah man genau hin, so "konnte man menschliche Gestalten erkennen, die im Dunkel gleich hinter dem verlöschenden Licht atmeten".
In den Zeichnungen, die diesen Niedergang begleiten, führt uns González die Bildhaftigkeit seines eigenen Erzählens vor. Die Geschichte spielt in den Vereinigten Staaten, denn nach der Tragödie hat der Maler Kolumbien verlassen, und wie vieles in den Werken des Schriftstellers hat auch das einen autobiographischen Hintergrund: 1950 in Medellín geboren, lebte González von 1983 bis 2002 in den Vereinigten Staaten, bevor er wieder in seine Heimat zurückkehrte.
Ein Grund für dieses lange Exil mag der mörderische Terror gewesen sein, der in Kolumbien herrschte. Die Guerilla-Kriege, in denen sich kommunistische Rebellen einst gegen ein korruptes System erhoben, waren längst zu Machtkämpfen verbrecherischer Drogenkartelle geworden. "La Violencia" war das Schlagwort einer ganzen Epoche, und oft, mehr oder weniger latent, ist in González' Romanen eine Gewalttätigkeit spürbar.
Ist das auch in der Geschichte von dem Maler so? Ist der Tod, der ihn aus seiner Bahn wirft, ein Mord gewesen? González sagt es uns nicht, und auch das ist ein Kennzeichen seiner Kunst: Er lässt vieles in der Schwebe, und der Leser muss das Ungesagte ergänzen, das hinter den Zeilen steht wie die Dunkelheit auf den Zeichnungen des Malers.
In "Gettopalmen" (2012) lesen wir, wie eine Bande kolumbianischer Drogenhändler in New York ihr Ende findet. Der Spitzel, der sie ans Messer liefert, heißt Ignacio, und in der Nacht, in der die Bande auffliegt, schleust die Polizei ihn und seine Geliebte ins Ausland. Im Hotel, in dem sie vor dem Abflug übernachten, will er mit ihr schlafen, sie aber weist ihn zurück. "Jetzt nicht", sagt sie zu ihm: "Wie kannst du nur? Doch nicht jetzt." Und so endet die Erzählung: "Ignacio hat nie herausfinden wollen, ob sie das, was danach kam, ,du Verräter, du Schwein', wirklich gesagt oder ob er es sich nur eingebildet, ob er es geträumt hat."
Klingt in diesem Ende auf der Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum der magische Realismus an, den wir seit Gabriel García Márquez mit der kolumbianischen Literatur assoziieren? González ist um eine Generation jünger, und die Mythen des Landes, mit denen Márquez noch aufgewachsen ist, stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Aber er weicht ihnen nicht aus, und in zwei Erzählungen setzt er sich mit ihnen auseinander.
In "Die Heimkehr der verlorenen Tante" (2016) stattet er die Titelfigur mit übernatürlichen Kräften aus, lässt mit wundervoll leichter Ironie eine Reihe komischer Szenen entstehen, bringt den Leser zum Lächeln. Im gleichen Jahr, 2016, erschien auch die letzte Erzählung des Bandes, "Reise an die Küste". Auch sie scheint ironisch zu sein, jetzt aber mischt sich Nachdenklichkeit in das Lächeln des Lesers.
Eine erste Fassung der Erzählung lag schon 2013 vor, als Márquez noch lebte. González hatte sie als Hommage für den Altmeister der kolumbianischen Literatur konzipiert, und in diesem Licht wird ihre Tiefe sichtbar. Ein alter Mann, Don Rafael, hat sein Gedächtnis verloren - wie Márquez selbst, der am Ende seines Lebens an Demenz litt. Früher reiste er jedes Jahr an die Küste, und auch diese Reise findet weiter statt, aber nur noch als Inszenierung: Das Wohnzimmer wird zum Zugabteil, auf den "Bahnhöfen" tritt die Familie in Verkleidungen auf, kontrolliert Fahrkarten, verkauft Speisen, die der Vater auf der Reise zu essen liebte, lässt eine erleuchtete Blechscheibe als "Mond" aufsteigen.
Doch das ist keine Parodie auf die Mythen der Vergangenheit, es ist ihre tiefste Interpretation. Heldin der Geschichte ist die alte Ehefrau, die das alles für ihren Mann tut. Solange er noch Freude an diesen Dingen hat, ist er am Leben - und darum kämpft sie mit aller Kraft.
Auch sie nimmt diese "Reise" ernst und denkt an die Verwandten, die an der Küste leben. Sie werden ihren Mann nicht mehr gehen lassen, weil die Rückfahrt zu schwer für ihn ist, sie aber wird ihn wieder nach Hause bringen. Erst wenn alle Freude ihres Mannes erlischt, heißt es im letzten Satz dieses schönen Buches, "erst dann würde sie - und wenn es ihr das Herz bräche - zulassen, dass Don Rafael die Reise mit dem Flugzeug, der Eisenbahn oder sonst was absagte und nicht mehr zurückkehrte".
JAKOB HESSING
Tomás González: "Die stachelige Schönheit der Welt". Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft u.a. Edition 8, Zürich 2021. 240 S., geb., 21,20 [Euro].
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