Traurige Wahrheit über das menschliche Dasein und seinen Verfall
Ganz plötzlich erblindet ein Mann in seinem Auto. Ein Hilfsbereiter bringt ihn nach Hause, nützt jedoch anschließend die Blindheit des Mannes aus und stiehlt dessen Fahrzeug. Doch auch er erblindet. In der Augenarztpraxis
multiplizieren sich die Opfer und dann geht es Schlag auf Schlag. Immer mehr Menschen erblinden und…mehrTraurige Wahrheit über das menschliche Dasein und seinen Verfall
Ganz plötzlich erblindet ein Mann in seinem Auto. Ein Hilfsbereiter bringt ihn nach Hause, nützt jedoch anschließend die Blindheit des Mannes aus und stiehlt dessen Fahrzeug. Doch auch er erblindet. In der Augenarztpraxis multiplizieren sich die Opfer und dann geht es Schlag auf Schlag. Immer mehr Menschen erblinden und schließlich reagiert das Ministerium auf die erkennbare Epidemie und kaserniert die Blinden, bald sogar schon die vermutlich Infizierten in einer alten Irrenanstalt. Einzig die Frau des Augenarztes bleibt verschont, hält diesen Vorteil jedoch lange für sich, um zunächst einfach nur ihrem Mann beizustehen, später um die Blinden einigermaßen sinnvoll zu unterstützen.
In unnachahmlicher Weise beschreibt der Nobelpreisträger Saramago ohne Umschweife und mangels jeglicher Störung durch überflüssige Satzzeichen zu verfolgen in seiner Allegorie die Entwicklung der Zufallsgemeinschaft mit ihren individuellen Schicksalen und Hoffnungen, Enttäuschungen und den sich schnell ergebenden Erniedrigungen. Es ist erschreckend, zu erfahren, wie sich Menschen verändern (können) und vermutlich wirkt das auch deshalb so stark, weil sich der Leser, die Leserin schnell selbst zu entdecken glaubt beziehungsweise erschreckt die Möglichkeit der Wesensveränderung auch bei sich erkennt.
Grausam, Ekel erregend und erschütternd bekommt man den Untergang des Menschlichen, der Verantwortung, Liebe, Seele, Zivilisation und Würde vor Augen geführt. Zudem verfolgt man die absolute Entgleisung zivilisatorischer Kraft, die völlig abstrus aus einer vormals demokratischen, aufgeklärten Gesellschaft binnen Stunden zu einer diktatorisch unterdrückten Masse mit verborgenen, aber nun aufbrechenden Perversionen mutiert. Es wird schnell deutlich, dass die genutzte Metapher des Autors greift: Blind sein bedeutet nicht nur Nichts zu sehen!
Als die zusammengepferchte Ansammlung lediglich Sehbehinderter – was prinzipiell wahrlich nicht Bedrohliches oder gar Abstoßendes darstellt – beginnt, in niedrigster Weise sich gegenseitig unter Missachtung jeglicher Grundwerte und angeeigneter oder erlernter Verhaltenskodizes zu verletzen, zu unterdrücken und zu erniedrigen, sich gegenseitig in einem aussichtslosen Kampf und menschenunwürdigen Umgang miteinander auszurotten, offenbart sich die Frau des Arztes mit ihrer Fähigkeit zu sehen als scheinbare Befreierin.
Die wieder gewonnene Freiheit ist nur eine vermeintliche, denn die vorherigen Werte und Besitztümer erweisen sich letztlich als überflüssig und wertlos, Grundbedürfnisse auf den Rücken Anderer zu befriedigen wird zum täglichen und einzigen Überlebenskampf. Die unsinnig Eingesperrten betreten das Ende der Zivilisation, das überall vorherrschende Chaos, gegen das die Sehende mit unbändiger und unerschütterlicher Kraft angeht und so überzeugend wirkt, dass sich gegen Ende ein Hoffnungsstreif am Firmament der durch Exkremente, Müll und Zerstörung gezeichneten Stadt erahnen lässt.
Die in der Geschichte versteckte oder auch offensichtliche Allegorie auf die Unmenschlichkeit im menschlichen Alltag, auf die Blindheit der Sehenden und Herrschenden, ergreift, rüttelt auf und lässt über die Grundanliegen der Gesellschaft, des Menschlichen an sich und den Sinn eines würdigen Lebens oder besser noch über die Würde eines Lebens nachsinnieren. „Die Stadt der Blinden“ ist ein einzigartiges Buch, das zu lesen Pflicht sein müsste, um die Bedeutung des menschlichen Miteinanders, den Wert der Solidargemeinschaft und die Kraft von Würde und Liebe für jede und jeden Einzelnen nachhaltig zu vermitteln.
© 8/2006, Uli Geißler, Freier Journalist, Fürth/Bay.