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Eine ummauerte Stadt, die nur betreten kann, wer seinen eigenen Schatten zurücklässt: Hier lebt das wahre Ich des Mädchens, in das sich der namenlose Erzähler mit siebzehn Jahren unsterblich verliebt. Er macht sich auf die Suche, gelangt in die Stadt und ihre geheimnisvolle Bibliothek, doch das Mädchen erkennt ihn nicht mehr. Unter rätselhaften Umständen gerät der Erzähler zurück in die Welt jenseits der Mauer. Er zieht nach Tokio, arbeitet im Buchhandel, hat wechselnde Freundinnen. Aber er kann das Mädchen nicht vergessen. Schließlich kündigt er und nimmt eine Stelle in einer alten Bücherei…mehr

Produktbeschreibung
Eine ummauerte Stadt, die nur betreten kann, wer seinen eigenen Schatten zurücklässt: Hier lebt das wahre Ich des Mädchens, in das sich der namenlose Erzähler mit siebzehn Jahren unsterblich verliebt. Er macht sich auf die Suche, gelangt in die Stadt und ihre geheimnisvolle Bibliothek, doch das Mädchen erkennt ihn nicht mehr. Unter rätselhaften Umständen gerät der Erzähler zurück in die Welt jenseits der Mauer. Er zieht nach Tokio, arbeitet im Buchhandel, hat wechselnde Freundinnen. Aber er kann das Mädchen nicht vergessen. Schließlich kündigt er und nimmt eine Stelle in einer alten Bücherei in der Präfektur Fukushima an. Die Erinnerung an die ummauerte Stadt kehrt mit aller Macht zurück, die Realität gerät knirschend ins Wanken – und der Erzähler muss sich fragen, was ihn an diese Welt bindet. Der neue große Roman von Haruki Murakami: ein melancholischer, zärtlicher und philosophischer Roman über eine verlorene Liebe, die Suche nach dem Selbst und die Möglichkeit, Mauern zu überwinden.
Autorenporträt
HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane ¿Die Ermordung des Commendatore¿ in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung ¿Die Chroniken des Aufziehvogels¿ (2020), der Erzählband ¿Erste Person Singular¿ (2021), ¿Murakami T¿ (2022) und ¿Honigkuchen¿ (2023). Ursula Gräfe, geboren 1956, hat in Frankfurt am Main Japanologie und Anglistik studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Yukio Mishima, Hiromi Kawakami und Sayaka Murata. Für DuMont überträgt sie die Werke Haruki Murakamis ins Deutsche. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2024

Mein wahres Ich ist meilenweit entfernt

Aber mein Schatten ist bei dir: Haruki Murakami greift für seinen neuen Roman "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" auf ein altes Motiv zurück.

Zwei japanische Teenager lernen sich auf der Preisverleihung eines Schreibwettbewerbs kennen, bei der sie beide für ihre Geschichten ausgezeichnet werden. Der Junge ist siebzehn, das Mädchen ein Jahr jünger. Sie tauschen ihre Adressen aus, schreiben sich Briefe und treffen sich schließlich regelmäßig zu langen Spaziergängen durch Tokio. Es kommt zu Küssen, aber nicht zu mehr, obwohl der Junge sich danach sehnt. Auch das Mädchen sagt ihm, sie wolle "ganz und gar dir gehören" und "eins mit dir sein", nur fühle sie sich noch nicht bereit dafür, denn "mein Geist und mein Körper sind getrennt. Sie sind an verschiedenen Orten." Das geht so weit, dass sie sich manchmal vorkommt "wie jemandes Schatten", während ihr "wahres Ich irgendwo anders" sei.

Damit ist ein Thema umrissen, das Haruki Murakamis neuen Roman "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" auf jeder Seite prägt. Wo denn das "wahre Ich" der Freundin sei, fragt der Siebzehnjährige, der den Roman über ebenso namenlos bleibt wie sie und noch zahlreiche andere Figuren. Das Mädchen erzählt von einer Stadt hinter einer Backsteinmauer, irgendwo am Ende der Welt, in der es kein Gas und keine Elektrizität gebe. Am Tor stehe ein Wächter, der jeden Morgen eine Herde Einhörner zum Grasen in die Stadt lasse und abends wieder hinaus. Ein Fluss, überspannt von drei Brücken, teile die Stadt in zwei Hälften. Im Zentrum stehe ein Uhrturm ohne Zeiger und unweit von ihm eine Bibliothek, in der ihr wahres Ich als Bibliothekarin arbeite. Übrigens habe niemand in der Stadt einen Schatten, und wer sie als Fremder betrete, müsse seinen Schatten beim Wächter abgeben. Einen Weg wieder hinaus gebe es nicht.

Murakamis Lesern dürfte das alles nicht fremd sein. Im Grunde ist es der dritte Anlauf, den der Autor nimmt, um jene Stadt literarisch zu erkunden. Noch bevor er sich aus dem von ihm gegründeten Jazzclub zurückzog, um nur noch zu schreiben, veröffentlichte er eine hundert Seiten lange Geschichte, die von einer solchen Stadt handelt. Wenig später, im Roman "Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt" von 1985, ist die Konstruktion ganz ähnlich, dem Buch ist sogar eine Karte der Stadt beigegeben, die deren Beschreibung im knapp vierzig Jahre jüngeren Roman sehr ähnlich sieht. Auch die Flucht, die der Held am Ende unternimmt, um seinen dahinwelkenden Schatten zu retten, und die finale Entscheidung, doch noch zu bleiben, während der Schatten ins Land jenseits der Mauer entkommt, steht so ähnlich in beiden Texten. Murakami erklärt das in seinem Nachwort: Er sei nicht ganz zufrieden mit den Lösungen gewesen, die er seinerzeit für das Sujet von der ummauerten Komplementärstadt gefunden habe, also habe er sich in der Corona-Zeit noch einmal darangemacht, die Geschichte neu zu erzählen.

Das Ergebnis ist ein funkelnder, überlegen komponierter Roman, der um Arabesken ärmer und an eindrucksvollen Bildern reicher ist als das frühere Werk. Das beginnt mit der Entstehungsgeschichte der Stadt, die hier den Gesprächen zwischen den jungen Liebenden zugeschrieben wird - das Mädchen erzählt, der Junge notiert jede Einzelheit in einem Heft, fragt auch mal nach, wenn ihm etwas unklar ist, und trägt mit Eigenem dazu bei. Die Liebesgeschichte, die bald an ein abruptes Ende kommt, weil das Mädchen einfach verschwindet, wird durch Schilderungen vom Aufenthalt des älter gewordenen Geliebten unterbrochen, der tatsächlich in die Stadt gelangt und das "wahre Ich" der Freundin dort antrifft - sie ist um keinen Tag gealtert, weiß nichts von ihm und der gemeinsamen Vergangenheit, ist ihm aber bei seiner Aufgabe behilflich, in der Bibliothek der Stadt die eiförmig materialisierten Träume früherer Bewohner zu lesen und zu deuten.

Oder verhält es sich ganz anders? Die Gewissheit des Mädchens über das wahre Ich in der Gegenwelt und den Schatten in der gewohnten Realität teilt der Erzähler nicht, der im zweiten Teil des Romans aus Tokio in eine Kleinstadt der Präfektur Fukushima flieht, um dort als Leiter der örtlichen Bibliothek zu arbeiten. Murakami spannt ein Netz von Verweisen auf, gewohnt aus und doch erheblich zwingender als in vielen seiner Bücher, bringt den Flüchtigen in Kontakt mit großartigen Nebenfiguren wie seinem geisterhaften Vorgänger, einem stillen jugendlichen Leser oder einer keuschen Coffeeshopbetreiberin und erweitert zugleich den Kreis derer, für die jene backsteinummauerte Stadt zum Sehnsuchtsort wird, zum Gegenmodell einer gewöhnlichen Welt, für die sie sich nicht gemacht fühlen.

Damit geht einher, dass der Roman zunehmend eine Hierarchie der Welten unterläuft. Wer real ist oder - in der Sprache des Romans - "wahr" und wer den Schatten darstellt, ist Ansichtssache und hängt nicht zuletzt davon ab, wer erzählt. Wenn gleich zu Beginn des Romans der Handlungsstrang der verliebten Teenager in der zweiten Person Singular erzählt wird ("anscheinend müde vom Gehen setzt du dich ins Gras"), dann lässt das die Möglichkeit offen, es handele sich um eine Fiktion, die der in die ummauerte Stadt gelangte Erzähler für die dortige Bibliothekarin entwirft - er spricht von einer gemeinsamen Geschichte, an die sie sich doch bitte erinnern soll. Und was hat es mit dem jungen Leser auf sich, der in der Kleinstadtbibliothek den Weg in die Sehnsuchtsstadt sucht, ohne dass seine Motive dafür deutlich würden, der aber in seiner Lesewut wiederum an den isolierten Liebenden des Anfangs erinnert und schließlich mit ihm verschmelzen wird - zwei Hälften einer Person, die jeweils ohne die andere ein unvollkommenes Leben führen?

"Ich fühlte einfach, dass diese Realität nicht zu mir passte", sagt der Erzähler, bevor er seine Arbeitsstelle in Tokio aufgibt, und dieses Gefühl teilt er mit einigen Gestalten dieses Romans, mutmaßlich auch mit manchem Leser. Murakami aber stellt auch die andere Seite dar, indem er die Verzweiflung des jungen Mannes über die in die Gegenwelt abdriftende Geliebte darstellt oder die hilflose Suche der Familie des jungen Lesers nach dessen Verschwinden.

Natürlich schließt sich hier der Kreis in Murakamis Werk, in dem solche Gegenwelten entdeckt werden und die Entdecker durchaus faszinieren, um später ihre bedrohliche Seite zu offenbaren. Denn die erzwungene Trennung vom eigenen Schatten ist ein überdeutlicher Hinweis des mit allen Wassern der Schauerromantik gewaschenen Autors auf den Preis, den man für das Glücksversprechen auf der anderen Seite der Mauer bezahlt, und auch die eigentlich verbotene Rückkehr auf die andere Seite der Welt sollte Warnung genug sein. Hinzu kommt, dass Murakamis Zeichensystem, allem voran die Reihe der quadratischen Räume im Herzen der jeweiligen Umgebung, die deutlich als Übergangsstellen gezeichnet sind, jeder Behauptung über die Gesetze der einen oder anderen Welt zuwiderläuft. Letztlich erschafft sich jeder seinen Kosmos inklusive aller Regeln, die jederzeit revidierbar sind.

Für die Liebenden vom Romananfang heißt das, dass ihre Welt, erzählt vom Mädchen und niedergeschrieben vom Jungen, so lange in ihrer Weise besteht, wie sich beide darüber einig sind. Ein gemeinsamer Fluchtort aber kann sie nicht sein. Auch wenn derjenige, der mit dem aufgeschlagenen Heft zurückbleibt, in mehreren Anläufen daraus einen Roman formt. TILMAN SPRECKELSEN

Haruki Murakami: "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer". Roman.

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont, Köln 2024. 640 S., geb., 34,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Zwei Welten durchdringen sich in Haruki Murakamis neuem Roman, führt Rezensentin Katharina Granzin aus. Ausgangspunkt ist eine in Du-Form erzählte Liebesgeschichte, ein 17-jähriger verliebt sich in eine 16-jährige, sie erzählt ihm von einer Stadt, in der ihr wahres Ich lebt, und in die er selbst auch bald einzieht, als Traumleser. Jahrzehnte später treffen wir den Erzähler dann laut Rezensentin in der echten Welt wieder, er zieht aus Tokyo in einen Bergort und arbeitet dort als Bibliothekar. Auch diese Realität ist allerdings, fährt die Zusammenfassung fort, nicht allzu stabil. Dass Murakami selbst einen Erklärungsvorschlag für diese Verschmelzung unterschiedlicher Welten in sein Buch einbaut, wenn er die Figuren über magischen Realismus sinnieren lässt, irritiert die die Rezensentin ein wenig. Sie selbst vergleicht die Erzählung mit japanischen Anime, insbesondere Hayao Miyazakis "Der Junge und der Reiher". Insgesamt hat Miyazaki ein reichlich düsteres Buch geschrieben, schließt die Rezension, aber gleichzeitig eines, das, auch dank der wieder hervorragenden Arbeit seiner Übersetzerin Ursula Gräfe, den typischen, trostreichen Murakami-Sog entwickelt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.01.2024

Zutritt nur
für Einhörner
Zu Haruki Murakamis 75. Geburtstag
erscheint sein neuer Roman
„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“.
Ein Buch, auf das man sich einlassen
muss, dann passiert Fantastisches.
VON ALEX RÜHLE
Haruki Murakami schreibt in seinem Werkstattbuch „Von Beruf Schriftsteller“, die Inspirationen für seine Romane würden ihn in der Regel „von der anderen Seite“ erreichen. Der japanische Autor ist überzeugt, dass es neben der realen eine oder mehrere weitere Welten mit ganz eigenen Gesetzen gibt, die untergründig miteinander verbunden seien. Im Zustand des Schreibens schaffe er es zuweilen, „die Seiten zu wechseln“.
In seinen Romanen steht plötzlich ein zweiter grüner Mond am Himmel. Ein Mann kann in einer Sauna mit einem Affen reden. Geister tauchen auf, Menschen gehen durch Wände, treten aus Bildern oder finden sich in einer anderen Epoche oder einem fremden Land wieder. All das passiert meist lautlos, als trete jemand auf einem dichten Teppich von hinten an einen heran und flüsterte einem en passant die Weltformel ins Ohr, nur leider in einer unverständlichen Sprache.
Die hypnotische Wirkung der Romane rührt nun daher, dass der erste bizarre Moment, das erste anormale Zittern im Raum-Zeit-Gefüge sich unaufhaltsam fortsetzt wie konzentrische Kreise, wenn man ein Steinchen ins Wasser wirft. Und so wie im Horrorfilm noch der harmloseste Gegenstand tödliches Schreckenspotenzial verströmt, so kann bei Murakami jedes physikalische Grundgesetz mit einem Halbsatz außer Kraft gesetzt werden.
In seinem neuen Roman „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ erklärt die namenlose 16-jährige Freundin des 17-jährigen, ebenfalls namenlosen Erzählers, sie sei nur „ein wandernder Schatten. (…) Mein wahres Ich lebt in der Stadt mit der hohen Mauer.“
Die Stadt, von der sie spricht, ist freilich kein realer Ort, sondern ihre eigene Erfindung. Der Junge fragt daraufhin nicht, ob sie einen im Tee habe oder psychiatrische Hilfe brauche, sondern lässt sich ganz entspannt mehr über ihre Stadt erzählen, einen Ort, an dem unsere exakte Zeit aufgehoben zu sein scheint: Es gibt in der Mitte der Stadt zwar einen Uhrturm, aber dessen Uhr hat keine Zeiger. Die Stadt ist umfasst von einer Mauer, die sich bewegt. Ein Wächter achtet darauf, dass die Stadt von niemandem verlassen oder betreten wird. Sie ist überhaupt nur zugänglich für Menschen ohne Schatten, einzig eine Herde Einhörner kann ungehindert rein und raus. Sie selbst, so erklärt das Mädchen seinem Freund, arbeitet in der Bibliothek der Stadt, in der auch für ihn ein Platz bereit sei, und zwar als Traumleser. „Unwillkürlich muss ich lachen. ‚Ich kann mich ja nicht mal richtig an meine eigenen Träume erinnern. Für so jemanden könnte es ziemlich schwierig werden, Träume zu lesen, meinst du nicht?‘ – ‚Es sind nicht seine eigenen Träume, die der Traumleser liest. Er muss die alten Träume aus dem Archiv der Bibliothek lesen.‘“
Alle Murakami-Romane haben die Struktur eines Möbiusbands. Das sind diese in sich gedrehten Schleifen, bei denen man nicht sagen kann, welche der beiden Seiten innen oder außen, oben oder unten ist. Die Frage, an der sich stets entscheidet, wie gut Murakamis Bücher gearbeitet sind, ist, wie sehr man beim Lesen den Übergang von der einen in die andere Welt spürt: Wirkt die surreale Welt wirklich real, oder bleibt es papierne Behauptung und liest sich demzufolge wie Fantasy-Fabulierereien? Oder um es mit dem Möbius-Bild zu sagen: Gleitet das Ganze magisch hin und her zwischen den beiden Welten, oder bleibt da ein Hubbel, eine plumpe Klebestelle, an der man merkt, ah, hier hat er die beiden Seiten ineinander gesteckt.
Treuen Murakami-Lesern ist die seltsame Stadt, von der das Mädchen erzählt, seit Langem bekannt. In „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“, Murakamis zweitem Roman von 1985, kommt sie ebenfalls vor, inklusive Einhörnern, zeitlosem Ambiente, Bibliothek ohne Bücher und schattenlosen Bewohnern, die sich so etwas wie eine Zukunft gar nicht vorstellen können. Das liegt nun nicht daran, dass ihm die Ideen ausgehen würden und er mittlerweile bei sich selbst abschreiben müsste, sondern an der besonderen Entstehungsgeschichte dieses Buchs.
Murakami kommentiert seine eigenen Texte äußerst ungern. Diesmal macht er eine Ausnahme: In einem kurzen Nachwort erklärt er, diesen Roman habe er 1980, also ganz zu Beginn seiner Karriere, schon mal versucht. „Hard-Boiled Wonderland“ sei dann eine Art Parallelroman und Gegenentwurf geworden, diese ursprüngliche Version aber habe er liegen lassen müssen. Dank Corona habe er sich nun ganz und gar zurückziehen können, drei Jahre kaum das Haus verlassen, Tag für Tag geschrieben, jetzt sei er doch sehr erleichtert, schließlich habe ihn dieser Text „immer beschäftigt, ja gestört, wie eine kleine Gräte, die in meiner Kehle feststeckte.“
Einhörner. Traumleser. Menschen ohne Schatten. Eine zeitlose Stadt. Darauf muss man sich erst mal einlassen. Anfangs ist da auch dieses Stutzen, come on, nicht schon wieder diese Einhörner mit ihrem goldenen Fell. Während aber beim Lesen von „Hardboiled Wonderland“ stets dieses Unbehagen blieb, weil das Ganze wie so ein Wechselbalg aus Thriller und Fantasy-Stuss wirkte, schafft Murakami es 40 Jahre später, dass der Text schon bald zu schweben beginnt. Und das, obwohl er diesmal gleich mehrere Möbiusbänder ineinander flicht. Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod, Schatten und Körper, die Übergänge werden jeweils eingeschmolzen, „die Dinge schienen sich zu vermischen“, wie sein Erzähler einmal nüchtern konstatiert. Dass das so gut gelingt, liegt zum einen daran, dass Murakamis Erzähler mit einer tiefen Liebe zum Alltag begabt ist, Bügeln, Kochen, Spazierengehen, Träumelesen, alles gleich wichtig, wodurch der wild wuchernde Plot tief in ein ruhiges, von klaren Handgriffen geprägtes und fast schon ritualisiert dahinlaufendes Dasein gebettet wird.
Dieser Erzähler, der vorher mehrmals betonte, die Stadt sei einzig der Fantasie seiner Freundin entsprungen, macht sich bald schon auf in ebendiese Stadt, um in der Bibliothek seine Freundin wiederzutreffen. Die kann sich nicht an ihn erinnern, hilft ihm aber bei seiner Aufgabe, die eiförmigen Träume der Bewohner zu lesen. Seinen Schatten musste er am Eingang abgeben, was diesem Schatten schlecht bekommt, er siecht so erbärmlich dahin, dass der Erzähler irgendwann beschließt, auf die andere Seite der Wirklichkeit zurückzukehren.
Die Parallelhandlung spielt Jahre später, der Erzähler hat sich nie von der Liebe zu dem seltsamen Mädchen erholt, jetzt lässt er sein Leben in Tokio hinter sich und zieht in eine winzige Stadt, um dort die Stelle des Bibliotheksleiters zu übernehmen. Sein hilfsbereiter Vorgänger, Herr Koyasu, trägt stets Röcke, weil er sich nach eigenen Worten darin fühlt „wie die Zeilen eines schönen Gedichts“.
Der Satz macht den Lesern überdeutlich klar, dass wir es hier mit einer Kunstfigur zu tun haben, die nur aus Zeichen besteht, Referenzen, Texten (und wer will, kann in diesem wie in allen bisherigen Murakamis haufenweise intertextuelle Verweise finden, auf Chamissos Schlemihl-Geschichte, auf Kafkas Wächter vor dem Gesetz, auf Márquez, Borges und Hemingway).
Und doch gewinnt man diesen Herrn Koyasu dermaßen lieb, dass man sich über jeden seiner Besuche freut. Ach ja, Herr Koyasu lebt übrigens gar nicht mehr, er ist bereits gestorben. Und ist mit seinen Röcken, seiner Baskenmütze und seiner zugewandten Art doch sehr viel präsenter und realistischer als das Personal vieler als Romane titulierten Wirklichkeitsabpinselungen.
Das Personal dieses Romans ist der zweite Grund dafür, dass man Murakami diesmal so bereitwillig und immer tiefer in sein Spiegellabyrinth folgt. Da ist der autistische Junge mit dem Yellow-Submarine-Pullover, der jeden Tag in die Bibliothek kommt und irgendwann spurlos verschwindet. Die gestrenge Frau Soeda, die mit ihrem Pragmatismus die kleine Bibliothek zusammenhält. Und die Betreiberin des kleinen Cafés am Ort.
Murakami spricht ja nicht gerne von sich selbst und seinem Schreiben. Weshalb er auch seine Autobiografie als Buch über das Laufen getarnt hat. In diesem wunderbaren Text („Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“) schafft er es, seine Frau genau zweimal auftauchen zu lassen, einmal als diejenige, die ihm das Essen zubereitet, ach ja, und meist wartet sie im Zieleinlauf auf ihn. Man kann das als Zeichen privater Diskretion deuten. Es passt aber auch dazu, dass die Frauenfiguren in Murakamis Romanen immer wieder irritierend blass und schemenhaft wirken. Vielleicht ist das seine größte Schwäche, Mädchen und Frauen, die nichts als schemenhafte Männerfantasien sind.
Anfangs denkt man auch hier, oje, schon wieder: Eine 16-Jährige in japanischer Schuluniform, die dann auch noch sagt, sie sei ja leider nur ein Schatten, na immerhin, poetologische Selbstkritik in späten Tagen. Aber dann taucht diese Cafébesitzerin auf, die, genau wie der Erzähler, aus ihrem früheren Leben in dieses Provinzstädtchen geflohen ist. Und was sich im Folgenden zwischen den beiden anbahnt, so zart und wirklich, das ist doch vielleicht das Allerschönste, was Haruki Murakami in seiner langen Zeit als Autor gelungen ist. An diesem Freitag wird er
75 Jahre alt.
Für diesen Roman hat er
drei Jahre kaum
das Haus verlassen
Warum sind Frauenfiguren
in seinen Romanen immer
wieder so irritierend blass?
Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont, Köln 2024. 640 Seiten, 34 Euro.
Die Idee zum Roman habe Haruki Murakami „immer beschäftigt, ja gestört, wie eine kleine Gräte, die in meiner Kehle feststeckte“.
Foto: Eugene Hoshiko / AP / dpa
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»[Murakami] schafft es, meine Wahrnehmung von Realität ein Stück weit zu verschieben.« Svenja Flaßpöhler, DAS LITERARISCHE QUARTETT »Seit E.T.A. Hoffmann hat niemand mehr so bezwingend und kunstvoll das Geheimnis der Poesie offenbart, die uns Leserinnen und Leser ein glückliches Doppelleben ermöglicht« Denis Scheck, TAGESSPIEGEL »Absolut bestechend, extrem befreiend und außerdem ein großes Leseabenteuer« Gert Scobel, 3SAT BUCHZEIT »Eine schaurig behagliche Weltflucht [...] in dieser sonst ja überhaupt nicht behaglichen Zeit« Ronald Düker, DIE ZEIT »So zart und wirklich, das ist doch vielleicht das Allerschönste, was Haruki Murakami in seiner langen Zeit als Autor gelungen ist« Alex Rühle, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG »Ein Triumph des Erzählens [...] ein funkelnder, überlegen komponierter Roman [...] [reich] an eindrucksvollen Bildern« Tilman Spreckelsen, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »[In] diesem Buch [wohnt] jene verlässliche, seltsame Murakami-Magie inne, die bewirkt, dass seine tiefe Traurigkeit paradoxerweise gleichzeitig auch tröstlich schön ist..« Katharina Granzin, DIE TAGESZEITUNG »Die einst unfertige Kurzgeschichte hat in diesem bemerkenswerten Roman eine Heimat gefunden.« Katharina Borchardt, DEUTSCHLANDFUNK KULTUR »Ich bin seinem sprachlichen Sog durchaus erlegen. Auch hier in diesem Buch kriegt er mich, allein schon durch diese wahnsinnig schöne, einfache, meditative Sprache, immer wieder am Wickel.« Iris Radisch, DIE ZEIT Podcast Was liest du gerade? »Es ist als würde man am Meer sitzen und zuzusehen, wie die Welle sich bricht. [...] Das hat etwas unglaublich meditatives.« Bettina Steiner, DIE PRESSE Podcast Bücherei »Einen Murakami lesen, ist wie Pause machen« Katharina Borchardt, SWR JOURNAL AM ABEND »Ein packender und zutiefst menschlicher Roman« Barbara Geschwinde, WDR »Dies ist ein ganz großer Roman, dass hat sicherlich auch damit zu tun, dass er ganz großartig übersetzt ist von Ursula Gräfe [...] und das ist sicher auch ein Grund dafür, dass sich dieser Roman ganz leicht liest und diesen flirrenden Effekt hat, den niemand so beherrscht wie Haruki Murakami« Katrin Schumacher, MDR KULTUR UNTER BÜCHERN »Ein Page-Turner mit hypnotischer Wirkung: Einmal drin, kommt man nicht wieder raus« Roland Gutsch, PROG & PROSA »Der Murakami-Sound: Sein schnörkelloses, klares Erzählen hat eine eigenartige Sogwirkung.« Juliane Liebert, STERN »Eine Art heitere Meditation« Wolfgang Höbel, DER SPIEGEL »Murakami zu lesen, ist wie mit offenen Augen zu träumen« Peter Praschl, DIE WELT AM SONNTAG »Meister Murakami [schreibt] zärtlicher, ruhiger und bewusstseinserweiternder denn je.« Günter Keil, PLAYBOY »Murakami in Bestform« Angela Wittmann, BRIGITTE »Gerade 75 geworden, beweist Japans Literaturstar [...] wieder seine Meisterschaft.« HÖRZU »Murakami rückt Mauern - reale wie metaphorische - und deren Überwindung ins Licht.« Yuriko Wahl-Immel, DEUTSCHE PRESSE-AGENTUR »Er [bringt] alles zum Leuchten, was seine Literatur ausmacht. [...] Schreibend beweist sich Murakami seit Jahrzehnten als Meister des Unbewussten [...] Murakami erzählt hier eine Liebesgeschichte, wie sie nur große Autoren schreiben können.« Thomas Hummitzsch, DER FREITAG »[Haruki Murakami] hat sich und unserer atemlosen Zeit ein Geschenk gemacht.« Bettina Steiner, DIE PRESSE »Murakami ist abermals ein faszinierender psychologischer Entwicklungsroman gelungen - mit seinen typischen Motiven der Einsamkeit des Großstädters, viel Jazz-Musik, romantischen Begegnungen und gemeinsamem Kochen« Florian Schmid, NEUES DEUTSCHLAND »Der Murakami-Ton ist immer wieder magisch. [...] Er hat etwas, dass einen immer wieder in seinen Bann zieht [...] » [Murakami verknüpft] absolute Simplizität mit dem großen Anspruch einer Wiederverzauberung des Alltags. [...] ein typischer Murakami.« Iris Radisch, SWR2 »Ein Roman voller Poesie [...] wieder ist ihm ein packendes, zutiefst menschliches und feines Buch gelungen.« Barbara Geschwinde, WDR »ein Meisterwerk« Welf Grombacher, MÜNCHNER MERKUR »Wieder einmal ein Meisterwerk.« Ulrike Borowczyk, BERLINER MORGENPOST »Murakami, dessen eleganten, flotten und punktuell saloppen Stil Ursula Gräfe in ein wunderbar unbeschwertes Deutsch übersetzt hat, weiß wie immer mit exquisiten Vergleichen und Bildern zu überraschen.« Judith von Sternburg, FRANKFURTER RUNDSCHAU »Zwanglos bewegt er sich zwischen Tiefsinn und Kolportage, zwischen Ost und West, Pop- und Hochkultur, Fantastik und ausgenüchtertem Realismus - und hat bei alldem einen so eigenen Ton gefunden [...]« Stefan Kister, STUTTGARTER ZEITUNG »Die Mischung aus mystischen und realistischen Elementen macht den Reiz vieler Murakami-Geschichten aus. [...] Fließend entfalten sich die Geschichten auf mehreren Ebenen« Bettina Thienhaus, NÜRNBERGER NACHRICHTEN »Einmal mehr wirft Haruki Murakami Träume in die Luft, jongliert mit Erinnerung, Wahrheit, Möglichkeit und Erfindung und räumt dem Bewusstsein einen Platz zwischen den Sternen ein.« Ingrid Mylo, BADISCHE ZEITUNG »Er versteht es, Unglaubliches fast plausibel darzustellen. Nach der Lektüre betrachtet man die Welt eine Zeit lang etwas anders: durch Murakamis Brille.« Sebastian Fasthuber, FALTER »Ehe man sich versieht, fühlt man sich in der Stadt mit den Mauern und ohne Zeit genauso zu Hause wie in dem von den Bergen umgebenen Ort in der Region Fukushima.« Gerrit Bartels, TAGESSPIEGEL »Am Ende ist eine mystische Welt entstanden, wie sie nur wenige außer Haruki Murakami erschaffen können. Beeindruckend. Großartig. Lesenswert. « Andreas Hartl, LITERATURBLOG…mehr