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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zerstreute Gymnastikübungen am Lido: Matthias Zschokke entdeckt eine zu Tode beschriebene und fotografierte Stadt neu
"Bloß vorher nichts lesen über Venedig", beschwört Matthias Zschokke eine besuchswillige Mitarbeiterin seines Verlags, "sonst verzweifelt man hier, weil man immer denkt, man müsse noch dies und das besichtigen. Ich habe bis heute noch nichts gesehen von dem, was man gesehen haben muss, und fürchte, das wird bis zuletzt so bleiben." Da wohnt der aus der Schweiz stammende, in Berlin lebende Autor seit zwei Wochen in einer fürstlichen Wohnung mitten in der Lagunenstadt, und der Blick aus dem Fenster auf eine vielbefahrene Kanalkreuzung überwältigt ihn stets aufs Neue. Jeden Tag grübelt er darüber nach, wie die Treppenhäuser des fünfstöckigen Palazzos ineinander verschachtelt sein könnten, denn jede Wohnung hat ihre eigene Treppe, nach Leonardo da Vinci benannt, der als Erster solche Treppenbündel für Mehrparteien-Palazzi konstruierte.
Wie schreibt man über eine Stadt, die so oft fotografiert und beschrieben wurde, dass sie vielleicht nur noch als ihr eigenes Klischee existiert? Wir kennen den Autor als anarchischen und empfindsamen Reisenden, der sich für die verborgenen Winkel eines Bahnhofs und vergessene Cafés mehr interessiert als für den berühmten Dom gegenüber und der seinen Ich-Erzähler ("Auf Reisen") ein unverhofftes Glück in einem Wüstenimbiss außerhalb von Amman finden lässt. Auch "Die strengen Frauen von Rosa Salva" ist ein Abenteuerbuch dieser besonderen Art, wobei das nicht nur mit dem eigensinnig-insistierenden Blick des Erzählers und seinem Gefühl existentieller Fremdheit zusammenhängt, sondern auch mit der Mail-Form. Ihr besonderer Sound lässt sich, wie der Autor sagt, nicht simulieren, sondern erzeugt beim Schreiben ein eigenes Tempo und einen speziellen mündlich-unmittelbaren Stil.
Sein erzählendes Ich wandert schüchtern, neugierig und verstört durch diese verspielte und hysterische, mal überfüllte, mal menschenleere Stadt und verweigert sich allem, was Schriftsteller und Kunsthistoriker zu den Gassen und Kirchen, den verborgenen Plätzen, idyllischen Trattorien und Bootsanlegestellen geschrieben haben (vieles davon weiß er natürlich und mokiert sich an passender Stelle darüber). Er möchte alles sehen und riechen, am liebsten würde er in diesen ganzen Stadtkörper hineinbeißen, um ihn mit allen Nerven und Sinnen festzuhalten. In mehreren Mails täglich berichtet er von seinen Erlebnissen, bewusst auch widersprüchliche Eindrücke festhaltend: von den unscheinbaren Kirchen, in denen er sich ausruht und ständig über Bilder von Tintoretto stolpert, aber auch von seiner Entdeckung einer überraschenden und unsinnigen Schönheit, die sich ihm in Gestalt einer bröckelnden, asymmetrischen und vergessenen Putte offenbart.
Natürlich holt ihn die Realität in Gestalt von schwierigen Lesereisen und Verrissen (seines gerade erschienenen Romans "Der Mann mit den zwei Augen") immer wieder ein, und er schimpft nebenher so lustvoll über Kollegen wie Ransmayr und Kehlmann und Klassiker wie Goethe und Arno Schmidt, dass es eine Freude für den Leser ist. Ein lebendiger, temporeicher und sehr witziger Roman ist so entstanden, dessen Hauptfiguren neben dem Erzähler eine Opernsängerin, die Frau-die-zur-Wohnung-schaut und natürlich Nils sind (den wir schon aus dem Mail-Roman "Lieber Nils" kennen). Ihm vertraut der Erzähler die intimsten Sorgen an, Wäscheprobleme, einen verdorbenen Magen und wehe Füße, Selbstzweifel und Schreibblockaden, während er mit bissigem Charme Seite um Seite füllt. Manchmal zanken die beiden wie ein altes Ehepaar, und Nils verspottet ihn als "Gastgeberschmerzensmann", weil das Hauskonzert, das er veranstalten will, ihm Albträume verursacht.
Ganz anders klingen die Mails an die Opernsängerin. Hier schildert Zschokke selbstironisch und spielerisch die Stadt als Traumlandschaft, in der Wunder zum Alltag gehören und deren Bewohner er wegen ihrer Selbstversunkenheit liebt - wie den korpulenten Herrn am Lido, der zerstreut einige Gymnastikübungen vollführt und, übers Meer schauend, immer wieder vergisst, sich zu bewegen.
Scheinbar erzählt uns der Autor seine ganz privaten Venedig-Erlebnisse in diesem Buch, und doch ist hier ein echter Zschokke-Held, ein Abbild von Maurice oder dem "Mann mit den zwei Augen", unterwegs, ein Gefühls-Albino, der liebevoll mit den Menschen hadert, an die tiefere Wahrheit des Beiläufigen glaubt und das richtige Leben im falschen sucht - und genau dabei wird ihm diese brüchige, manieristische und überdrehte Stadt zu einem Glücksort.
Die ganze Traurigkeit, die er aus Berlin mitgebracht hat, ist plötzlich verschwunden, denn hier, wo alles ringsum auf außerirdische Weise künstlich und unecht wirkt, ist es weder nötig, Kunst herzustellen noch etwas zu simulieren; hier kann der Schriftsteller endlich nur er selbst sein und sich im Alltag und dessen Übertragung aufs Papier verlieren und damit der Welt ein wenig habhaft werden. Man muss den Roman auch als raffiniertes Spiel von Zeigen und Verbergen lesen, ein erzähltes Anti-Theater, wo Maske und Rolle der Schauspieler nur aus scheinbar offenherzigster Selbstdarstellung bestehen.
Wie schon zuvor in "Lieber Nils" wird der Ich-Held hier dem Leben und seiner eigenen Entwicklung ausgesetzt und protokolliert dabei eindringlich und spöttisch, was mit ihm geschieht. Doch man lasse sich von dieser eindrucksvollen "Operation am offenen Herzen" nicht verunsichern: Das Buch funktioniert perfekt als kluge und sinnliche Reiseanleitung, und man bekommt sofort Lust, im Labyrinth dieser verrückten Stadt zu verschwinden.
NICOLE HENNEBERG
Matthias Zschokke: "Die strengen Frauen von Rosa Salva".
Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 416 S., geb., 22,90 [Euro].
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