Ein halbes Jahr Venedig. Eine Feier der Sinne. Matthias Zschokke berichtet davon so mitreißend, dass man meint, man wäre dabeigewesen. Oder man müsse sofort hin. Solch ein Buch über Venedig ist noch nicht geschrieben worden! Es überwältigt, weil es die Überwältigung durch diese Stadt mit Leidenschaft, Beobachtungsgenauigkeit und hinreißender Lakonie erfahrbar macht. Auf der einen Seite sieht der Autor selbst alles wie zum ersten Mal, andererseits gehört er zu den residenti, den Einheimischen, die im Vaporetto nicht Touristenpreise zahlen und ihren Macchiatone an der Bar im Stehen trinken. Ab Frühsommer 2012 lebt Matthias Zschokke für ein halbes Jahr in Venedig; vielleicht sollte man besser sagen: er lebt diese Stadt und notiert, was er sieht, riecht, schmeckt, hört und erfährt: nicht in ein stilles Tagebuch, sondern in Mails an Freunde, Verwandte, Kollegen. Zschokkes ansteckende Neugier bewahrt ihn vor allem Idyllischen, sie richtet sich auf die ganze Welt, will alles erfahren, was man wissen kann. Ein schillerndes Kaleidoskop entsteht so, handelnd vom großen Ganzen und den kleinsten Marotten, vom Theaterdonner und vom Literaturbetrieb und von den wirklichen Dingen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicole Henneberg ist schon los nach Venedig. Nachdem sie Matthias Zschokkes Aufenthaltsbericht in Mail-Form aus der Lagunenstadt gelesen hat, hält sie nichts mehr. Hin zu den erotischen Putten und dem alles verschönernden rosa Licht! Als empfindsamen, gegen Klischees und alles schon von anderen Gesehene anschriebenden Reisenden erlebt sie den Autor auch in diesem Buch. Ob Zschokke Tintoretto begegnet oder seinem eigenen verdorbenen Magen - stets beglückt er die Rezensentin mit "bissigem Charme", Selbstironie und einem spielerischen Zugang zur Wirklichkeit. Als sinnliche Reiseanleitung unbedingt zu empfehlen, meint Henneberg.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2014Zum Frottieren auf den Markusplatz
Glücksrausch in Venedig. Ein halbes Jahr war Matthias Zschokke Stipendiat in der Lagunenstadt. Daraus entstand
sein Roman „Die strengen Frauen von Rosa Salva“, eine Kette von E-Mails, Notaten, Reflexionen
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Die Chuzpe muss man erst einmal haben, auch als Verleger: Ein Schriftsteller hält sich als Gast einer Schweizer Kulturstiftung ein halbes Jahr in Venedig auf; er soll dort möglichst einen neuen Roman beginnen, kommt jedoch nicht zum Arbeiten, weil die Stadt und einige andere Dinge ihn zu sehr ablenken. Ersatzweise werden die E-Mails, die er von der Lagune an Freunde, Verwandte und Bekannte schickt, zu einem 400-Seiten-Opus arrangiert und mit einem Titel versehen, der für Uneingeweihte geheimnisvoll klingt und für Kenner interessant, verleiht er doch dem Personal einer berühmten venezianischen Pasticceria so etwas wie eine klösterliche Aura: „Die strengen Frauen von Rosa Salva“. Fertig ist ein Venedig-Buch, wie es, wer wollte das bestreiten, „noch nicht geschrieben wurde“.
Kann das funktionieren? Ja, wenn der Schriftsteller Matthias Zschokke heißt. Zschokke ist Berner, also Hardcore-Schweizer, lebt jedoch seit Vorwendezeiten in Berlin, und der Jahrgang 1954 bürgt für die literarische Sozialisation in einem Umfeld, das sogar beim diesjährigen Bachmann-Preis noch seine Nachhaltigkeit bewiesen hat. Zschokkes E-Mails sind lange Briefe; die Briefe wiederum, ohne Anrede- und Grußformeln, sind Tagebuchnotate in traditioneller Manier. Dass sie auf elektronischem Weg verschickt wurden, spielt für Form und Inhalt keine Rolle, sieht man einmal davon ab, dass das digitale Medium jene ausufernden Redundanzen begünstigt, mit denen der Autor schon in seinem 2011 erschienenen, gemailten Hauptstadtroman „Lieber Niels“ manche Leser ermüdet, andere hingegen süchtig gemacht hat.
Auch seine Venedig-Aufzeichnungen handeln keineswegs nur von der Stadt, in der Zschokke von Juni 2012 bis Januar 2013 residieren durfte, sondern so ziemlich von allem, was den Stipendiaten in jenem Halbjahr beschäftigte oder ihm, wie man in seinen jüngeren Jahren gesagt hätte, durch die Rübe rauschte. Genau das passt aber vortrefflich zu Venedig: die Überflutung, das ziel- und richtungslose Umherschweifen, das Kreiseln im Labyrinthischen und die ständige Versuchung, sich auf Abwege zu begeben, die dann unverhofft ins Leere laufen können. So wirkt das Ganze durchaus stimmig, auch wenn man dem Autor nicht gleichbleibend animiert in alle Seitenkanäle und Sackgassen seiner Reflexionen, Erinnerungen und Befindlichkeiten folgen mag und sich, etwa beim Durchwaten von Literaturbetriebsklatsch, Besuchslogistik oder anderen Privatheiten, kleine Abkürzungen der Leseroute gestattet, um möglichst rasch zum Kernthema „Venedig“ zurückzukehren.
Denn was das betrifft, hat diese Mail-Suada einen ebenso originellen wie grundsympathischen Zug: Matthias Zschokke, der vor seinem Stipendiatenglück die Stadt nur von einem Jahrzehnte zurückliegenden Kurzbesuch in Erinnerung hatte, traut sich, der tausendfach totgeredeten Serenissima in einem Zustand kompletter Unschuld und Ahnungslosigkeit zu begegnen. Statt mit Kennerschaft zu kokettieren oder mit angelesenem Wissen zu winken, geht er wie ein staunendes Kind durch die geschundene Wunderstadt und notiert im „Glücksrausch“ alles, was ihm auffällt, so als wäre er der erste schreibende Venedig-Besucher aller Zeiten.
Im Zustand permanenter Überwältigung scheut der Dichter freilich weder Banalitäten („Man kommt an und denkt, das kenne man alles von Ansichtskarten“) noch kühne Behauptungen wie die (später revidierte), dass man in Venedig nirgends gut essen könne. Oder dass die Salonorchester auf dem Markusplatz „immer nur eins nach dem anderen“ spielen und „nie zwei gleichzeitig“, um einander nicht zu stören – wo doch der kakophonische Genuss, den es bereitet, genau in der Mitte zwischen dem Orchester des „Florian“ und dem des „Quadri“ zu stehen, längst in die Literatur eingegangen ist. Auch kann nur jemand, dem die rosa Brille am Kopf festgeschraubt und der Blick vom orangegelben Sprizz vernebelt ist, der Meinung sein, hier sähe alles noch „genau gleich“ aus wie vor dreißig, vierzig oder hundert Jahren.
Trotz alledem hat der Zschokke-Cocktail aus echter und gespielter Naivität, klugen Beobachtungen, unbekümmert recycelten Klischees und persönlichen Epiphanien einen Charme, dem man sich kaum entziehen kann. Bei der Schilderung des Feuerwerks zum Redentore-Fest geht es haarscharf an der Geschmacksgrenze entlang, wenn von „syrischer Tonkulisse“ und einem „Assad-Finale“ die Rede ist. Dann aber findet der Autor für die Auflösung der Zuschauermenge nach dem Spektakel ein Bild, für das man ihn, wenn man einmal dabei war, schier küssen möchte: „Das war fast noch schöner als das Feuerwerk. Der ganze Canal Grande dicht gesprenkelt von unterschiedlichsten Booten mit roten und grünen Positionslichtchen, die alle in eine Richtung strömten (viele Gondeln dazwischen). Ein Auszug aus Ägypten. Alles in tiefster Finsternis. Ein Brodeln und Raunen, als hätte der Weltbund der Heinzelmännchen sein Jahrestreffen abgehalten.“
Fast schon genial ist die Denkfigur, mit der er, in einer Mail an seine Übersetzerin, den täglichen Horror der Besuchermassen umdeutet: „Touristen? Die stören nicht. Im Gegenteil. Sie wirken wie der Bettler, der am ersten Januar bei bitterer Kälte vor der Wohnung eines reichen russischen Schriftstellers auf und ab gehen und sich in dessen Auftrag stundenlang die Hände reiben und ,was für eine elende Kälte‘ murmeln musste, damit der Schriftsteller seinen Erfolg, seine warme Wohnung und sein gutes Essen zum Auftakt des neuen Jahres richtig genießen konnte.“ Statt, wie der durchschnittlich empfindsame Teilzeit-Venezianer, auf den „träge sich dahinwälzenden Strom von hyperventilierenden, schwitzenden Menschen in kurzen Hosen und ärmellosen Leibchen“ depressiv oder aggressiv zu reagieren, benutzt Zschokke sie als Folie, die das Privileg, am Sehnsuchtsziel von Millionen Tagesvagabunden einen komfortablen Rückzugsort zu haben, umso heller erstrahlen lässt. Damit nicht genug: „Sich am Markusplatz oder am Rialto tagsüber ein Viertelstündchen frottieren zu gehen an den pudrig weißen Japanerinnen oder an den rotgesichtigen Russen, das ist ein Genuss.“
Vor den Chinesen allerdings, die mittlerweile die halbe Stadt aufgekauft haben und sich nicht mehr wegfrottieren lassen, kneift der Entzückte die Augen fest zu, wie auch vor den immer bedrohlicheren Auswirkungen des Hochwassers, das er nur als märchenhaftes Spektakel wahrnimmt. Seinen Kulturpessimismus arbeitet er an Themen ab, die nichts mit Venedig zu tun haben, dafür umso mehr mit der zeitgenössischen Literaturszene. Die Enttäuschung über die mangelnde Resonanz auf seinen Roman „Der Mann mit den zwei Augen“ zieht sich als running gag durch das Buch und zeitigt Aperçus, aus denen sich eine halb selbstironische, halb ernst gemeinte Poetik zusammensetzen lässt. Etwa: „Kunst ist das, was vom Mittelmaß verachtet, nicht das, was von ihm bewundert wird.“
Venedig hält einen fest im Zustand permanenter Überwältigung, fasziniert von der Evidenz seiner Ansichtskarten.
Foto: Bernd Jonkmanns/laif
Matthias Zschokke:
Die strengen Frauen von Rosa Salva. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 414 Seiten, 22,90 Euro. E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Glücksrausch in Venedig. Ein halbes Jahr war Matthias Zschokke Stipendiat in der Lagunenstadt. Daraus entstand
sein Roman „Die strengen Frauen von Rosa Salva“, eine Kette von E-Mails, Notaten, Reflexionen
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Die Chuzpe muss man erst einmal haben, auch als Verleger: Ein Schriftsteller hält sich als Gast einer Schweizer Kulturstiftung ein halbes Jahr in Venedig auf; er soll dort möglichst einen neuen Roman beginnen, kommt jedoch nicht zum Arbeiten, weil die Stadt und einige andere Dinge ihn zu sehr ablenken. Ersatzweise werden die E-Mails, die er von der Lagune an Freunde, Verwandte und Bekannte schickt, zu einem 400-Seiten-Opus arrangiert und mit einem Titel versehen, der für Uneingeweihte geheimnisvoll klingt und für Kenner interessant, verleiht er doch dem Personal einer berühmten venezianischen Pasticceria so etwas wie eine klösterliche Aura: „Die strengen Frauen von Rosa Salva“. Fertig ist ein Venedig-Buch, wie es, wer wollte das bestreiten, „noch nicht geschrieben wurde“.
Kann das funktionieren? Ja, wenn der Schriftsteller Matthias Zschokke heißt. Zschokke ist Berner, also Hardcore-Schweizer, lebt jedoch seit Vorwendezeiten in Berlin, und der Jahrgang 1954 bürgt für die literarische Sozialisation in einem Umfeld, das sogar beim diesjährigen Bachmann-Preis noch seine Nachhaltigkeit bewiesen hat. Zschokkes E-Mails sind lange Briefe; die Briefe wiederum, ohne Anrede- und Grußformeln, sind Tagebuchnotate in traditioneller Manier. Dass sie auf elektronischem Weg verschickt wurden, spielt für Form und Inhalt keine Rolle, sieht man einmal davon ab, dass das digitale Medium jene ausufernden Redundanzen begünstigt, mit denen der Autor schon in seinem 2011 erschienenen, gemailten Hauptstadtroman „Lieber Niels“ manche Leser ermüdet, andere hingegen süchtig gemacht hat.
Auch seine Venedig-Aufzeichnungen handeln keineswegs nur von der Stadt, in der Zschokke von Juni 2012 bis Januar 2013 residieren durfte, sondern so ziemlich von allem, was den Stipendiaten in jenem Halbjahr beschäftigte oder ihm, wie man in seinen jüngeren Jahren gesagt hätte, durch die Rübe rauschte. Genau das passt aber vortrefflich zu Venedig: die Überflutung, das ziel- und richtungslose Umherschweifen, das Kreiseln im Labyrinthischen und die ständige Versuchung, sich auf Abwege zu begeben, die dann unverhofft ins Leere laufen können. So wirkt das Ganze durchaus stimmig, auch wenn man dem Autor nicht gleichbleibend animiert in alle Seitenkanäle und Sackgassen seiner Reflexionen, Erinnerungen und Befindlichkeiten folgen mag und sich, etwa beim Durchwaten von Literaturbetriebsklatsch, Besuchslogistik oder anderen Privatheiten, kleine Abkürzungen der Leseroute gestattet, um möglichst rasch zum Kernthema „Venedig“ zurückzukehren.
Denn was das betrifft, hat diese Mail-Suada einen ebenso originellen wie grundsympathischen Zug: Matthias Zschokke, der vor seinem Stipendiatenglück die Stadt nur von einem Jahrzehnte zurückliegenden Kurzbesuch in Erinnerung hatte, traut sich, der tausendfach totgeredeten Serenissima in einem Zustand kompletter Unschuld und Ahnungslosigkeit zu begegnen. Statt mit Kennerschaft zu kokettieren oder mit angelesenem Wissen zu winken, geht er wie ein staunendes Kind durch die geschundene Wunderstadt und notiert im „Glücksrausch“ alles, was ihm auffällt, so als wäre er der erste schreibende Venedig-Besucher aller Zeiten.
Im Zustand permanenter Überwältigung scheut der Dichter freilich weder Banalitäten („Man kommt an und denkt, das kenne man alles von Ansichtskarten“) noch kühne Behauptungen wie die (später revidierte), dass man in Venedig nirgends gut essen könne. Oder dass die Salonorchester auf dem Markusplatz „immer nur eins nach dem anderen“ spielen und „nie zwei gleichzeitig“, um einander nicht zu stören – wo doch der kakophonische Genuss, den es bereitet, genau in der Mitte zwischen dem Orchester des „Florian“ und dem des „Quadri“ zu stehen, längst in die Literatur eingegangen ist. Auch kann nur jemand, dem die rosa Brille am Kopf festgeschraubt und der Blick vom orangegelben Sprizz vernebelt ist, der Meinung sein, hier sähe alles noch „genau gleich“ aus wie vor dreißig, vierzig oder hundert Jahren.
Trotz alledem hat der Zschokke-Cocktail aus echter und gespielter Naivität, klugen Beobachtungen, unbekümmert recycelten Klischees und persönlichen Epiphanien einen Charme, dem man sich kaum entziehen kann. Bei der Schilderung des Feuerwerks zum Redentore-Fest geht es haarscharf an der Geschmacksgrenze entlang, wenn von „syrischer Tonkulisse“ und einem „Assad-Finale“ die Rede ist. Dann aber findet der Autor für die Auflösung der Zuschauermenge nach dem Spektakel ein Bild, für das man ihn, wenn man einmal dabei war, schier küssen möchte: „Das war fast noch schöner als das Feuerwerk. Der ganze Canal Grande dicht gesprenkelt von unterschiedlichsten Booten mit roten und grünen Positionslichtchen, die alle in eine Richtung strömten (viele Gondeln dazwischen). Ein Auszug aus Ägypten. Alles in tiefster Finsternis. Ein Brodeln und Raunen, als hätte der Weltbund der Heinzelmännchen sein Jahrestreffen abgehalten.“
Fast schon genial ist die Denkfigur, mit der er, in einer Mail an seine Übersetzerin, den täglichen Horror der Besuchermassen umdeutet: „Touristen? Die stören nicht. Im Gegenteil. Sie wirken wie der Bettler, der am ersten Januar bei bitterer Kälte vor der Wohnung eines reichen russischen Schriftstellers auf und ab gehen und sich in dessen Auftrag stundenlang die Hände reiben und ,was für eine elende Kälte‘ murmeln musste, damit der Schriftsteller seinen Erfolg, seine warme Wohnung und sein gutes Essen zum Auftakt des neuen Jahres richtig genießen konnte.“ Statt, wie der durchschnittlich empfindsame Teilzeit-Venezianer, auf den „träge sich dahinwälzenden Strom von hyperventilierenden, schwitzenden Menschen in kurzen Hosen und ärmellosen Leibchen“ depressiv oder aggressiv zu reagieren, benutzt Zschokke sie als Folie, die das Privileg, am Sehnsuchtsziel von Millionen Tagesvagabunden einen komfortablen Rückzugsort zu haben, umso heller erstrahlen lässt. Damit nicht genug: „Sich am Markusplatz oder am Rialto tagsüber ein Viertelstündchen frottieren zu gehen an den pudrig weißen Japanerinnen oder an den rotgesichtigen Russen, das ist ein Genuss.“
Vor den Chinesen allerdings, die mittlerweile die halbe Stadt aufgekauft haben und sich nicht mehr wegfrottieren lassen, kneift der Entzückte die Augen fest zu, wie auch vor den immer bedrohlicheren Auswirkungen des Hochwassers, das er nur als märchenhaftes Spektakel wahrnimmt. Seinen Kulturpessimismus arbeitet er an Themen ab, die nichts mit Venedig zu tun haben, dafür umso mehr mit der zeitgenössischen Literaturszene. Die Enttäuschung über die mangelnde Resonanz auf seinen Roman „Der Mann mit den zwei Augen“ zieht sich als running gag durch das Buch und zeitigt Aperçus, aus denen sich eine halb selbstironische, halb ernst gemeinte Poetik zusammensetzen lässt. Etwa: „Kunst ist das, was vom Mittelmaß verachtet, nicht das, was von ihm bewundert wird.“
Venedig hält einen fest im Zustand permanenter Überwältigung, fasziniert von der Evidenz seiner Ansichtskarten.
Foto: Bernd Jonkmanns/laif
Matthias Zschokke:
Die strengen Frauen von Rosa Salva. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 414 Seiten, 22,90 Euro. E-Book 17,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2014Das überwältigende Glück der Künstlichkeit
Zerstreute Gymnastikübungen am Lido: Matthias Zschokke entdeckt eine zu Tode beschriebene und fotografierte Stadt neu
"Bloß vorher nichts lesen über Venedig", beschwört Matthias Zschokke eine besuchswillige Mitarbeiterin seines Verlags, "sonst verzweifelt man hier, weil man immer denkt, man müsse noch dies und das besichtigen. Ich habe bis heute noch nichts gesehen von dem, was man gesehen haben muss, und fürchte, das wird bis zuletzt so bleiben." Da wohnt der aus der Schweiz stammende, in Berlin lebende Autor seit zwei Wochen in einer fürstlichen Wohnung mitten in der Lagunenstadt, und der Blick aus dem Fenster auf eine vielbefahrene Kanalkreuzung überwältigt ihn stets aufs Neue. Jeden Tag grübelt er darüber nach, wie die Treppenhäuser des fünfstöckigen Palazzos ineinander verschachtelt sein könnten, denn jede Wohnung hat ihre eigene Treppe, nach Leonardo da Vinci benannt, der als Erster solche Treppenbündel für Mehrparteien-Palazzi konstruierte.
Wie schreibt man über eine Stadt, die so oft fotografiert und beschrieben wurde, dass sie vielleicht nur noch als ihr eigenes Klischee existiert? Wir kennen den Autor als anarchischen und empfindsamen Reisenden, der sich für die verborgenen Winkel eines Bahnhofs und vergessene Cafés mehr interessiert als für den berühmten Dom gegenüber und der seinen Ich-Erzähler ("Auf Reisen") ein unverhofftes Glück in einem Wüstenimbiss außerhalb von Amman finden lässt. Auch "Die strengen Frauen von Rosa Salva" ist ein Abenteuerbuch dieser besonderen Art, wobei das nicht nur mit dem eigensinnig-insistierenden Blick des Erzählers und seinem Gefühl existentieller Fremdheit zusammenhängt, sondern auch mit der Mail-Form. Ihr besonderer Sound lässt sich, wie der Autor sagt, nicht simulieren, sondern erzeugt beim Schreiben ein eigenes Tempo und einen speziellen mündlich-unmittelbaren Stil.
Sein erzählendes Ich wandert schüchtern, neugierig und verstört durch diese verspielte und hysterische, mal überfüllte, mal menschenleere Stadt und verweigert sich allem, was Schriftsteller und Kunsthistoriker zu den Gassen und Kirchen, den verborgenen Plätzen, idyllischen Trattorien und Bootsanlegestellen geschrieben haben (vieles davon weiß er natürlich und mokiert sich an passender Stelle darüber). Er möchte alles sehen und riechen, am liebsten würde er in diesen ganzen Stadtkörper hineinbeißen, um ihn mit allen Nerven und Sinnen festzuhalten. In mehreren Mails täglich berichtet er von seinen Erlebnissen, bewusst auch widersprüchliche Eindrücke festhaltend: von den unscheinbaren Kirchen, in denen er sich ausruht und ständig über Bilder von Tintoretto stolpert, aber auch von seiner Entdeckung einer überraschenden und unsinnigen Schönheit, die sich ihm in Gestalt einer bröckelnden, asymmetrischen und vergessenen Putte offenbart.
Natürlich holt ihn die Realität in Gestalt von schwierigen Lesereisen und Verrissen (seines gerade erschienenen Romans "Der Mann mit den zwei Augen") immer wieder ein, und er schimpft nebenher so lustvoll über Kollegen wie Ransmayr und Kehlmann und Klassiker wie Goethe und Arno Schmidt, dass es eine Freude für den Leser ist. Ein lebendiger, temporeicher und sehr witziger Roman ist so entstanden, dessen Hauptfiguren neben dem Erzähler eine Opernsängerin, die Frau-die-zur-Wohnung-schaut und natürlich Nils sind (den wir schon aus dem Mail-Roman "Lieber Nils" kennen). Ihm vertraut der Erzähler die intimsten Sorgen an, Wäscheprobleme, einen verdorbenen Magen und wehe Füße, Selbstzweifel und Schreibblockaden, während er mit bissigem Charme Seite um Seite füllt. Manchmal zanken die beiden wie ein altes Ehepaar, und Nils verspottet ihn als "Gastgeberschmerzensmann", weil das Hauskonzert, das er veranstalten will, ihm Albträume verursacht.
Ganz anders klingen die Mails an die Opernsängerin. Hier schildert Zschokke selbstironisch und spielerisch die Stadt als Traumlandschaft, in der Wunder zum Alltag gehören und deren Bewohner er wegen ihrer Selbstversunkenheit liebt - wie den korpulenten Herrn am Lido, der zerstreut einige Gymnastikübungen vollführt und, übers Meer schauend, immer wieder vergisst, sich zu bewegen.
Scheinbar erzählt uns der Autor seine ganz privaten Venedig-Erlebnisse in diesem Buch, und doch ist hier ein echter Zschokke-Held, ein Abbild von Maurice oder dem "Mann mit den zwei Augen", unterwegs, ein Gefühls-Albino, der liebevoll mit den Menschen hadert, an die tiefere Wahrheit des Beiläufigen glaubt und das richtige Leben im falschen sucht - und genau dabei wird ihm diese brüchige, manieristische und überdrehte Stadt zu einem Glücksort.
Die ganze Traurigkeit, die er aus Berlin mitgebracht hat, ist plötzlich verschwunden, denn hier, wo alles ringsum auf außerirdische Weise künstlich und unecht wirkt, ist es weder nötig, Kunst herzustellen noch etwas zu simulieren; hier kann der Schriftsteller endlich nur er selbst sein und sich im Alltag und dessen Übertragung aufs Papier verlieren und damit der Welt ein wenig habhaft werden. Man muss den Roman auch als raffiniertes Spiel von Zeigen und Verbergen lesen, ein erzähltes Anti-Theater, wo Maske und Rolle der Schauspieler nur aus scheinbar offenherzigster Selbstdarstellung bestehen.
Wie schon zuvor in "Lieber Nils" wird der Ich-Held hier dem Leben und seiner eigenen Entwicklung ausgesetzt und protokolliert dabei eindringlich und spöttisch, was mit ihm geschieht. Doch man lasse sich von dieser eindrucksvollen "Operation am offenen Herzen" nicht verunsichern: Das Buch funktioniert perfekt als kluge und sinnliche Reiseanleitung, und man bekommt sofort Lust, im Labyrinth dieser verrückten Stadt zu verschwinden.
NICOLE HENNEBERG
Matthias Zschokke: "Die strengen Frauen von Rosa Salva".
Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 416 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zerstreute Gymnastikübungen am Lido: Matthias Zschokke entdeckt eine zu Tode beschriebene und fotografierte Stadt neu
"Bloß vorher nichts lesen über Venedig", beschwört Matthias Zschokke eine besuchswillige Mitarbeiterin seines Verlags, "sonst verzweifelt man hier, weil man immer denkt, man müsse noch dies und das besichtigen. Ich habe bis heute noch nichts gesehen von dem, was man gesehen haben muss, und fürchte, das wird bis zuletzt so bleiben." Da wohnt der aus der Schweiz stammende, in Berlin lebende Autor seit zwei Wochen in einer fürstlichen Wohnung mitten in der Lagunenstadt, und der Blick aus dem Fenster auf eine vielbefahrene Kanalkreuzung überwältigt ihn stets aufs Neue. Jeden Tag grübelt er darüber nach, wie die Treppenhäuser des fünfstöckigen Palazzos ineinander verschachtelt sein könnten, denn jede Wohnung hat ihre eigene Treppe, nach Leonardo da Vinci benannt, der als Erster solche Treppenbündel für Mehrparteien-Palazzi konstruierte.
Wie schreibt man über eine Stadt, die so oft fotografiert und beschrieben wurde, dass sie vielleicht nur noch als ihr eigenes Klischee existiert? Wir kennen den Autor als anarchischen und empfindsamen Reisenden, der sich für die verborgenen Winkel eines Bahnhofs und vergessene Cafés mehr interessiert als für den berühmten Dom gegenüber und der seinen Ich-Erzähler ("Auf Reisen") ein unverhofftes Glück in einem Wüstenimbiss außerhalb von Amman finden lässt. Auch "Die strengen Frauen von Rosa Salva" ist ein Abenteuerbuch dieser besonderen Art, wobei das nicht nur mit dem eigensinnig-insistierenden Blick des Erzählers und seinem Gefühl existentieller Fremdheit zusammenhängt, sondern auch mit der Mail-Form. Ihr besonderer Sound lässt sich, wie der Autor sagt, nicht simulieren, sondern erzeugt beim Schreiben ein eigenes Tempo und einen speziellen mündlich-unmittelbaren Stil.
Sein erzählendes Ich wandert schüchtern, neugierig und verstört durch diese verspielte und hysterische, mal überfüllte, mal menschenleere Stadt und verweigert sich allem, was Schriftsteller und Kunsthistoriker zu den Gassen und Kirchen, den verborgenen Plätzen, idyllischen Trattorien und Bootsanlegestellen geschrieben haben (vieles davon weiß er natürlich und mokiert sich an passender Stelle darüber). Er möchte alles sehen und riechen, am liebsten würde er in diesen ganzen Stadtkörper hineinbeißen, um ihn mit allen Nerven und Sinnen festzuhalten. In mehreren Mails täglich berichtet er von seinen Erlebnissen, bewusst auch widersprüchliche Eindrücke festhaltend: von den unscheinbaren Kirchen, in denen er sich ausruht und ständig über Bilder von Tintoretto stolpert, aber auch von seiner Entdeckung einer überraschenden und unsinnigen Schönheit, die sich ihm in Gestalt einer bröckelnden, asymmetrischen und vergessenen Putte offenbart.
Natürlich holt ihn die Realität in Gestalt von schwierigen Lesereisen und Verrissen (seines gerade erschienenen Romans "Der Mann mit den zwei Augen") immer wieder ein, und er schimpft nebenher so lustvoll über Kollegen wie Ransmayr und Kehlmann und Klassiker wie Goethe und Arno Schmidt, dass es eine Freude für den Leser ist. Ein lebendiger, temporeicher und sehr witziger Roman ist so entstanden, dessen Hauptfiguren neben dem Erzähler eine Opernsängerin, die Frau-die-zur-Wohnung-schaut und natürlich Nils sind (den wir schon aus dem Mail-Roman "Lieber Nils" kennen). Ihm vertraut der Erzähler die intimsten Sorgen an, Wäscheprobleme, einen verdorbenen Magen und wehe Füße, Selbstzweifel und Schreibblockaden, während er mit bissigem Charme Seite um Seite füllt. Manchmal zanken die beiden wie ein altes Ehepaar, und Nils verspottet ihn als "Gastgeberschmerzensmann", weil das Hauskonzert, das er veranstalten will, ihm Albträume verursacht.
Ganz anders klingen die Mails an die Opernsängerin. Hier schildert Zschokke selbstironisch und spielerisch die Stadt als Traumlandschaft, in der Wunder zum Alltag gehören und deren Bewohner er wegen ihrer Selbstversunkenheit liebt - wie den korpulenten Herrn am Lido, der zerstreut einige Gymnastikübungen vollführt und, übers Meer schauend, immer wieder vergisst, sich zu bewegen.
Scheinbar erzählt uns der Autor seine ganz privaten Venedig-Erlebnisse in diesem Buch, und doch ist hier ein echter Zschokke-Held, ein Abbild von Maurice oder dem "Mann mit den zwei Augen", unterwegs, ein Gefühls-Albino, der liebevoll mit den Menschen hadert, an die tiefere Wahrheit des Beiläufigen glaubt und das richtige Leben im falschen sucht - und genau dabei wird ihm diese brüchige, manieristische und überdrehte Stadt zu einem Glücksort.
Die ganze Traurigkeit, die er aus Berlin mitgebracht hat, ist plötzlich verschwunden, denn hier, wo alles ringsum auf außerirdische Weise künstlich und unecht wirkt, ist es weder nötig, Kunst herzustellen noch etwas zu simulieren; hier kann der Schriftsteller endlich nur er selbst sein und sich im Alltag und dessen Übertragung aufs Papier verlieren und damit der Welt ein wenig habhaft werden. Man muss den Roman auch als raffiniertes Spiel von Zeigen und Verbergen lesen, ein erzähltes Anti-Theater, wo Maske und Rolle der Schauspieler nur aus scheinbar offenherzigster Selbstdarstellung bestehen.
Wie schon zuvor in "Lieber Nils" wird der Ich-Held hier dem Leben und seiner eigenen Entwicklung ausgesetzt und protokolliert dabei eindringlich und spöttisch, was mit ihm geschieht. Doch man lasse sich von dieser eindrucksvollen "Operation am offenen Herzen" nicht verunsichern: Das Buch funktioniert perfekt als kluge und sinnliche Reiseanleitung, und man bekommt sofort Lust, im Labyrinth dieser verrückten Stadt zu verschwinden.
NICOLE HENNEBERG
Matthias Zschokke: "Die strengen Frauen von Rosa Salva".
Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 416 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein lebendiger, temporeicher und sehr witziger Roman« (Nicole Henneberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.11.2014) Die Süddeutsche Zeitung attestiert dem »Zschokke-Cocktail (...) einen Charme, dem man sich kaum entziehen kann.« (Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung, 25.11.2014) »Natürlich möchte man gleich hinfahren - und greift dann erst einmal zu diesem erfrischenden Buch« (Martin Zingg, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 26.10.2014) »Venedig einmal wohltuend anders!« (Giovanna Riolo, Freiburger Nachrichten, 22.02.2016)