Mit großem psychologischen Feingefühl erschafft Nathan Harris unverwechselbare Figuren und beschwört die erbarmungslose Zeit des Wiederaufbaus herauf. So fesselnd wie berührend, grandios komponiert und sprachlich brillant - ein fulminantes Epos!
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Nathan Harris' Roman "Die Süße von Wasser"
"Eine Art Juneteenth-Feier": So adelte Oprah Winfrey das Debüt von Nathan Harris in ihrem Buchklub und beförderte es damit umweglos auf die nationalen Bestsellerlisten. Mit ihrer Einordnung bezog sie sich darauf, dass die Romanhandlung in den Tagen, Wochen, Monaten nach der Abschaffung der Sklaverei spielt, die am 19. Juni 1865 im letzten Staat, Texas, umgesetzt worden war. Für einen historischen Roman ist das tatsächlich ein aufregendes Sujet: Wie schlug sich das, was in den Geschichtsbüchern abstrakt als "Befreiung" bezeichnet wird, im Denken und Fühlen der Einzelnen nieder? Welche konkreten sozialen, rechtlichen und politischen Folgen ergaben sich aus der Emanzipationsproklamation, die Abraham Lincoln bereits drei Jahre vor dem Ende des Sezessionskriegs erlassen hatte? Und wie gestaltete sich die Lage speziell in Georgia, wo Harris seine Handlung ansiedelt? Es ist ein außerordentlich reiches literarisches Terrain, das dieses Debüt eröffnet.
Harris, 1992 geboren, erzählt die Geschichte des zurückgezogen, nur mit seiner kleinen Familie zusammenlebenden George Walker, der ein in Freiheit entlassenes Brüderpaar bei sich aufnimmt und sie mit bezahlter Arbeit versorgt. Bald schon zieht er dadurch den Argwohn der Leute im nahe gelegenen Städtchen Old Ox auf sich, in dem wütende Landbesitzer, die sich um ihr menschliches Eigentum gebracht sehen, auf innerlich und äußerlich beschädigte Soldaten treffen. Wenig überraschend kommt es bald zur Eskalation, zu einem brutalen Mord, einer falschen Anschuldigung, zu eiliger Flucht und einem alles vernichtenden Feuer. Nach der großen Zerstörung bleibt Georges Frau Isabelle allein, aber keineswegs hoffnungslos auf der Romanbühne zurück, ja man gewinnt den Eindruck, als hätte es der Apokalypse geradezu bedurft, um auf verbrannter Erde neu beginnen zu können. Eine Hoffnung übrigens, der man in den vergangenen Jahren in der amerikanischen Gegenwartskultur häufiger begegnet, am bemerkenswertesten - und beunruhigendsten - in der vor einigen Jahren ausgestrahlten Serie "Little Fires Everywhere".
Hierin deutet sich schon an, warum "Die Süße von Wasser" in den USA ein riesiger Erfolg geworden ist und es sogar auf die alljährliche "Summer Reading List" von Barack Obama geschafft hat: Trotz seines historischen Stoffes ist das Buch ein Gegenwartsroman im starken Sinne, der einige der brisantesten Themen des heutigen Amerikas und der westlichen Kultur insgesamt anspricht; neben dem Rassismus sind dies vor allem Queerness- und Genderaspekte. Zur Stärkung der politischen Ansichten mag das Buch dadurch zweifellos beitragen, wobei es letztlich ganz egal ist, ob man dem kritischen, progressiven Impetus des Buches folgt oder ihn als Ausdruck abgehobener "Wokeness" zurückweist. Was auf der Strecke bleibt, ist der historische Gehalt, sodass man die Lektüre der knapp 450 Seiten zwar mit gefestigter Haltung, aber ohne nennenswerten Erkenntnisgewinn beendet.
Also nein, "Die Süße von Wasser" ist kein gutes Buch, was aber nicht allein an der Unzweideutigkeit der Ansichten liegt, für die es eintritt, an seinem Gefangensein im Netz der aktuellen Debatten. Hinzu kommen der Erzählstil eines mittelmäßigen Jugendbuches und eine Sprache, die es dem Leser dadurch leicht zu machen versucht, dass sie jede historische Distanz aufhebt. Zäh wird die Lektüre außerdem durch die eindimensionale Zeichnung der Figuren, deren Traumata und Beschädigungen bloß angedeutet, aber nicht erschlossen werden.
Es ist schmerzhaft, dies zu konstatieren, aber jede nur mittelgute Fernsehserie würde das heute besser, also intelligenter, einfühlsamer und bewegender hinbekommen. Liest man Harris' Buch als ein Symptom, auch weil es ziemlich genau den Kriterien des von Moritz Baßler diskutierten "Midcult" entspricht (die "schweren Zeichen", die Bedeutsamkeit lediglich vortäuschend, die umstandslose Lesbarkeit, der routinierte Plot), so kommt man um die Feststellung nicht herum: Die Gegenwartsliteratur, soweit sie von einem breiten Publikum gelesen, aber auch als Literatur ernst genommen werden will, braucht unbedingt eine neue Idee. KAI SINA
Nathan Harris: "Die Süße von Wasser". Roman.
Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Eichborn Verlag, Köln 2022. 448 S., geb., 25,- Euro.
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