Madrid, in der Gegenwart: Zwei Menschen begegnen einander im Beichtstuhl einer kleinen Pfarrkirche am nordöstlichen Rand der Stadt, der eine ein Priester, der andere ein junger Mann, der offenbar schwer unter einer Sünde leidet, die er kaum auszusprechen vermag. Er flieht aus dem Beichtstuhl, kehrt aber am Folgetag zurück. Die immer intensiver werdenden Gespräche der beiden zeichnen allmählich ein Bild dessen, was diesen ›Sünder‹ tatsächlich quält. Die doppelte Abgründigkeit seiner Beichte zieht auch den Priester in die Kluft zwischen Wort und Tat und den Leser unweigerlich in einen Sog aus Fragen, die jeden einzelnen von uns betreffen: Ist unsere Liebe wirklich so selbstlos, wie wir glauben? Wie stark bedingen traumatische Ereignisse der Kindheit unsere Gefühlswelt? Wie sehr leiten ungelöste Probleme unser Handeln? Welche Macht übt die Gesellschaft aus, indem sie bestimmte Wirklichkeiten tabuisiert? Mit Genauigkeit und Einfühlungsvermögen widmet sich Steven Uhly einer Thematik, die seit Jahren weltweit für Schlagzeilen sorgt. Doch anders als die gängigen Litaneien von Schuld und Sühne zeigt seine äußerst persönliche Herangehensweise Räume auf, die auch denjenigen zugänglich sind, die viel zu früh ihre Unschuld verloren haben und deren gesamte Existenz dadurch zutiefst bedroht ist.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Steven Uhly macht es sich nicht gerade leicht, wenn er in seinem neuen Roman ausgerechnet von einem pädophilen Priester erzählt, das gefällt Rezensentin Christiane Lutz schon mal gut. Aber dass es ihm tatsächlich auch gelingt, von einem solch problematischen Protagonisten zu erzählen, ohne Würgreflexe auszulösen, das imponiert ihr wirklich. Uhly erzählt von Padre Roque de Guzmán, der am Stadtrand von Madrid die kleinen Sünden seiner Schäfchen verzeiht, aber dann in Gewissensqualen gestürzt wird, als ein Mann seine pädophilen Neigungen zu einem Nachhilfeschüler beichtet. Der Padre sieht sich mit seinen eigenen Dämonen konfrontiert. Mitunter wird es der Rezensentin zu religiös, aber wie Uhly in seinem Kammerspiel Schuld, Verantwortung und Freiheit diskutiert, findet sie meisterlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2022Gottes Werk und Teufels Beitrag
Das Buch der Stunde: Steven Uhlys fesselnde Novelle "Die Summe des Ganzen"
Das Beichtgeheimnis besteht seit dem dreizehnten Jahrhundert und ist wohl die älteste Datenschutzvorschrift der Rechtsgeschichte. Ursprünglich ein Meilenstein in der christlichen Seelsorge, wurde sie auch in ihr Gegenteil verkehrt, etwa wenn der Beichtstuhl - Ort des Sündenbekenntnisses und der Lossprechung - zum Schutzraum wurde für Täter aus den eigenen Reihen, die ebendort ihre Opfer gefügig machten. Der Oscar-Preisträger Alex Gibney rekonstruierte als einer der Ersten in seinem Dokumentarfilm "Mea Maxima Culpa" 2012 minutiös, wie die Kirche mit Fällen von Kindesmissbrauch umging: Hauptsache, nichts wird öffentlich, Hauptsache, die Kirche nimmt keinen Schaden, Hauptsache, das Priesteramt gerät nicht in Misskredit.
Die systematische Vertuschung dieser Verbrechen durch Kirchenvertreter, die noch 2019 vom emeritierten Papst Benedikt relativiert wurden, hat die Institution in den vergangenen Jahren in ihren Grundfesten erschüttert - und ist die unausgesprochene Folie, auf der das neue Buch von Steven Uhly, "Die Summe des Ganzen", zu lesen ist. Darin lernen wir einen spanischen Padre kennen, der jeden Nachmittag außer sonntags in seinem hölzernen Beichtstuhl in der Pfarrkirche von Hortaleza sitzt, einem Außenbezirk von Madrid, und auf die Sünder wartet, die ihr Herz ausschütten, um Absolution zu erhalten. Das Ritual ist für den Priester so vorhersehbar wie die Messen, Hochzeiten und Beerdigungen, die seine Tage sonst strukturieren.
Diebstahl, Vorteilsnahme oder einen Seitensprung begleicht Roque de Guzmán mit zehn Bußgebeten und drei Vaterunser. Die meisten Büßer kennt er persönlich, auch wenn die Trennwand mit dem engmaschigen Sprechgitter eigentlich Anonymität gewähren soll. Nimmt Bogoño Jiménet Rodgríuez Platz, weiß der Geistliche, dass der Mann aufs Neue seine Frau geschlagen hat, José María Espíns Besuch folgt verlässlich auf einen Ehebruch, und Señora Barros verlangt nach Abbitte, wenn sie ihren Gatten wieder einmal verflucht hat, obwohl der längst unter den Toten weilt.
Auch den drei Gemeindemitgliedern, die ihre Frauen regelmäßig krankenhausreif schlagen, gewährt der Kirchenmann Absolution. An diesem Mittwoch aber ist alles anders, als ein Fremder Guzmáns Beichtstuhl betritt und seufzt. Kaum mehr als ein paar Wortfetzen kann er hervorbringen, die jedoch bereits Schlimmstes befürchten lassen, noch ehe er den Ort fluchtartig wieder verlässt. In den folgenden Tagen wird sich der Besuch des Fremden ähnlich geheimnisvoll wiederholen und dabei nicht nur das Interesse des Priesters entfachen, sondern auch dessen eigene verdrängte Geschichte aufs Unheilvollste entzünden.
Der Schriftsteller Steven Uhly, 1964 in Köln als Kind einer deutschen Mutter und eines bengalischen Vaters geboren, begibt sich in dieser Geschichte in das Land seines spanischen Stiefvaters, bei dem er aufwuchs. In Spanien machte Uhly außerdem eine Ausbildung zum Übersetzer, ehe er Hispanistik studierte, um später das Deutsche Institut der Bundesuniversität von Pará im brasilianischen Belém zu leiten, ehe er nach Deutschland zurückkehrte. Nach seiner fiktionalen Autobiographie "Mein Leben in Aspik" (2010) in der Tradition des Schelmenromans, der Familienchronik "Königreich der Dämmerung" (2014) oder der Manuskriptfiktion "Den blinden Göttern" (2018), in deren Verlauf die Grenzen zwischen Genres und Realitäten zusehens verschwimmen, erweist sich "Die Summe des Ganzen" nun nicht etwa als Roman, wie auf dem Umschlag zu lesen ist, sondern als klassische Novelle.
Kammerspielartig konzentriert sich die Erzählung auf wenige Schauplätze und wenige Figuren innerhalb einer Woche. Für das Geschehen findet sie eine beklemmend präzise Sprache, dabei geschieht tatsächlich nicht viel. Guzmán und der Fremde, den der Leser bei seinen Streifzügen durch Madrid als Lucas Hernández kennenlernt, treffen im Beichtstuhl immer aufs Neue aufeinander, und ihre Gespräche geraten zusehens zum Duell mit steigender Intensität und Brisanz. Indem das Gesprochene und das Geschehene respektive auch Erwartete immer weiter auseinanderklaffen, wird hier die Sprache als Instrument von Manipulation, Täuschung und Machtausübung bloßgelegt. Der Erzählung gelingt es dabei, so raffiniert auch mit den Erwartungen und Projektionen der Leser zu spielen - bis hin zum unerhörten Ereignis, das an dieser Stelle nicht verraten werden soll -, dass der Wendepunkt im heißen Madrid einem zerstörerischen Kälteeinbruch gleichkommt.
Dass Uhly den Beichtstuhl dabei zum zentralen Schauplatz wählt, ist in dieser poetologischen Beunruhigung insofern geschickt, als die intime Kammer mit dem Gitter ja ehedem erdacht wurde, um Berührungen zwischen Beichtvater und Beichtkind zu verhindern. In Hortaleza lässt sich das klassische Missbrauchsmuster studieren, wenn die Verführung durch das Gespräch der Tat den Boden bereitet. Dass sich dabei zuletzt alles anders verhält, als der Priester bis zum bitteren Ende glaubt - und auch der Leser lange Zeit meint -, ist der erzählerische Spannungsbogen, den Steven Uhly geschickt zu bauen vermag und der nicht zufällig an Dürrenmatts Roman "Das Verbrechen" von 1958 erinnert.
Ziel der Begierde ist wie bei Dürrenmatt ein Kind, hier der zehnjährige Schüler Armando, Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der im Kirchenchor singt und, so glaubt man jedenfalls lange Zeit, auch Nachhilfeschüler und Objekt der Begierde von Hernández ist. In welcher Form sich Letzterer an dem Kind schließlich selbst schuldig machen wird, ist so überraschend und kaltblütig, dass Armando zum Widergänger Isaaks wird, der von seinem Vater Abraham zur Opferstätte geführt wurde.
Da sind zwei Männer und ein Kind auf fatale Weise in einer Täter-Opfer-Folge gefangen. Die Schuld des einen hängt mit der Schuld des anderen unmittelbar zusammen und wird nicht durch Kirchenlatein, wohl aber durch Hernández' Begegnungen mit einem afrikanischen Kleinkriminellen in den Straßen von Madrid auf eine andere reflexive Ebene gebracht. Ein Täter, sinniert Hernández einmal, wird immer an seine Vergangenheit als Opfer gekettet sein. "Die Summe des Ganzen" ist ein bestechendes Lehrstück über die qualvolle Suche nach Erlösung - und darüber, dass nicht alle Schuld gesühnt werden kann. SANDRA KEGEL
Steven Uhly: "Die Summe des Ganzen". Roman.
Secession Verlag, Berlin 2022. 156 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Buch der Stunde: Steven Uhlys fesselnde Novelle "Die Summe des Ganzen"
Das Beichtgeheimnis besteht seit dem dreizehnten Jahrhundert und ist wohl die älteste Datenschutzvorschrift der Rechtsgeschichte. Ursprünglich ein Meilenstein in der christlichen Seelsorge, wurde sie auch in ihr Gegenteil verkehrt, etwa wenn der Beichtstuhl - Ort des Sündenbekenntnisses und der Lossprechung - zum Schutzraum wurde für Täter aus den eigenen Reihen, die ebendort ihre Opfer gefügig machten. Der Oscar-Preisträger Alex Gibney rekonstruierte als einer der Ersten in seinem Dokumentarfilm "Mea Maxima Culpa" 2012 minutiös, wie die Kirche mit Fällen von Kindesmissbrauch umging: Hauptsache, nichts wird öffentlich, Hauptsache, die Kirche nimmt keinen Schaden, Hauptsache, das Priesteramt gerät nicht in Misskredit.
Die systematische Vertuschung dieser Verbrechen durch Kirchenvertreter, die noch 2019 vom emeritierten Papst Benedikt relativiert wurden, hat die Institution in den vergangenen Jahren in ihren Grundfesten erschüttert - und ist die unausgesprochene Folie, auf der das neue Buch von Steven Uhly, "Die Summe des Ganzen", zu lesen ist. Darin lernen wir einen spanischen Padre kennen, der jeden Nachmittag außer sonntags in seinem hölzernen Beichtstuhl in der Pfarrkirche von Hortaleza sitzt, einem Außenbezirk von Madrid, und auf die Sünder wartet, die ihr Herz ausschütten, um Absolution zu erhalten. Das Ritual ist für den Priester so vorhersehbar wie die Messen, Hochzeiten und Beerdigungen, die seine Tage sonst strukturieren.
Diebstahl, Vorteilsnahme oder einen Seitensprung begleicht Roque de Guzmán mit zehn Bußgebeten und drei Vaterunser. Die meisten Büßer kennt er persönlich, auch wenn die Trennwand mit dem engmaschigen Sprechgitter eigentlich Anonymität gewähren soll. Nimmt Bogoño Jiménet Rodgríuez Platz, weiß der Geistliche, dass der Mann aufs Neue seine Frau geschlagen hat, José María Espíns Besuch folgt verlässlich auf einen Ehebruch, und Señora Barros verlangt nach Abbitte, wenn sie ihren Gatten wieder einmal verflucht hat, obwohl der längst unter den Toten weilt.
Auch den drei Gemeindemitgliedern, die ihre Frauen regelmäßig krankenhausreif schlagen, gewährt der Kirchenmann Absolution. An diesem Mittwoch aber ist alles anders, als ein Fremder Guzmáns Beichtstuhl betritt und seufzt. Kaum mehr als ein paar Wortfetzen kann er hervorbringen, die jedoch bereits Schlimmstes befürchten lassen, noch ehe er den Ort fluchtartig wieder verlässt. In den folgenden Tagen wird sich der Besuch des Fremden ähnlich geheimnisvoll wiederholen und dabei nicht nur das Interesse des Priesters entfachen, sondern auch dessen eigene verdrängte Geschichte aufs Unheilvollste entzünden.
Der Schriftsteller Steven Uhly, 1964 in Köln als Kind einer deutschen Mutter und eines bengalischen Vaters geboren, begibt sich in dieser Geschichte in das Land seines spanischen Stiefvaters, bei dem er aufwuchs. In Spanien machte Uhly außerdem eine Ausbildung zum Übersetzer, ehe er Hispanistik studierte, um später das Deutsche Institut der Bundesuniversität von Pará im brasilianischen Belém zu leiten, ehe er nach Deutschland zurückkehrte. Nach seiner fiktionalen Autobiographie "Mein Leben in Aspik" (2010) in der Tradition des Schelmenromans, der Familienchronik "Königreich der Dämmerung" (2014) oder der Manuskriptfiktion "Den blinden Göttern" (2018), in deren Verlauf die Grenzen zwischen Genres und Realitäten zusehens verschwimmen, erweist sich "Die Summe des Ganzen" nun nicht etwa als Roman, wie auf dem Umschlag zu lesen ist, sondern als klassische Novelle.
Kammerspielartig konzentriert sich die Erzählung auf wenige Schauplätze und wenige Figuren innerhalb einer Woche. Für das Geschehen findet sie eine beklemmend präzise Sprache, dabei geschieht tatsächlich nicht viel. Guzmán und der Fremde, den der Leser bei seinen Streifzügen durch Madrid als Lucas Hernández kennenlernt, treffen im Beichtstuhl immer aufs Neue aufeinander, und ihre Gespräche geraten zusehens zum Duell mit steigender Intensität und Brisanz. Indem das Gesprochene und das Geschehene respektive auch Erwartete immer weiter auseinanderklaffen, wird hier die Sprache als Instrument von Manipulation, Täuschung und Machtausübung bloßgelegt. Der Erzählung gelingt es dabei, so raffiniert auch mit den Erwartungen und Projektionen der Leser zu spielen - bis hin zum unerhörten Ereignis, das an dieser Stelle nicht verraten werden soll -, dass der Wendepunkt im heißen Madrid einem zerstörerischen Kälteeinbruch gleichkommt.
Dass Uhly den Beichtstuhl dabei zum zentralen Schauplatz wählt, ist in dieser poetologischen Beunruhigung insofern geschickt, als die intime Kammer mit dem Gitter ja ehedem erdacht wurde, um Berührungen zwischen Beichtvater und Beichtkind zu verhindern. In Hortaleza lässt sich das klassische Missbrauchsmuster studieren, wenn die Verführung durch das Gespräch der Tat den Boden bereitet. Dass sich dabei zuletzt alles anders verhält, als der Priester bis zum bitteren Ende glaubt - und auch der Leser lange Zeit meint -, ist der erzählerische Spannungsbogen, den Steven Uhly geschickt zu bauen vermag und der nicht zufällig an Dürrenmatts Roman "Das Verbrechen" von 1958 erinnert.
Ziel der Begierde ist wie bei Dürrenmatt ein Kind, hier der zehnjährige Schüler Armando, Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der im Kirchenchor singt und, so glaubt man jedenfalls lange Zeit, auch Nachhilfeschüler und Objekt der Begierde von Hernández ist. In welcher Form sich Letzterer an dem Kind schließlich selbst schuldig machen wird, ist so überraschend und kaltblütig, dass Armando zum Widergänger Isaaks wird, der von seinem Vater Abraham zur Opferstätte geführt wurde.
Da sind zwei Männer und ein Kind auf fatale Weise in einer Täter-Opfer-Folge gefangen. Die Schuld des einen hängt mit der Schuld des anderen unmittelbar zusammen und wird nicht durch Kirchenlatein, wohl aber durch Hernández' Begegnungen mit einem afrikanischen Kleinkriminellen in den Straßen von Madrid auf eine andere reflexive Ebene gebracht. Ein Täter, sinniert Hernández einmal, wird immer an seine Vergangenheit als Opfer gekettet sein. "Die Summe des Ganzen" ist ein bestechendes Lehrstück über die qualvolle Suche nach Erlösung - und darüber, dass nicht alle Schuld gesühnt werden kann. SANDRA KEGEL
Steven Uhly: "Die Summe des Ganzen". Roman.
Secession Verlag, Berlin 2022. 156 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.11.2022Und führe uns in der Versuchung
In seinem Roman „Die Summe des Ganzen“ erzählt Steven Uhly die Geschichte eines pädophilen Priesters
In der Rangfolge problematischer Protagonisten steht ein pädophiler Priester wohl sehr weit oben auf der Liste. Niemand hat Lust, sich als Leser oder Zuschauer mit ihm zu identifizieren, ihn umweht auch nicht der faszinierende Hauch des Bösen wie so manchen Verbrecher, der gleichermaßen anzieht und ekelt. Sofort ist man mit den Gedanken bei schändlichsten Missbrauchsfällen der katholischen Kirche, bei desaströser Vertuschung, bei dem immensen Schmerz, den eine Institution ihren Schwächsten zugefügt hat. Nichts an der Figur ist faszinierend, dafür vieles abstoßend.
Ins Herz eines solchen pädophilen Priesters wagt sich Steven Uhly vor in seinem Roman „Die Summe des Ganzen“, den der Secession-Verlag herausbringt. Er stellt sich die schier unlösbare Aufgabe, die Gedanken und Gefühle seines Protagonisten so nachzuzeichnen, dass wir sie nachvollziehen können und trotzdem nicht aussteigen, angewidert von ihm oder von uns selbst, dass wir einen Moment der Zustimmung mit ihm erleben.
Der bequemere Weg wäre es natürlich, eine solche Geschichte von der Opferseite her zu erzählen, mit Opfern mitzufühlen, ist leicht, aber Uhly hat ganz offenbar keine Lust, es sich bequem zu machen. Nicht weil er mit dem Roman werben will für die differenzierende Ansicht „Auch pädophile Straftäter haben Gefühle“ (obwohl das natürlich stimmt), sondern womöglich, weil er Freude an der Herausforderung hat.
Und um es kurz zu machen: Die meistert er. Auf 156 Seiten inszeniert Uhly aus dem Beichtstuhl und den finstersten Winkeln der menschlichen Psyche heraus ein Kammerspiel, das sich zum Thriller ausfaltet. Im Zentrum steht Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre alt. Der geht einem augenscheinlich gemütlichen Priesterleben am Stadtrand von Madrid nach, leitet einen Knabenchor und betreut täglich im Beichtstuhl seine Schäfchen, redet ihnen ins Gewissen und nuschelt Floskeln der Vergebung. Es sind schlichte Sünder: Der eine schlägt seine Frau, der andere geht zu Prostituierten. Guzmán hegt Sympathien für sie, ermuntert sie zur Umkehr, bis, und so beginnt die Geschichte, dieser aufgebrachte Mann im Beichtstuhl auftaucht. „Ich habe einen Nachhilfeschüler, der ...“, stammelt er und stockt, doch man ahnt, wie der Satz weitergehen müsste.
Es entspinnt sich ein Zweigespräch in der intimen Anonymität des Beichtstuhls zwischen Padre Guzmán und „dem Sünder“, Lucas Hernández, der von da an fast täglich kommt. Noch hat er nichts getan, was justiziabel wäre, aber schon seine Gedanken an den Nachhilfeschüler sind Sünde, das weiß er. Von Tag zu Tag wird er verzweifelter, für den Jungen fühlt er „Mitleid wie für jemanden, der in eine Naturkatastrophe geraten ist“. Und „der Padre hört betroffen zu. Er will die Bilder nicht sehen, die der Sünder mit seinen Worten heraufbeschwört, sondern mit reinem Herzen zuhören“.
Immer wieder stellt Uhly in diesen düsteren Gesprächen die Frage nach Sünde, ihrem Beginn und der Möglichkeit auf Vergebung. Schnell wird klar, der Padre und Hernández ringen mit denselben Dämonen. Der Padre hat sich hinter der Kirchendoktrin zum eigenen Schutz verschanzt, Hernández sucht nach Schlupflöchern: Handelt es sich denn hier nicht um Liebe? Und ist die nicht gottgemacht? „Und führe uns in der Versuchung“, so heißt es in einer seit einigen Jahren diskutierten Neuübersetzung des Vaterunsers. Die Versuchung ist also real und akzeptiert, solange man nicht blind in sie hineinrauscht und sich von Gott leiten lässt.
Dass Sünde als religiös-bedrohliches Prinzip eines ist, mit dem eine säkulare Gesellschaft immer weniger anfangen kann, macht die Geschichte nicht minder spannend, zudem liest sich „Die Summe des Ganzen“ hervorragend als Gedankenspiel über Schuld, Verantwortung und menschliche Freiheit. Zumal vor dem Hintergrund einer sehr realen Kirchenkrise, in der jede Auseinandersetzung mit theologischer Sünde und auch mit ganz realer juristischer Schuld unendlich lang vermieden wurde. „Manchmal hat er das Gefühl, dass die Sünde selbst nicht das Entscheidende ist, sondern dieser innere Kampf, den sie verursacht“, schreibt Uhly über Padre Guzmán, man könnte „Sünde“ hier auch durch „Schuld“ ersetzen.
Aber selbst der kühne Steven Uhly traut sich am Ende doch nicht ganz, komplett bei den Sündern und ihren düstersten Begehren zu bleiben, was fast schade ist, man hätte zu gern gewusst, wie er das durchzieht, zwei Pädophile im Beichtstuhl. Ein Twist in der Geschichte, beinahe Hollywood, eröffnet aber jäh eine neue erzählerische Ebene.
Er erlöst die Leserin vom Unmut, viel Zeit mit problematischen Persönlichkeiten verbracht zu haben, ist aber auch ein Trick Uhlys, sich das Problem des pädophilen Protagonisten unkompliziert vom Hals zu schaffen. So viel sei gesagt: Gerechtigkeit wird hergestellt. Und auch dies: Ein Vaterunser wird hier nicht reichen.
CHRISTIANE LUTZ
Handelt es sich denn hier
nicht um Liebe? Und ist
die nicht gottgemacht?
Nicht die Sünde selbst ist
das Entscheidende, sondern der
innere Kampf, den sie verursacht
Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Secession, Berlin 2022. 156 Seiten, 22 Euro.
Zwei Vaterunser, und gut ist? Betende in einer Kirche in Rom.
Foto: Kai Koehler/imago
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem Roman „Die Summe des Ganzen“ erzählt Steven Uhly die Geschichte eines pädophilen Priesters
In der Rangfolge problematischer Protagonisten steht ein pädophiler Priester wohl sehr weit oben auf der Liste. Niemand hat Lust, sich als Leser oder Zuschauer mit ihm zu identifizieren, ihn umweht auch nicht der faszinierende Hauch des Bösen wie so manchen Verbrecher, der gleichermaßen anzieht und ekelt. Sofort ist man mit den Gedanken bei schändlichsten Missbrauchsfällen der katholischen Kirche, bei desaströser Vertuschung, bei dem immensen Schmerz, den eine Institution ihren Schwächsten zugefügt hat. Nichts an der Figur ist faszinierend, dafür vieles abstoßend.
Ins Herz eines solchen pädophilen Priesters wagt sich Steven Uhly vor in seinem Roman „Die Summe des Ganzen“, den der Secession-Verlag herausbringt. Er stellt sich die schier unlösbare Aufgabe, die Gedanken und Gefühle seines Protagonisten so nachzuzeichnen, dass wir sie nachvollziehen können und trotzdem nicht aussteigen, angewidert von ihm oder von uns selbst, dass wir einen Moment der Zustimmung mit ihm erleben.
Der bequemere Weg wäre es natürlich, eine solche Geschichte von der Opferseite her zu erzählen, mit Opfern mitzufühlen, ist leicht, aber Uhly hat ganz offenbar keine Lust, es sich bequem zu machen. Nicht weil er mit dem Roman werben will für die differenzierende Ansicht „Auch pädophile Straftäter haben Gefühle“ (obwohl das natürlich stimmt), sondern womöglich, weil er Freude an der Herausforderung hat.
Und um es kurz zu machen: Die meistert er. Auf 156 Seiten inszeniert Uhly aus dem Beichtstuhl und den finstersten Winkeln der menschlichen Psyche heraus ein Kammerspiel, das sich zum Thriller ausfaltet. Im Zentrum steht Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre alt. Der geht einem augenscheinlich gemütlichen Priesterleben am Stadtrand von Madrid nach, leitet einen Knabenchor und betreut täglich im Beichtstuhl seine Schäfchen, redet ihnen ins Gewissen und nuschelt Floskeln der Vergebung. Es sind schlichte Sünder: Der eine schlägt seine Frau, der andere geht zu Prostituierten. Guzmán hegt Sympathien für sie, ermuntert sie zur Umkehr, bis, und so beginnt die Geschichte, dieser aufgebrachte Mann im Beichtstuhl auftaucht. „Ich habe einen Nachhilfeschüler, der ...“, stammelt er und stockt, doch man ahnt, wie der Satz weitergehen müsste.
Es entspinnt sich ein Zweigespräch in der intimen Anonymität des Beichtstuhls zwischen Padre Guzmán und „dem Sünder“, Lucas Hernández, der von da an fast täglich kommt. Noch hat er nichts getan, was justiziabel wäre, aber schon seine Gedanken an den Nachhilfeschüler sind Sünde, das weiß er. Von Tag zu Tag wird er verzweifelter, für den Jungen fühlt er „Mitleid wie für jemanden, der in eine Naturkatastrophe geraten ist“. Und „der Padre hört betroffen zu. Er will die Bilder nicht sehen, die der Sünder mit seinen Worten heraufbeschwört, sondern mit reinem Herzen zuhören“.
Immer wieder stellt Uhly in diesen düsteren Gesprächen die Frage nach Sünde, ihrem Beginn und der Möglichkeit auf Vergebung. Schnell wird klar, der Padre und Hernández ringen mit denselben Dämonen. Der Padre hat sich hinter der Kirchendoktrin zum eigenen Schutz verschanzt, Hernández sucht nach Schlupflöchern: Handelt es sich denn hier nicht um Liebe? Und ist die nicht gottgemacht? „Und führe uns in der Versuchung“, so heißt es in einer seit einigen Jahren diskutierten Neuübersetzung des Vaterunsers. Die Versuchung ist also real und akzeptiert, solange man nicht blind in sie hineinrauscht und sich von Gott leiten lässt.
Dass Sünde als religiös-bedrohliches Prinzip eines ist, mit dem eine säkulare Gesellschaft immer weniger anfangen kann, macht die Geschichte nicht minder spannend, zudem liest sich „Die Summe des Ganzen“ hervorragend als Gedankenspiel über Schuld, Verantwortung und menschliche Freiheit. Zumal vor dem Hintergrund einer sehr realen Kirchenkrise, in der jede Auseinandersetzung mit theologischer Sünde und auch mit ganz realer juristischer Schuld unendlich lang vermieden wurde. „Manchmal hat er das Gefühl, dass die Sünde selbst nicht das Entscheidende ist, sondern dieser innere Kampf, den sie verursacht“, schreibt Uhly über Padre Guzmán, man könnte „Sünde“ hier auch durch „Schuld“ ersetzen.
Aber selbst der kühne Steven Uhly traut sich am Ende doch nicht ganz, komplett bei den Sündern und ihren düstersten Begehren zu bleiben, was fast schade ist, man hätte zu gern gewusst, wie er das durchzieht, zwei Pädophile im Beichtstuhl. Ein Twist in der Geschichte, beinahe Hollywood, eröffnet aber jäh eine neue erzählerische Ebene.
Er erlöst die Leserin vom Unmut, viel Zeit mit problematischen Persönlichkeiten verbracht zu haben, ist aber auch ein Trick Uhlys, sich das Problem des pädophilen Protagonisten unkompliziert vom Hals zu schaffen. So viel sei gesagt: Gerechtigkeit wird hergestellt. Und auch dies: Ein Vaterunser wird hier nicht reichen.
CHRISTIANE LUTZ
Handelt es sich denn hier
nicht um Liebe? Und ist
die nicht gottgemacht?
Nicht die Sünde selbst ist
das Entscheidende, sondern der
innere Kampf, den sie verursacht
Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Secession, Berlin 2022. 156 Seiten, 22 Euro.
Zwei Vaterunser, und gut ist? Betende in einer Kirche in Rom.
Foto: Kai Koehler/imago
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