Ohayons erster Fall – Matthias Wittekindts neuer Kriminalroman ist das Prequel zu seinen hochgelobten Fleurville-Krimis. Die Vogesen in den 1970er Jahren: grün, friedlich, ein wenig am Rand von allem. Hier wächst abgeschieden eine Gruppe von Kindern zu Jugendlichen heran, die mehr oder weniger subtile Rangkämpfe ausfechten. Als Lou, die nachts an der Tankstelle jobbt, Zeugin eines Verbrechens wird, ändert sich alles: ein erschossener Fahrer neben seinem Auto, ein verwaister Lieferwagen, aus dem Spender gerissene Papiertücher, als hätte jemand dort etwas gesucht – was ist passiert? Der junge, schlanke und vollkommen unerfahrene Ohayon versucht, hinter die Selbstdarstellungen der Jugendlichen zu schauen. War Lou wirklich nur Zeugin? Oder hat sie die Gunst der Stunde zu einer Tat genutzt, deren Folgen sie nicht absehen konnte? In seiner unnachahmlichen Erzählweise umkreist Wittekindt seine Figuren, rückt immer näher an sie heran, zeigt sie von allen Seiten. Ob Freund, Lehrer oder Ermittler – allmählich scheint niemand mehr ohne Schuld zu sein. "Die Tankstelle von Courcelles" ist ein Kriminal- und Entwicklungsroman, in dem ein Verbrechen ein ganzes Leben, bis in die Kindheit zurück, in neuem Licht erscheinen lässt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2018Wo Verrat ein Akt der Vernunft ist
Krimis in Kürze: Anthony Horowitz, Nicholas Searle und Matthias Wittekindt
Ab und zu schadet es gar nichts, mal etwas zu lesen, was man sonst a priori zur Seite legt, wegen des Sujets, des Schauplatzes oder des zu erwartenden Personaltableaus. Es könnte sein, dass man ein paar Vorurteile auf Eis legen muss - oder auf den neuesten Stand bringen darf. Der Brite Anthony Horowitz ist ein Mann für jene, die viel von Agatha Christie und Inspektor Barnaby halten und womöglich auch "Der Doktor und das liebe Vieh" schätzen. Zum Erwartungshorizont gehören da natürlich auch Tweed und Tee, grüne Weiden, adrette Häuschen, alte Herrensitze und pikierte Herrschaften. Und Titel wie "Die Morde von Pye Hall" (Insel, 600 S., geb., 24,- [Euro]).
Aber man merkt bald, dass dieses Buch makellos konstruiert ist, erkennt die Blaupausen bei Conan Doyle und Agatha Christie und amüsiert sich über das Spiel mit der Metafiktion, das Horowitz nie übertreibt. Eine Lektorin beginnt das Manuskript eines Erfolgsautors zu lesen, der ein ziemlicher Kotzbrocken ist, aber dessen Krimis nun mal den Verlag am Leben erhalten. Das Manuskript ist leider unvollständig. Es bricht ab, als es spannend wird. Dann ist plötzlich auch noch der Autor tot.
So kann endlich die Fiktion des Romans in die Wirklichkeit der Lektorin einsickern, und man fragt sich, ob das Leben nun die Kunst nachahmt oder ob beider Korrespondenzen noch komplizierter sind. Horowitz hat sichtlich Spaß an der Sache, er erspart dem klassischen Dorfpersonal vom Doktor und Pfarrer bis zur Haushälterin und dem örtlichen Tunichtgut keinen falschen Verdacht und keine Verwirrung. Und er schickt einen moribunden Detektiv aufs Land, den er Atticus Pünd nennt, der aber aufgrund seiner Methodik Hercule Holmes heißen müsste. Ein bisschen arg lang ist das Buch vielleicht, aber ansonsten kommt seine "Britishness" in einer homöopathischen Dosis, die man sich gefallen lässt.
Auf die härtere Seite im United Kingdom, wo Arsen und Spitzenhäubchen durch falsche Pässe und Granatwerfer ersetzt werden, gerät man in jedem Thriller, in dem der Nordirland-Konflikt und dessen Nachwehen in der Gegenwart eine Rolle spielen. Nicholas Searle, der mit "Das alte Böse" (F.A.Z. vom 8. Mai 2017) ein originelles Debüt ablieferte, erzählt, ähnlich wie Gerald Seymour in "Vagabond" (F.A.Z. vom 5. Februar), von einem alten IRA-Kämpfer, dessen Zeit langsam abläuft, weil er in den neuen politischen Verhältnissen nicht mehr gebraucht wird, die mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 eingetreten sind.
"Verrat" (Kindler, 352 S., geb., 19,95 [Euro]) besteht aus neun Kapiteln, die den Zeitraum zwischen 1989 und der Gegenwart umspannen. Der Roman handelt vom eisernen und mörderischen Kämpfer Francis und dessen ergebener Frau, die ihn verrät, von seinem Boss, der sich alle Optionen offenhält, und von einer Geheimagentin, die ihn zu infiltrieren versucht. Searle wechselt versiert die Perspektiven. So lässt sich die verfahrene Konstellation verstehen, ohne dass man die einzelnen Taten deshalb billigen müsste. Es ist ein Blick in eine Welt, in der Loyalität einem Würgegriff gleichen und Verrat zum Akt der Vernunft und Befreiung werden kann, weil einzelne Leben unerbittlich dem Kampf für die gerechte Sache unterworfen werden. Als Sieger darf sich hier niemand fühlen. "Ich bin bloß der Affe, nicht der Leierkastenmann", sagt der Mann vom MI5.
Dies ist definitiv keiner dieser Fälle, in denen Buch- und Fernsehautoren dort, wo sie schon immer gerne Urlaub gemacht haben, einen besonders pittoresken Krimi ansiedeln. Matthias Wittekindt ist ein anderes Kaliber, was Leser wissen, die seinen Gendarm Ohayon schon in vier Romanen kennenlernen konnten. "Die Tankstelle von Courcelles" (Nautilus, 256 S., br., 16,90 [Euro]) ist das Prequel zu diesem Quartett, es zeigt den Polizisten als jungen Mann, und es ist zugleich eine Coming-of-Age-Geschichte von Jugendlichen in der Provinz, am Rande der Vogesen, Mitte der achtziger Jahre, Mitterrand regiert im Elysée-Palast. Eine Geschichte mit all dem Schmerz der ersten Liebe, den Träumen von Paris, den rigorosen Ansichten, der Aufbruchsstimmung, der Angst - und mit einem nächtlichen Doppelmord an der Tankstelle, wo die junge Lou, auch sie kurz vorm Abitur, jobbt.
Wittekindt lässt die genauen Ereignisse jener Nacht nur allmählich sichtbar werden. Einzelne Puzzlesteine kommen zusammen, ergeben zunächst ein recht schlüssiges Bild, das sich mit dem nächsten Stein jedoch schon wieder als trügerisch erweisen kann. Wittekindts elliptisches Erzählen ist genau die Form, die diese Geschichte braucht; es hätte den Roman allerdings noch überzeugender gemacht, wenn der Erzähler nicht immer wieder mal ohne Not Sätze oder Absätze einstreute, die seine Allwissenheit demonstrieren.
PETER KÖRTE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Krimis in Kürze: Anthony Horowitz, Nicholas Searle und Matthias Wittekindt
Ab und zu schadet es gar nichts, mal etwas zu lesen, was man sonst a priori zur Seite legt, wegen des Sujets, des Schauplatzes oder des zu erwartenden Personaltableaus. Es könnte sein, dass man ein paar Vorurteile auf Eis legen muss - oder auf den neuesten Stand bringen darf. Der Brite Anthony Horowitz ist ein Mann für jene, die viel von Agatha Christie und Inspektor Barnaby halten und womöglich auch "Der Doktor und das liebe Vieh" schätzen. Zum Erwartungshorizont gehören da natürlich auch Tweed und Tee, grüne Weiden, adrette Häuschen, alte Herrensitze und pikierte Herrschaften. Und Titel wie "Die Morde von Pye Hall" (Insel, 600 S., geb., 24,- [Euro]).
Aber man merkt bald, dass dieses Buch makellos konstruiert ist, erkennt die Blaupausen bei Conan Doyle und Agatha Christie und amüsiert sich über das Spiel mit der Metafiktion, das Horowitz nie übertreibt. Eine Lektorin beginnt das Manuskript eines Erfolgsautors zu lesen, der ein ziemlicher Kotzbrocken ist, aber dessen Krimis nun mal den Verlag am Leben erhalten. Das Manuskript ist leider unvollständig. Es bricht ab, als es spannend wird. Dann ist plötzlich auch noch der Autor tot.
So kann endlich die Fiktion des Romans in die Wirklichkeit der Lektorin einsickern, und man fragt sich, ob das Leben nun die Kunst nachahmt oder ob beider Korrespondenzen noch komplizierter sind. Horowitz hat sichtlich Spaß an der Sache, er erspart dem klassischen Dorfpersonal vom Doktor und Pfarrer bis zur Haushälterin und dem örtlichen Tunichtgut keinen falschen Verdacht und keine Verwirrung. Und er schickt einen moribunden Detektiv aufs Land, den er Atticus Pünd nennt, der aber aufgrund seiner Methodik Hercule Holmes heißen müsste. Ein bisschen arg lang ist das Buch vielleicht, aber ansonsten kommt seine "Britishness" in einer homöopathischen Dosis, die man sich gefallen lässt.
Auf die härtere Seite im United Kingdom, wo Arsen und Spitzenhäubchen durch falsche Pässe und Granatwerfer ersetzt werden, gerät man in jedem Thriller, in dem der Nordirland-Konflikt und dessen Nachwehen in der Gegenwart eine Rolle spielen. Nicholas Searle, der mit "Das alte Böse" (F.A.Z. vom 8. Mai 2017) ein originelles Debüt ablieferte, erzählt, ähnlich wie Gerald Seymour in "Vagabond" (F.A.Z. vom 5. Februar), von einem alten IRA-Kämpfer, dessen Zeit langsam abläuft, weil er in den neuen politischen Verhältnissen nicht mehr gebraucht wird, die mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 eingetreten sind.
"Verrat" (Kindler, 352 S., geb., 19,95 [Euro]) besteht aus neun Kapiteln, die den Zeitraum zwischen 1989 und der Gegenwart umspannen. Der Roman handelt vom eisernen und mörderischen Kämpfer Francis und dessen ergebener Frau, die ihn verrät, von seinem Boss, der sich alle Optionen offenhält, und von einer Geheimagentin, die ihn zu infiltrieren versucht. Searle wechselt versiert die Perspektiven. So lässt sich die verfahrene Konstellation verstehen, ohne dass man die einzelnen Taten deshalb billigen müsste. Es ist ein Blick in eine Welt, in der Loyalität einem Würgegriff gleichen und Verrat zum Akt der Vernunft und Befreiung werden kann, weil einzelne Leben unerbittlich dem Kampf für die gerechte Sache unterworfen werden. Als Sieger darf sich hier niemand fühlen. "Ich bin bloß der Affe, nicht der Leierkastenmann", sagt der Mann vom MI5.
Dies ist definitiv keiner dieser Fälle, in denen Buch- und Fernsehautoren dort, wo sie schon immer gerne Urlaub gemacht haben, einen besonders pittoresken Krimi ansiedeln. Matthias Wittekindt ist ein anderes Kaliber, was Leser wissen, die seinen Gendarm Ohayon schon in vier Romanen kennenlernen konnten. "Die Tankstelle von Courcelles" (Nautilus, 256 S., br., 16,90 [Euro]) ist das Prequel zu diesem Quartett, es zeigt den Polizisten als jungen Mann, und es ist zugleich eine Coming-of-Age-Geschichte von Jugendlichen in der Provinz, am Rande der Vogesen, Mitte der achtziger Jahre, Mitterrand regiert im Elysée-Palast. Eine Geschichte mit all dem Schmerz der ersten Liebe, den Träumen von Paris, den rigorosen Ansichten, der Aufbruchsstimmung, der Angst - und mit einem nächtlichen Doppelmord an der Tankstelle, wo die junge Lou, auch sie kurz vorm Abitur, jobbt.
Wittekindt lässt die genauen Ereignisse jener Nacht nur allmählich sichtbar werden. Einzelne Puzzlesteine kommen zusammen, ergeben zunächst ein recht schlüssiges Bild, das sich mit dem nächsten Stein jedoch schon wieder als trügerisch erweisen kann. Wittekindts elliptisches Erzählen ist genau die Form, die diese Geschichte braucht; es hätte den Roman allerdings noch überzeugender gemacht, wenn der Erzähler nicht immer wieder mal ohne Not Sätze oder Absätze einstreute, die seine Allwissenheit demonstrieren.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sylvia Staude erträgt ganz gut, dass am Ende von Matthias Wittekindts Vogesen-Krimis Fragen offen bleiben und der Polizistenalltag eher nicht so detailliert dargestellt wird. Dafür bekommt sie einen Ermittler, der fragen und zuhören kann, einen Autor, der beim Beobachten glänzt, pointilistisch Gefühle schildert und Klischees zu meiden weiß. Der Ermittler als junger Mann Ende der 70er gefällt ihr gut, wie der Autor psychologisch feinarbeitet und in aller Ruhe seinen Plot um eine in einen Doppelmord verwickelte Jugendclique ausführt nicht weniger.
© Perlentaucher Medien GmbH
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